Aktivistin zu 50 Jahren Greenpeace: „Unseren Biss haben wir nicht verloren“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/3AKGRUC4XNA55EFKZOPZXY27OA.jpg)
Greenpeace-Aktivistin Sandra Schöttner zeigt ihre Handschuhe, nachdem sie eine Probe aus im Andrew-Ölfeld an der Wasseroberfläche schwimmenden Öls genommen hat. Die Besatzung der „Esperanza“ hatte im Jahr 2020 im Bereich der Andrew-Plattform in der Nordsee einen Ölteppich entdeckt.
© Quelle: © Marten van Dijl / Greenpeace
Sandra Schöttner (43) ist Tiefseebiologin mit jahrzehntelanger Erfahrung als Klimaschutzaktivistin. Sie leitete für Greenpeace die internationale politische Kampagne für ein globales Hochseeschutzabkommen bei den Vereinten Nationen. Im RND-Interview blickt sie zurück auf fünf Jahrzehnte Greenpeace, die sie zum Teil gebannt vor dem Fernseher, teils selbst in Aktion bei zahlreichen Schiffseinsätzen erlebte.
Was war Ihre spannendste Aktion mit Greenpeace (GP)?
Eine der für mich nervenaufreibendsten Protestaktionen habe ich 2001 erlebt, als wir mit Schlauchbooten mitten in einer eiskalten Winternacht versuchten, ein riesiges Frachtschiff mit illegal geschlagenem Tropenholz daran zu hindern, im Hamburger Hafen anzulegen. Wir bugsierten unsere kleinen Schlauchboote so zwischen Frachtschiff und Kaimauer, dass das Anlegemanöver nicht stattfinden konnte. Der Kapitän des Frachtschiffs steuerte plötzlich rigoros und ohne zu zögern in Richtung Anleger. Zwischen der meterhohen Bordwand auf der einen Seite und der dunklen, bedrohlich hoch aufragenden Kaimauer auf der anderen Seite schrumpfte der Abstand schnell. Und wir in unseren kleinen Nussschalen waren genau dazwischen! Irgendwann waren es nur noch drei Meter, dann nur noch zwei … Eines der beiden Schlauchboote neben uns wurde eingeklemmt, knackte laut – und sank.
Die beiden Aktivistinnen darin hatten sich gerade noch mit einem Sprung ins eiskalte Wasser retten können und kletterten an einer Leiter die Kaimauer hinauf. Ich dachte für einen kurzen Moment, dass ich da nicht mehr rauskomme. Aber wir konnten die Ruhe bewahren, legten den Rückwärtsgang ein und manövrierten uns in letzter Minute aus den Fängen dieser Presse aus Stahl und Stein.
Greenpeace demonstriert bei Tönnies-Fabrik
"Schluss mit dem Schweinesystem" hieß es auf einem Banner. Greenpeace demonstriert gegen die Wiederaufnahme der Schlachtung bei Tönnies.
© Quelle: Reuters
Wie sind Sie auf Greenpeace aufmerksam geworden?
Erstmals bewusst in mein Blickfeld rückte GP in den frühen Neunzigerjahren, als die Rainbow Warrior gegen die Treibnetzfischerei in Asien, im Mittelmeer und im Atlantik segelte. Die Bilder von kilometerlangen, fast unsichtbaren Wänden des Todes, in denen sich nicht nur Fische, sondern auch Wale, Delfine, Schildkröten, Seevögel verstrickten und einen grausamen Tod fanden, gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf. Stark geprägt haben mich zwei Protestaktionen aus dem Jahr 1995, Meilensteine in der Geschichte von GP: Das war zum einen die Besetzung der Ölplattform Brent Spar, um gegen deren Versenkung in der Nordsee zu protestieren, und nur kurze Zeit später die Protestaktion der Rainbow Warrior gegen die französischen Atomwaffentests im Mururoa-Atoll im Südpazifik.
Damals liefen die TV-Geräte in ganz Deutschland heiß, weil diese beiden ikonischen Protestaktionen eine ungeheure Dynamik und Dramatik entfalteten. Ich war 17 und damit endlich alt genug, um die Arbeit von Greenpeace nicht mehr nur fieberhaft aus der Distanz mitzuverfolgen, sondern auch ganz offiziell als Aktivistin zu starten.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EIGLMF63INHDXA3SO7EG3VIMQ4.jpeg)
Besetzung der stillgelegten Shell-Ölanlage Brent Spar durch Greenpeace im Jahr 1995.
© Quelle: David Sims/Greenpeace Internatio
Haben Sie die alten Veteranen aus der Anfangszeit von Greenpeace kennengelernt?
Während meiner ersten Erfahrungen in der Hamburger Zentrale von GP Deutschland vor 22 Jahren lernte ich den Niederländer Gijs Thieme kennen, ein Brent-Spar-Veteran. Seine sanfte Art, zwischen Kolleginnen und Kollegen aus verschiedensten Nationen und Disziplinen von GP zu vermitteln, hat mich stark beeindruckt. Wir wurden sofort Freunde und sind es bis heute.
Enorm viel bedeutet mir auch der Austausch mit Harald Zindler, dem Mitbegründer von GP Deutschland. Er schenkte mir einmal eine kleine Erdkugel, damit ich immer etwas dabeihabe, das die Menschen in schwierigen politischen Gesprächen visuell sofort auf das Wesentliche fokussieren lässt – auf das Blaue, auf das Meer! Sie passt genau in meine Hand und begleitet mich seitdem als Talisman zu jeder Verhandlung oder auch Schiffsexpedition.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/WCCXW7MQWRHEDM55CPQODNHIUM.jpeg)
Ein Bild aus den ersten Tagen: Die Besatzung der Phyllis Cormack (auch Greenpeace genannt) an Bord des Schiffes im Jahr 1971.
© Quelle: Robert Keziere/Greenpeace United
Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte jüngst beim Festakt zu „50 Jahren Greenpeace“ die Gleitflugaktion bei der EM. Wie gehen Sie mit umstrittenen Aktionen um?
Keine unserer Aktivitäten hat zum Ziel, Menschen in Gefahr zu bringen. Sicherheit steht bei uns an vorderster Stelle. Egal, wie spektakulär der Protest auch sein mag. Trotzdem kann es in seltenen Fällen vorkommen, dass durch unkontrollierbare Faktoren etwas schiefläuft. Doch wenn es passiert, ist es jedes Mal ein Schock, stimmt mich nachdenklich, macht mich sogar traurig, erst recht bei Häme oder Kritik aus der Bevölkerung. Weil ich genau weiß, dass die Grundmotivation für jede Einzelne unserer Protestaktionen aus tiefster Überzeugung auf das große Ganze abzielt – nämlich auf die Sicherung einer gemeinsamen, lebbaren Zukunft für uns Menschen auf diesem Planeten. Das mag jetzt kitschig klingen oder zu sehr nach Flower-Power, ist angesichts der drängenden Klimakrise aber aktueller denn je.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/UCRNX5QMZNAY3D6XNK7R374LRA.jpg)
Sandra Schöttner ist im Jahr 2018 in der Antarktis unterwegs.
© Quelle: © Christian Åslund / Greenpeac
Sie leiteten bei Greenpeace die Kampagne für ein globales Hochseeabkommen mit den Vereinten Nationen. Was ist bislang dabei herausgekommen?
Die Verhandlungen sind leider noch nicht abgeschlossen. Die Zwangspause durch Corona hat die Regierungen viel Schwung und Fokus gekostet, denn online verhandelt es sich bei Weitem nicht so gut. Aber wir konnten mit unserer Protect-the-Oceans-Kampagne politischen Druck erwirken. Wir wollten zeigen, dass auf der Hohen See immer noch der Wilde Westen vorherrscht: Dort macht jeder, was er will, praktisch ungestraft – und zulasten vieler Lebewesen und ganzer Ökosysteme.
Mehr als 3,5 Millionen Menschen unterstützen unsere Forderung – den Schutz von mindestens 30 Prozent der Ozeane bis 2030. Mittlerweile haben sich schon mehr als 50 Regierungen für dieses Ziel ausgesprochen – das wiederum nur über ein starkes Hochseeschutzabkommen erreicht werden kann. Die Bundesregierung ist mit von der Partie. Nun sind alle Augen auf das nächste Jahr gerichtet, wenn die hoffentlich finale Verhandlungsrunde bei den Vereinten Nationen eingeläutet wird.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/RV3TSO5FRZC5TL45OIHAQB6VRA.jpeg)
Ein düsterer Augenblick in der Geschichte der Umweltschutzorganisation: Das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior wurde am 10. Juli 1985 von Agenten des französischen Service Action im neuseeländischen Auckland versenkt. Dabei starb der Fotograf Fernando Pereira.
© Quelle: John Miller/Greenpeace Internati
Sie sind Meeresbiologin. Die Meere und der Schutz der Wale standen von Beginn an im Fokus von Greenpeace. Was fasziniert Sie an diesem Element?
Unsere Ozeane sind nicht nur wunderschön und geheimnisvoll, sondern auch überlebenswichtig. Sie produzieren mehr als die Hälfte unseres Sauerstoffs, liefern Nahrung für Millionen von Menschen, sind Lebensraum für eine schier unendliche Artenvielfalt und machen die Erde klimatisch überhaupt erst bewohnbar. Sie gelten sogar als die Wiege des Lebens auf unserem Planeten. Doch wir wissen mehr über die Oberfläche des Mondes als über das Meer – und plündern, zerstören und vermüllen es, als ob es kein Morgen gäbe! Diese Diskrepanz treibt mich an.
Heute stehen andere Klimaschutzbewegungen im Fokus wie Fridays for Future. Hat Greenpeace an Bedeutung eingebüßt?
Im Vergleich zu den Siebziger- und Achtzigerjahren, als GP durch bis dahin unerhörte Protestformen berühmt wurde, die sämtliche Kinnladen herunterklappen ließen, wirken wir heute vielleicht etablierter, gemäßigter oder manchmal sogar auch vorhersehbarer. Unseren Biss haben wir aber nicht verloren. Wir sind noch immer so unbequem und motiviert wie vor vier oder fünf Jahrzehnten.
Lediglich unser Platz in der Gesellschaft hat sich ein wenig verändert. Die Rolle der jungen Wilden übernehmen nun auch andere, wie auch Extinction Rebellion. Das ist vollkommen in Ordnung – ja, sogar wichtig. Wir stecken in einer riesigen Klima- und Biodiversitätskrise, da braucht es Stimmen, Ansätze und Lösungen von vielen verschiedenen Seiten.
Was halten Sie von einer grünen Kanzlerkandidatin?
Davon halte ich persönlich sehr viel, wenn GP auch parteilos ist und völlig unabhängig von Politik und Wirtschaft agiert. In meinen Augen setzt eine grüne Kanzlerkandidatin ein starkes Zeichen – für eine echte, zukunftsfähige Wende in der Umweltpolitik, aber auch für unerschrockenes, selbstverständliches Agieren junger Frauen in einer Führungsrolle.
Welche umweltpolitischen Maßnahmen erhoffen Sie sich von der nächsten Bundesregierung?
Das sind leider zu viele, um sie hier alle aufzulisten. Hier eine Auswahl: Kohleausstieg bis 2030, Klimaneutralität vor 2040, Anhebung des deutschen Klimaziels für 2030 auf mindestens minus 70 Prozent gegenüber 1990, ein Klimaschutz-Sofortmaßnahmen-Programm innerhalb der ersten 100 Tage der neuen Bundesregierung, ein Neuzulassungsverbot für Pkw mit Verbrennungsmotoren ab 2025, die Beendigung der Ölförderung im deutschen Teil der Nord- und Ostsee bis 2025 und der Einsatz für ein Ende der Öl- und Gasförderung im Nordostatlantik bis 2030.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VX7FEYF5YBEGBKTKAG4Y7ERDAQ.jpeg)
1982: Die Besatzung sprüht mit Wasserschläuchen auf die Aktivisten, um Greenpeace daran zu hindern, die Verklappung von Atommüll im Nordatlantik zu verhindern.
© Quelle: Pierre Gleizes/Greenpeace Intern
Die Geburtsstunde von Greenpeace
Am 15. September 1971 waren Aktivisten und Aktivistinnen mit einem umgebauten Fischkutter aufgebrochen, um vor Alaska einen Atomtest zu verhindern. Aus dieser Aktion entstand eine der weltweit größten Umweltorganisationen, die in 55 Ländern aktiv ist – mit 3500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und 63.000 Ehrenamtlichen und drei Millionen Unterstützenden.
Wahlprogramme im Check: Das planen die Parteien beim Thema Klima
Die kommende Bundesregierung ist die letzte, die dafür sorgen kann, dass Deutschland das Pariser Abkommen noch einhält. Was haben die Parteien also vor?