Newsletter „What's up, America?“

Per Gericht in die Vergangenheit

In den USA werden die Uhren in Sachen Abtreibung wohl zurückgedreht.

In den USA werden die Uhren in Sachen Abtreibung wohl zurückgedreht.

Liebe Leserinnen und Leser,

folgender Satz sorgt bei einer Mehrheit der Gesellschaft für Ekel und Fremdscham: „Ich glaube nicht, dass eine Frau das alleinige Recht hat zu bestimmen, was mit ihrem Körper geschehen soll.“ Zitatgeber ist niemand Geringerer als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden. Heute ist der praktizierende Katholik 48 Jahre älter und hat nach eigener Aussage „eine Menge gelernt“. Soll heißen: Der US-Präsident ist mittlerweile für Selbstbestimmung. Einzelne US-Bischöfe hatten im vergangenen Jahr deswegen gefordert, Biden von der Kommunion auszuschließen.

Der Sinneswandel des 79-Jährigen steht stellvertretend für einen erbitterten Glaubenskampf in den USA. Denn anders als der Präsident richtet die religiöse Rechte den Blick nach hinten – und sehnt sich nach einer Zeit vor 1973. Also dem Jahr, an dem das Oberste Gericht ein Grundsatzurteil fällte, das es Frauen bis heute ermöglicht, bis etwa zur 24. Schwangerschaftswoche abzutreiben.

Und genau dieses Recht steht nun auf der Kippe. Denn die Republikaner haben einen großen Teil der Richtersitze besetzen können und in der aktuellen US-Supreme-Court-Besetzung eine Supermehrheit von sechs zu drei Stimmen inne. Die „Grand Old Party“ dreht aktuell am Rad der Zeit, getrieben von religiösen Extremistinnen und Extremisten.

Darum beschäftigen wir uns in der heutigen Ausgabe von „What‘s up, America?“ mit dem drohenden Abtreibungsverbot in weiten Teilen des Landes und warum das nur der Anfang der Mission „Zeitmaschine“ sein könnte.

Als Neuling im US-Senat kommentierte Biden 1974 das wegweisende Abtreibungsurteil „Roe gegen Wade“ im Magazin „Washingtonian“. Sein Satz von damals ist aktueller denn je. Der geleakte Entwurf eines Urteils von Höchstrichter Samuel Alito zur Abtreibung erschüttert die politische Landschaft.

Demonstrantinnen in San Francisco.

Demonstrantinnen in San Francisco.

Das Gericht selbst betont, dass es sich um keine endgültige Entscheidung handele. Diese wird erst für Ende Juni oder Anfang Juli erwartet. Aber schon jetzt ist klar: Selten in der modernen Ära hat ein Rechtsfall vor dem höchsten Gericht das Potenzial gehabt, das amerikanische Leben und die Politik so dramatisch umzuformen wie dieser.

Zum einen haben bereits jetzt 26 Bundesstaaten – allesamt republikanisch regiert – totale oder weitgehende Abtreibungsverbote beschlossen. Sie können aber nicht angewandt werden, da sie gerichtlich noch vom Grundsatzurteil „Roe gegen Wade“ blockiert werden.

Zum anderen sind gesellschaftliche Tragödien vorprogrammiert. Die Spaltung zwischen „blauen“, demokratisch regierten, Bundestaaten und „roten“, republikanisch regierten, wird auf ein neues düsteres Level gehoben werden. Jene, die es sich leisten können, werden in andere Bundesstaaten reisen, um legal abzutreiben. Expertinnen und Experten sind sich zudem einig, dass die Suizidrate steigen wird und mehr Kinder in bitterer Armut aufwachsen werden.

Nach einer aktuellen Umfrage des Pew Research Center befürworten 72 Prozent der Bevölkerung die Meinung, dass „die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch allein bei der schwangeren Frau liegen sollte“. Was aus den Ergebnissen auch hervorgeht, ist, dass relativ wenige Amerikanerinnen und Amerikaner auf beiden Seiten der Debatte einen absoluten Standpunkt zur Rechtmäßigkeit der Abtreibung vertreten. Anders als es die US-Parteienlandschaft vermuten ließe. Hier stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie konnte es dennoch soweit kommen, dass weite Teile des Landes in vergangene Zeiten zurückkatapultiert werden könnten?

Ist ein Abtreibungsverbot erst der Anfang?

Historikerin und Autorin Annika Brockschmidt sieht darin „das Ergebnis eines jahrzehntelangen Projekts der religiösen Rechten – durch Lobbyarbeit oder das Schulen von juristischem Nachwuchs“. Für sie symbolisiert ein Abtreibungsverbot den Beginn eines Erdrutsches in der US-Justiz. „Was wir in dem Urteilsentwurf von Alito sehen – das sagt er selbst – ist ein großflächiger Angriff auf alles, was unter das ‚Right of Privacy‘ fällt“, erklärt sie in einem Interview mit Belltower News. Vom Abtreibungsverbot sei der Weg etwa zur Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe ein kurzer.

Aktuell werden zudem Gesetze verhandelt, die es Menschen verbieten, für geschlechtsangleichende Maßnahmen (Idaho) oder Abtreibungen (Missouri) den Bundesstaat zu verlassen.

In mehreren Bundesstaaten kriminalisieren Gesetze Homosexualität bereits jetzt. An vorderster Front geht es meist um die Frage, was bereits Schulkinder über in den USA umstrittene Themen wie Rassismus und Sklaverei, die Unterdrückung von Minderheiten, über lesbische, schwule, bisexuelle, Transgender- und queere Menschen lernen dürfen?

Der republikanisch geführte Bundesstaat Florida gibt darauf seit Ende März eine klare Antwort: vom Kindergarten bis zur dritten Klasse am besten nichts! Oder juristisch formuliert: Das Gesetz verbietet, über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität „in einer Weise zu unterrichten, die nicht alters- oder entwicklungsgemäß für Schüler“ ist. Kritikerinnen und Kritiker sehen in dieser vagen Formulierung die Möglichkeit, dass das Verbot bestimmter Unterrichtsinhalte auch auf ältere Kinder angewendet werden könnte. Unterzeichnet wurde das Gesetz, das von Kritikerinnen und Kritikern „Don’t say Gay“ genannt wird, von Gouverneur Ron DeSantis. Einem Mann, der sich berechtigte Hoffnungen macht, von den Republikanern als Präsidentschaftskandidat aufgestellt zu werden.

Die Demokraten scheinen aus der aktuellen Debatte kaum Profit schlagen zu können. Ein Bundesgesetz, das das Recht auf Abtreibungen sichergestellt hätte, ist gescheitert. US-Präsident Joe Biden ist unbeliebt wie nie und die Inflation macht der Bevölkerung zu schaffen. Die Kongresswahlen im November könnten zur Schmach werden.

Mit Volldampf Richtung Wilder Westen?

Während die Demokraten mit sich selbst beschäftigt sind, basteln die Republikaner schon am nächsten Zeitsprung. Nämlich am „Right to Conceal and Carry“, berichtet das unparteiische Brennan Center for Justice. In den nächsten Monaten wird der Oberste Gerichtshof über einen der wichtigsten Waffenfälle in der Geschichte des Gerichts entscheiden. In dem Fall geht es darum, ob Waffenbesitzerinnen und -besitzer ein verfassungsmäßiges Recht haben, ihre Waffen außerhalb ihrer Häuser zu tragen, und, falls ja, ob Verbote zum verdeckten Tragen von Waffen gegen den zweiten Verfassungszusatz verstoßen.

Erst am vergangenen Wochenende wurde die USA von zwei politisch motivierten Amokläufen erschüttert. Besonders das Massaker von Buffalo schockiert das Land und wirft ein Schlaglicht auf laxe Waffengesetze und weißen Rassenwahn, berichtet unser Washington-Korrespondent Karl Doemens. (RND+) Wie groß das Waffenproblem ist, zeigt die jüngste Statistik der Gesundheitsbehörde CDC aus dem Jahr 2020: Damals beklagten die USA 120 Schusswaffentote pro Tag.

Das „Gun Violence Archive“ listet für 2022 bereits 202 „Mass Shootings“, bei denen jeweils mehr als vier Personen verletzt oder getötet wurden.

Und nun könnte die nächste höchstgerichtliche Entscheidung dazu beitragen, die Zahl der Amerikanerinnen und Amerikaner, die verdeckte Waffen tragen, beträchtlich zu erhöhen. Und spätestens dann befinden wir uns auf der Zeitachse mit Volldampf Richtung Wilder Westen.

 

Facts and Figures: Steuern die USA auf eine Rezession zu?

Wirtschaftsjournalist Derek Thompson vom Magazin „The Atlantic“ sieht neun Warnsignale für die US-Wirtschaft:

  1. Ein Blick ins Aktienportfolio macht aktuell wenig Freude. Der Nasdaq hat innerhalb der vergangenen sechs Monate ein Viertel seines Wertes verloren.
  2. Die Krypto-Bubble ist geplatzt. Schätzungen zufolge wurden allein durch Kryptowährungen vergangene Woche mehr als 200 Milliarden Dollar an Börsenvermögen vernichtet. Es kommt aktuell zu Panikverkäufen.
  3. Die Inflation ist hoch und betrifft mittlerweile viele Industrien. In dieser Woche erreichten die US-Gaspreise ihren höchsten nominalen Durchschnittspreis aller Zeiten.
  4. Viele Menschen fühlen sich ärmer als noch vor einem Jahr. Gehaltsanpassungen sorgen vielerorts nicht für mehr Entspannung im Portemonnaie.
  5. Die Ersparnisse sinken, und die Schulden steigen in der US-Bevölkerung auf ein neues Rekordniveau.
  6. Die Zinserhöhungen der Federal Reserve sorgten bereits für „Chaos“. In der modernen Geschichte gebe es laut Thompson nur sehr wenige Beispiele für eine so niedrige Arbeitslosigkeit und eine so hohe Inflation, bei denen Zinserhöhungen nicht zu einer Rezession geführt haben.
  7. Das China-Schlamassel. Neben der wirtschaftsschädlichen Zero-Covid-Politik kämpft China mit einer Implosion bei den Immobilieninvestitionen, einem sinkenden Vertrauen der Unternehmen und einem „erschreckenden“ Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Warum ist das schlimm für die USA? Thompson meint: Wenn China niest, könnte sich die wirtschaftliche Welt erkälten.
  8. Europa steht eine Rezession bevor. Die britische Wirtschaft schrumpft, und die EZB prognostiziert, dass die Inflation in diesem Jahr über 10 Prozent liegen wird.
  9. Das mittlerweile oft verdrängte Problem: Die Pandemie ist immer noch nicht vorbei. Es ist noch immer Pandemie.
 

Popping up: Ufos

Der US-Kongress wird sich heute mit unidentifizierten Flugobjekten (Ufos) beschäftigen. Erstmals seit Jahrzehnten soll es ab 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit eine Anhörung vor dem Unterausschuss für Terrorismusbekämpfung, Spionageabwehr und Rüstungskontrolle zu dem Thema geben. Medienberichten nach sollen hohe Beamte des Verteidigungsministeriums Rede und Antwort stehen (hier können Sie die Anhörung im Livestream verfolgen).

Das Standbild eines vom US-Verteidigungsministerium veröffentlichten Videos zeigt ein unidentifiziertes Flugobjekt, das von Piloten der US-Marine gesichtet wurde.

Das Standbild eines vom US-Verteidigungsministerium veröffentlichten Videos zeigt ein unidentifiziertes Flugobjekt, das von Piloten der US-Marine gesichtet wurde.

Im vergangenen Jahr hatten Regierungsbeamte der „Unidentified Aerial Phenomena Task Force“ dem Kongress eine freigegebene Version eines höchst geheimen Berichts zu dem Thema vorgelegt. Es handelte sich um ein Papier des Verteidigungsministeriums in Zusammenarbeit mit Geheimdiensten. Die Arbeitsgruppe war mit dem Ziel gegründet worden, „ungeklärte Phänomene in der Luft, die möglicherweise eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA darstellen könnten, zu entdecken, zu analysieren und zu katalogisieren“, hieß es damals vom Verteidigungsministerium. Hintergrund waren auffällige Erscheinungen, die unter anderem Piloten der US-Marine in den vergangenen 20 Jahren beobachtet haben wollen.

 

Deep Dive: Wenn Verschwörungen auf Waffen treffen

Am Samstag hatte ein Schütze in einem Supermarkt in Buffalo im US-Bundesstaat New York das Feuer eröffnet und mindestens zehn Menschen getötet. Drei weitere wurden verletzt. Der 18-jährige Beschuldigte wurde am Tatort festgenommen, die Ermittler gehen von einem rassistischen Motiv aus – elf der 13 Opfer waren schwarz.

Online ist außerdem ein Manifest aufgetaucht, das von dem Täter stammen soll und das rassistische und gewaltbereite Aussagen enthält. Darin ist auch die Rede von der „Great Replacement Theory“ („Theorie vom großen Austausch“), einem Verschwörungsmythos der extremen Rechten, den der Fox-Moderator Tucker Carlson auch gerne seinem Millionenpublikum vorträgt.

Ein Vater tröstet seine Kinder am Ort der Massenerschießung.

Ein Vater tröstet seine Kinder am Ort der Massenerschießung.

Die Kolumnisten der New York Times, Gail Collins und Brett Stephens, sprechen darüber, wie die USA an diesen Punkt gelangt sind. Und über die „blutige Kreuzung, an der sich Verschwörungstheorien und Waffen treffen“.

 

Die nächste Ausgabe von „What’s up, America?“ erscheint am 31. Mai. Dann wird Sie wie gewohnt Matthias Koch begrüßen. Bis dahin: Stay sharp!

Ihr Alexander Krenn

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