Bringt das 9-Euro-Ticket Menschen langfristig zum Umsteigen? Chef des Verkehrsverbands bezweifelt das
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Das Billigticket für 9 Euro im Monat gibt es von Anfang Juni bis Ende August.
© Quelle: Sven Hoppe/dpa/Symbolbild
Herr Wortmann, ab dem 1. Juni ist das 9-Euro-Ticket nutzbar. Erwartet Deutschland ein Chaos auf der Schiene?
Ich möchte nicht von Chaos sprechen, aber es wird sehr viele volle Züge und Busse geben. Insbesondere auf manchen Verbindungen zu den Freizeitzielen. Es wird oft von Sylt gesprochen, aber auch die Ostseeküste, das bayerische Oberland, der Chiemgau und weitere Ziele werden betroffen sein. Es wird aber auch Gegenden etwa auf dem Land geben, wo die Nachfrage verhalten sein wird.
Die Überlastung der Fahrstrecken wird den Ärger der Fahrgäste steigern. Rechnen Sie mit einer aufgeheizten Stimmung?
Bei ganz vollen Zügen droht sicherlich eine angespannte Stimmung unter den Reisenden und Fahrgästen. Davon gehe ich aus. Wir werden aber versuchen, das weitgehend zu verhindern, zum Beispiel indem die Fahrgäste auf die verschiedenen Zug- und Busangebote und dann innerhalb der Fahrzeuge besser verteilt werden. Dafür haben wir Informationskonzepte ausgearbeitet. Verschiedene Unternehmen setzen darüber hinaus extra Fahrgastbetreuer für die Verteilung ein. Und wir werden alle vorhandenen Reservezüge- und ‑busse nutzen, auch wenn das insgesamt nicht allzu viele sind.
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Ingo Wortmann ist Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG).
© Quelle: VDV
Drohen auch Angriffe auf die Beschäftigten?
Damit rechnen wir höchstens im absoluten Extremfall. Deswegen haben wir uns gut vorbereitet, um die Fahrgäste umfassend über alle Angebote zu informieren, damit solch ein Szenario möglichst nicht eintritt. Darüber hinaus haben und hatten wir vor Corona auf wichtigen, stark nachgefragten Routen volle Züge.
Die Vorbereitung kostet Geld, hinzu kommen die Ausfälle durch das verbilligte Ticket: Werden die 2,5 Milliarden Euro des Bundes ausreichen, um die Aktion zu finanzieren?
Das werden wir am Ende der drei Monate sehen. Zwar können wir ausrechnen, wie teuer die Erstattungen für Abokunden sind. Aber wie viel Geld fehlt, weil beispielsweise regelmäßige Einzelkartenkunden nur noch das 9-Euro-Ticket kaufen, wissen wir nicht. Deshalb erwarten wir vom Bund auch am Ende eine volle Erstattung.
Branche erwartet steigende Preise im Nahverkehr nach 9-Euro-Ticket
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) rechnet nach dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets mit steigenden Ticketpreisen im Nahverkehr.
© Quelle: dpa
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9-Euro-Ticket: Unterwegs im Land der Triebwagen
Das 9-Euro-Ticket treibt die Menschen in die Regionalzüge, auf die oft unbeachteten Nebenflüsse des Eisenbahnsystems. Sind sie dafür bereit? Was müsste passieren, um den öffentlichen Verkehr wirklich attraktiv zu machen? Eine Reise mit literarischer Zugbegleitung.
Die Verkehrsverbünde haben stets darauf gepocht, die Mittel bereits vor dem Aktionsstart auf dem Konto haben zu wollen.
Ja. Das Geld ist zugesagt, aber bisher noch nicht da. Die Mittel müssen aus unserer Sicht spätestens in der ersten Junihälfte überwiesen sein. Wenn sie nicht rechtzeitig ankommen, droht kleineren Unternehmen die Insolvenz wegen der hohen Sprit- und Stromkosten.
Wird das 9-Euro-Ticket Menschen langfristig zum Umsteigen bewegen?
Ich sehe das Ticket durchaus positiv. Aber große Erwartungen habe ich nicht, dass es zum massiven Umstieg führen wird. Alle bisherigen Erfahrungen mit besonders günstigem ÖPNV zeigen: Zuerst muss das Angebot stimmen, der Preis ist zweitrangig. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass wir Kunden, die in der Corona-Krise aufs Auto umgestiegen sind, zurückgewinnen können.
Wo lohnt sich das 9-Euro-Ticket?
Ab dem 1. Juni kann man mit dem 9-Euro-Ticket in ganz Deutschland im öffentlichen Nahverkehr fahren. Doch für wen lohnt es sich eigentlich?
© Quelle: dpa
Wie geht es nach den drei Monaten in Sachen Preise weiter?
Wir werden auf die alten Ticketpreise und Rahmenbedingungen zurückfallen, vor allem weil auch wir als Branche die Kostensteigerungen der Energiepreise schultern müssen.
Der Bund verweigert weiterhin Ausgleichszahlungen für die hohen Spritpreise. Was bedeutet das für die Verkehrsunternehmen?
Wir werden mittelfristig die fehlenden Gelder auf die Fahrpreise umschlagen müssen oder das Angebot einschränken. Die Ticketpreise werden also weiter steigen – nicht direkt zum 1. September, aber in den nächsten Preisrunden. Leider kommen wir dann in die Situation, dass Menschen, die ohnehin schon belastet sind, für ihre Fahrten mehr bezahlen müssen. Die Ausgleichszahlungen seitens des Bundes sind dringend nötig. Ohnehin brauchen wir deutlich mehr Geld von Bund und Ländern, um mit Blick auf die Klimaschutzziele im Verkehr das Angebot auszubauen, neue Strecken zu schaffen und die Taktung zu erhöhen.
Allein im Jahr 2030 brauchen wir 11 Milliarden Euro zusätzliche Mittel, um Ausbau und Kapazitäten deutlich zu erhöhen.
Ingo Wortmann,
VDV-Präsident
Wie viel Geld fordern Sie für den Ausbau?
Allein im Jahr 2030 brauchen wir 11 Milliarden Euro zusätzliche Mittel, um Ausbau und Kapazitäten deutlich zu erhöhen. Aber schon bis dahin benötigen wir etwa 1,5 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Nur so können wir unseren Beitrag zum Klimaziel leisten, 53 Prozent der CO₂Ausstöße im Verkehrssektor bis 2030 einzusparen und die Fahrgastzahlen deutlich zu erhöhen.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) koppelt höhere Regionalisierungsmittel – die Bundesgelder für den ÖPNV – an die Ausarbeitung von Qualitätsstandards. Ist das die richtige Vorgehensweise?
Ja. Sollten wir die zusätzlichen Mittel bis 2030 erhalten, kann das Geld nicht ohne jegliche Bedingungen ausgezahlt werden. Kriterien könnten unter anderem Angebotsdichte und Zuverlässigkeit sein. Wichtig ist, dass dieser Qualitätskatalog durch Bund und Länder noch dieses Jahr gemeinsam ausgearbeitet wird. Dann können wir wie geplant mit dem Ausbau des ÖPNV fortfahren.
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