15 Flüchtlinge und eine Chance
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„Ich möchte gern in Nordhausen bleiben“: Anton Gazala aus Syrien.
© Quelle: Christoph Keil
Nordhausen. Anton Gazala steht unter einem Lastwagen und schaut fasziniert nach oben. Motor, Getriebe, Kupplung, der Lkw ist zur Wartung in der Werkstatt. „Lkw machen mehr Spaß als Autos, weil sie größer sind“, sagt der Syrer. „Das Getriebe wiegt 700 Kilo, die Kupplung 50 Kilo.“ Anton Gazala lacht, zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich liebe schwere Sachen.“ Dann geht er zusätzliches Werkzeug holen.
Ich liebe schwere Sachen. Als ob er vom Schweren nicht mehr als seinen Anteil im Leben gehabt hätte.
Anton Gazala ist 40 Jahre alt. Er ist vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen, über die Türkei nach Griechenland und Ungarn, bis er schließlich 2016 in Deutschland ankam. Und im thüringischen Nordhausen. Und dort macht er nun, endlich, eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Mit 40.
Ein Unternehmer mit Bauchgefühl
Gazala kam in ein Land, das sich durch den Zuzug Hunderttausender Flüchtlinge verändert hatte. Deutschland war zerrissen zwischen denen, die so vielen Flüchtlingen wie möglich helfen wollten, und denen, die warnten, die Herausforderungen der Integration würden Deutschland überfordern. Gazala kam in ein Land, das mit sich haderte.
Aber einer in diesem Land gab ihm eine Chance. Dieser Mann ist Helmut Peter, ein Unternehmer, der auf sein Bauchgefühl gehört hat.
Der 61-Jährige, ein rundlicher Mann mit kräftigem Händedruck, lässt sich tief in seinen Chefsessel zurücksinken, als er davon erzählt, wie alles begann. Peter ist Besitzer einer Autohauskette mit Sitz in Nordhausen – und mit mehr als 20 Filialen in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen.
Als im Jahr 2015 Hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen, sprach der damalige Kanzleramtsminister Peter Altmaier auf einem CDU-Oktoberfest in einem der Autohäuser des Unternehmers. Viele redeten nur über Integration, täten aber nichts dafür, sagte Altmaier.
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Als alles begann: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (l.) und Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit (r.), 2016 mit Helmut Peter (hinten) und Auszubildenden beim Autohaus Peter in Nordhausen.
© Quelle: Martin Schutt/dpa
Helmut Peter rief ihm dann, wie er es im Nachhinein selbst beschreibt, einfach „aus dem Bauch heraus“ spontan zu: Man solle seinem Unternehmen doch Flüchtlinge schicken. Er werde schon Facharbeiter aus ihnen machen.
Es war der Beginn einer Geschichte über Integration und Arbeit, über die Chancen, aber auch die Schwierigkeiten, wenn Flüchtlinge eine Ausbildung in Deutschland machen. Es ist eine Geschichte, die eigentlich doppelt erzählt werden muss: aus der Sicht des Chefs und aus der Sicht des Lehrlings.
Der Firmenchef machte Ernst. Und das, obwohl er ausreichend Bewerber für Ausbildungsplätze in seinem Unternehmen hat. Kfz-Mechatroniker ist ein beliebter Beruf – und anspruchsvoll, wie Lehrmeister betonen. Es geht um mehr als ums Schrauben am Auto, es ist ein hohes technisches Verständnis notwendig.
„Ich würde das wieder machen – aber anders“
Peter ließ sich erst Flüchtlinge zum Praktikum vermitteln, hinterher begannen 15 eine Lehre. Von ihnen sind noch sechs dabei, die im kommenden Jahr die Ausbildung erfolgreich abschließen sollen. Die anderen haben vorzeitig abgebrochen. Sechs von 15, ein schmales Ergebnis, eine ernüchternde Bilanz?
Wenn Helmut Peter sich freut, verfällt er besonders stark in seinen thüringischen Dialekt, bei dem die Worte schon mal unversehens ineinanderfließen. Je ernster er ist, desto mehr verflüchtigt sich dieser leichte Singsang. Dann steht jedes Wort für sich: „Ich würde es wieder machen – aber anders.“
Der Chef beugt sich weit über den Tisch in der Nordhausener Firmenzentrale: „Ich würde die Lehrlinge härter anfassen. Ich würde klar sagen: Ihr wollt ein neues Leben aufbauen, ihr müsst arbeiten und lernen. Ihr könnt nicht heute mal zu spät kommen und morgen mal krankfeiern. Das läuft so nicht.“
Harte Schule in der „Gummistiefelwelt“
Der Unternehmer ist ein zupackender Typ. Er spricht von der „Gummistiefelwelt“ auf dem Land und in der Kleinstadt, wo Probleme direkt angepackt würden – anders als in der „Lackschuhwelt“ der Großstädte, wo viel dahergeredet werde. Er sagt Sätze wie: „Wenn einer Burn-out hat, lass ich ihn zu mir ins Büro kommen. Dann finden wir raus, was er wirklich hat.“ Bei den Flüchtlingen habe ihn das Mitgefühl für die schwierige Lebensgeschichte zu großzügig werden lassen, sagt er.
Haben deshalb so viele die Lehre nicht geschafft? Sind deshalb nur sechs von 15 Auszubildenden noch dabei? Oder wo liegt das Problem?
Am Anfang haben einige schnell aufgegeben: aus Überforderung – nicht nur, aber auch wegen der Sprache. Die Ausdauer fehlte. Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte. Es hat sich herausgestellt, dass es gar nicht so leicht ist, Flüchtlingen, die von einem Tag auf den anderen alles hinter sich lassen mussten, zu vermitteln: Es lohnt sich, langfristig zu denken. Und in Deutschland ist, anders als in vielen Herkunftsländern, eine Ausbildung meistens Voraussetzung für Erfolg.
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Fünf Lehrlinge haben in der fortgeschrittenen Phase die Ausbildung abgebrochen, obwohl sie gute Aussichten hatten, am Ende auch ihre Prüfung zu bestehen. Ihre Motivation: Bei guter Konjunktur können sie als Hilfsarbeiter in der Großbäckerei oder in einer Möbelbaufirma mit Schichtzuschlägen sofort mehr Geld verdienen als in der Ausbildung, in der sie zu allem Überfluss auch noch die Fachsprache pauken müssen – mit sperrigen Vokabeln aus dem Leben eines Kfz-Mechatronikers von Antiblockiersystem bis Zylinderkopfhaube.
Er habe auch Verständnis für diejenigen, die deshalb aufgehört hätten, sagt der Unternehmer. „Aber natürlich bin ich enttäuscht“, fügt er hinzu. „Wir haben viel Mühe und Herzblut investiert. Das ist ernüchternd, wenn man jemanden erst begeistert – und dann sagt er plötzlich: Ich hab keine Lust mehr – und tschüs.“
Die große Hürde: Die deutsche Sprache
Anton Gazala lächelt verlegen, als er nach den Kollegen gefragt wird, die ihre Lehre abgebrochen haben. „Ich verstehe nicht, ich verstehe wirklich nicht“, sagt er über sie. Einige hätten sehr gut Deutsch gesprochen, sagt Gazala, der selbst oft noch mit der Sprache kämpft. Mal fehlt ein Wort, oft benutzt er den Infinitiv, sagt „Kollega“ statt „Kollegen“. Das Handy als Übersetzungshilfe ist immer griffbereit. Aber: Anton Gazala ist drangeblieben. Das Schrauben am Lastwagen sei kein Problem, aber die Fachsprache sei sehr schwierig. „Ich habe Angst vor der Prüfung, wegen der Sprache“, sagt er.
Alaa Abbas Hadi Al-Qubbanchee, Iraker und ebenfalls Auszubildender bei Peter in Nordhausen, geht das Deutsch leichter über die Zunge, er spricht flüssig und schnell. Al-Qubbanchee erzählt nicht viel über das Leben im Irak, in dem er seine Eltern zurückgelassen hat. „Du gehst zur Arbeit und hinter dir hörst du, wie jemand auf den Abzug seiner Pistole drückt“, sagt er, nach seiner Heimat befragt. Dann wechselt er rasch das Thema.
„Bist du dumm oder was?“ Diesen Satz habe er einem Kollegen, der die Lehre abgebrochen habe, an den Kopf geworfen, sagt er. „Wer in Deutschland lebt, muss eine Ausbildung haben“, sagt der 27-Jährige. „Es geht nicht nur um das Geld. Wenn du ein Zeugnis hast, respektieren dich die Leute auch mehr.“
Die Geschichte der Flüchtlinge im Autohaus von Nordhausen zeigt, wie unterschiedlich Integration verlaufen kann – und an welchen kleinen oder größeren Begebenheiten Probleme und Erfolge hängen können. Gazala hat Frau und Kinder nach Deutschland geholt. Er ist Vater von zwei Mädchen, die in die Grundschule gehen, ein weiteres Kind ist in Deutschland geboren. Die Kinder lernen in der Schule Deutsch, der Vater muss auf der Arbeit Deutsch sprechen. Die Mutter hat als Hausfrau viel schlechtere Chancen, in der Sprache und im Land anzukommen obwohl sie in Syrien Lehrerin war.
Die Kontakte bleiben lose
Al-Qubbanchee, der allein nach Deutschland gekommen ist, hat irgendwann eine Frau auf Facebook kennengelernt. Sich regelmäßig auf Deutsch Nachrichten zu schreiben bringe viel für die Sprache, auch wenn man sich nicht jeden Tag sehe, sagt er.
Manch ein Flüchtling hat über einen Fußballverein Anschluss und Freunde gefunden. Andere sitzen allein zu Hause. Gazala sagt, er treffe schon mal deutsche Kollegen im Restaurant Akropolis zum Essen und auf ein Bier. Al-Qubbanchee erzählt, ein Geselle lade gelegentlich zum Grillen ein.
Ist das alles an Kontakten zwischen den Flüchtlingen und ihren Kollegen? Ein deutscher Kollege sagt, die Flüchtlinge seien ja nun schon den ganzen Tag im Betrieb, obwohl keiner darum gebeten habe. Da müsse man sich ja nicht auch noch in der Freizeit sehen.
In der Flüchtlingskrise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt: „Wir schaffen das.“ In Nordhausen hat Peter dasselbe getan – und ist wie Merkel auch auf Widerstände gestoßen. Viele in der Stadt und im Betrieb fanden, da wolle sich einer vor allem wichtigtun. Nicht zuletzt viele Meister in Peters Unternehmen waren dagegen. Doch der Chef bestand auf seinem Projekt.
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„Wenn du ein Zeugnis hast, respektieren dich die Leute auch mehr“: Alaa Abbas Hadi Al-Qubbanchee aus dem Irak lernt in Nordhausen
© Quelle: Christoph Keil
Mario Sack, Kfz-Schlosser, Anfang 50, Irokesenschnitt, sagt, er habe insbesondere anfangs als Ansprechpartner für die Flüchtlinge im Betrieb fungiert, als sonst keiner mit ihnen reden wollte. Sack – nach eigenen Angaben „politisch links aufgestellt“ – nennt das, was er im Unternehmen beobachtet hat, unumwunden „Fremdenfeindlichkeit“. Kollegen hätten gesagt: „Dann bring den Neger mal her.“ Die Grundeinstellung sei geblieben – aber alle agierten jetzt etwas vorsichtiger, auch weil der Chef in Sachen Flüchtlingsausbildung bei seiner Haltung geblieben sei.
Gazala sagt, er und seine Familie hätten keine Probleme in der Stadt. Sie seien Christen – und die Menschen hätten keine Angst vor ausländischen Christen, sondern vor Muslimen. Eine Muslimin aus der Nachbarschaft, die Kopftuch trage, höre im Supermarkt schon mal von anderen Kunden: „Was machst du hier? Du musst zurück.“ Auch Al-Qubbanchee ist christlichen Glaubens, sagt aber, das könnten die Menschen ihm ja nicht ansehen. „Ich sehe die Gesichter. Viele Leute haben schlechte Laune, wenn sie uns sehen. Sie haben Angst.“ Er sage dann freundlich Hallo. So mancher gehe dann nur wortlos schnell vorbei. Wie geht er damit um? „Ich sage beim nächsten Mal wieder freundlich Hallo“, sagt der 27-Jährige.
Eine zweite Runde? Vielleicht
Falls Helmut Peter tatsächlich noch eine zweite Gruppe Flüchtlinge ausbilden sollte, werden sich die meisten Kunden an die neue Vielfalt im Unternehmen wohl gewöhnt haben. Anfangs verlangten einige, es dürfe auf gar keinen Fall einer der Flüchtlinge an ihren Autos arbeiten. Das gebe es so nicht mehr, sagt der Firmenchef. Doch bevor er vielleicht neue Flüchtlinge anstellt, sollen erst mal die verbliebenen im kommenden Jahr erfolgreich ihre Ausbildung abschließen. Er traue allen zu, die Prüfung zu bestehen, sagt Peter – trotz Sprachschwierigkeiten.
Und was ist nach der Lehre? „Ich möchte dann gern in Nordhausen bleiben“, sagt Anton Gazala, während er gerade eine Pause macht. Die Stadt habe die richtige Größe – wie sein Heimatort in Syrien. Im Sommer sei es in Syrien natürlich wärmer, aber der Schnee im Winter erinnere ihn an die Heimat. Nur an das deutsche Essen habe er sich noch nicht ganz gewöhnt. Auch wenn es hier „leckere Sachen“ gebe. Leberwurst zum Beispiel, die habe er erst gestern gekauft. Gazala sagt’s und reibt sich den Bauch. Dann beendet er seine Pause, steigt in die Tiefe – und schaut sich wieder begeistert den Lastwagen von unten an.
Von Tobias Peter