Toter Jogger in Italien – war es doch keine Bärin?
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JJ4 in der Rohrfalle: Mitarbeiter des Trentiner Forstkorps mit der sogenannten „Problembärin“ JJ4. Zwei Wochen nach der tödlichen Attacke auf einen Jogger in Norditalien hatten Förster die Bärin eingefangen, die der Tat verdächtigt wurde. Laut Autopsie wurde der Angriff aber wahrscheinlich von einem männlichen Bären durchgeführt.
© Quelle: -/Provinzregierung Trentino/dpa
Der Bär hat’s dieser Tage schwer im bärenarmen Mitteleuropa. In Italien wie in Deutschland sorgt sein Erscheinen für Aufregung. Man ist ihn nicht gewohnt, und weil die unterschiedlichen Tiere einander auf den ersten Blick ähneln, kann es vorkommen, dass einer den Kopf für den anderen hinhalten muss. Die neueste Bärennachricht aus Italien: Die „Problembärin“, die am 5. April im Wanderparadies Val di Sole, einem Tal im Trentino, den Jogger Andrea Papi getötet haben soll, werde zu Unrecht verdächtigt. „JJ4 ist unschuldig – Leal hat Beweise!“ titelt der italienische Tierschutzverband Leal auf seiner Website.
Zahnabdrücke wecken Zweifel an JJ4 als Angreiferin
Das Bärenweibchen JJ4, auch bekannt als Gaia, das nach dem tödlichen Angriff eingefangen wurde, seither zweifelsfrei als Täterin galt und einem ungewissen Schicksal entgegensieht, werde durch das gerichtsmedizinische Gutachten entlastet. Die Leal-Anwältin Aurora Loprete konnte das Gutachten lesen. Der Abstand der Eckzähne bei den Bisswunden sei zu groß – und Zahnabdrücke eines Tieres, so die Juristin, hätten für die forensische Veterinärmedizin den gleichen Wert wie menschliche Fingerabdrücke.
Die Trentiner Ausgabe der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ berichtet ebenfalls von dem für ein Bärenweibchen zu breiten Zahnabstand an der Leiche des 26-Järigen. Die Autopsie Papis erbrachte laut Bericht, dass „der Verstorbene zahllose zerfetzte Hautläsionen mit hämatischer Durchtränkung des darunter liegenden Gewebes aufweist, deren Erscheinungsbild mit dem Eindringen von Zähnen und Krallen eines ausgewachsenen Bären vereinbar ist.“
Der Punkt im Gutachten, der vor allem für die Unschuld von JJ4 ins Feld geführt wird: „Insbesondere sind die Läsionen, die auf das Eindringen eines Eckzahnpaares zurückzuführen sind, durch einen Abstand von circa 8,0 bis 8,5 Zentimeter gekennzeichnet, was dem typischen Abstand der Eckzähne eines ausgewachsenen Bärenmännchens entspricht.“
Die Art der Verletzungen weist auf keine Tötungsabsicht hin
Des Weiteren wird ausgeführt, dass die Art der Verletzungen offensichtlich nicht auf einen Angriff des Tieres mit Tötungsabsicht hindeute. Laut der Tierärztin Cristina Marchetti und dem Tierarzt Roberto Scarcella habe der Körper des Toten „keine Anzeichen von Verzehr“ gezeigt. Der Sachverständigenbericht führt dazu ganz im Gegenteil aus: „Was die Art des Angriffs betrifft, so kann er auf einen langwierigen Versuch des Bären zurückgeführt werden, das Opfer zu vertreiben und abzuschrecken.“
Angezweifelt wird von den Tierschutzorganisationen Leal und Zampe che dare una mano (Die Pfoten helfen mit) auch, dass Spuren von JJ4-DNA am Toten beweiskräftig sind. Marchetti und Scarcella verweisen auf die begrenzte genetische Variabilität der Trentiner Bären, die „von einigen wenigen Urvätern abstammt“.
Tierschützer wollen die Tötung von JJ4 verhindern
In jedem Fall wollen die Tierschützerinnen und Tierschützer nun die Tötung von JJ4 verhindern. Und sie fordern zugleich den Rücktritt des Trentiner Landeshauptmanns Maurizio Fugatti. Der wurde am 5. Mai in der Lokalausgabe „Corriere del Trentino“ aus einer Pressekonferenz mit einem größeren Entnahmevorhaben zitiert. „Wir sind der Meinung, dass JJ4 gekeult werden muss, wenn das Gericht es uns erlaubt.“ Und er verwies dann auf die gesamte Bärenpopulation in der Region: „Wenn sie nicht umgesiedelt werden können, müssen die 70 überzähligen Bären getötet werden.“
In den sozialen Medien wurde das Thema Gegenstand von Hasskommentaren pro und kontra Bär. Die Familie des Toten wies darauf hin, so berichtete „La Stampa“, dass ihr Sohn nicht etwa durch Wald und Busch gerannt sei, sondern auf einer normalen, oberhalb seines Hauses verlaufenden, autotauglichen Forststraße.
Die Hinterbliebenen von Andrea Papi kündigten zudem über ihre Anwälte an, Klagen gegen diejenigen erheben zu wollen, die im Internet zum Teil hämisch behaupteten, Andrea Papi sei selbst schuld an seinem Tod gewesen. Die trauernden Eltern, die Schwester und die Freundin des Toten empfanden, dass „unser Andrea zum zweiten Mal stirbt“ – als Opfer von „Raubtieren der Tastatur“.
Komitee pocht auf Recht, Wald und Bergwelt sicher zu erleben
Dem Komitee Gemeinsam für Andrea haben sich inzwischen mehr als 1000 Bürgerinnen und Bürger angeschlossen. Abgesehen vom Spendensammeln für die Familie des Opfers will man auch dem EU-Projekt Life Ursus, der Wiederansiedlung von Bären in der Region, auf den Zahn fühlen. Der Komiteevorsitzende Pierantonio Cristoforetti sieht eine Maßnahme, die über den Kopf der Trentinerinnen und Trentiner hinweg durchgezogen worden sei: „Wir wurden nie gefragt, und die Bären sind da.“
Am Freitag, 12. Mai, will sich Gemeinsam für Andrea im Theater von Malé der Öffentlichkeit vorstellen und seine Ziele erörtern. Man wolle dabei „ernsthaft“ vorgehen, „ohne Hass oder Rachegefühle hervorzurufen“, sagt Cristoforetti. Doch gebe es das kollektive Recht, den Wald und die Bergwelt sicher zu erleben.
Auch in Deutschland wurde der Bär wieder zum Thema
Auch in Deutschland ist das Thema Bär in diesen Tagen aktuell wie seit der Tötung des „Problembären“ Bruno (JJ1) 2006, einem Bruder von JJ4, nicht mehr. In der Gemeinde Oberaudorf im Landkreis Rosenheim wurde der Riss mehrerer Schafe im April einem Bären zugeschrieben. Sichtkontakt gab es nie, nur Tatzenabdrücke. Der besonnene Oberaudorfer Bürgermeister Matthias Bernhardt sprach von einem „mulmigen Gefühl“ und brachte die Angst der örtlichen Almbauern vorm Almauftrieb ihres Viehs ins Spiel.
Bernhardt forderte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) eine „ergebnisoffene Diskussion“. Toleranz oder Eingreifen? „Entnehmen heißt nicht immer gleich abschießen“, sagte Bernhardt. Man könne ihn auch betäuben und umsiedeln. Gerade im Frühjahr sei es relativ einfach, einen Bär mit Fallen, die mit Obst belegt sind, einzufangen. „Weil er da nach Fressen sucht.“
Bärensichtung in Traunstein – abschießen oder Chance geben?
Erst am vergangenen Sonntag nun wurde in Siegsdorf im Landkreis Traunstein wieder ein Bär mit einer Wildtierkamera aufgenommen. Und auch hier sind die Landwirte bezüglich des dringlichen Almauftriebs zutiefst verunsichert. „Ein Nebeneinander von großen Beutegreifern und Weidehaltung ist schlicht und ergreifend nicht möglich“, wird Landrat Siegfried Walch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Und er deutete die Möglichkeit eines Abschusses an.
Der Wildbiologe Wolfgang Schröder hält es in der „Süddeutschen Zeitung“ für wahrscheinlich, dass es sich bei dem Oberaudorfer und dem Siegsdorfer Bären „um ein und dasselbe Tier“ handelt. Schröder sieht zwar, dass die bayerische Almwirtschaft in den vergangenen zwei bärenfreien Jahrhunderten die Behirtung, Schutzhunde, Nachtställe und andere klassische Herdenschutzmaßnahmen aufgegeben hat. Er fordert aber statt eines Abschusses eine genaue Beobachtung der Entwicklung des Bären: „Wir sollten ihm eine Chance geben. Womöglich findet er ja eine Ecke, in der er unauffällig sein Leben führen kann.“
Pflaumenbaum mit Bär – in Kanada ist der Mensch entspannter
In Ländern mit alltäglicher und erheblicher Bärenpräsenz ist man unaufgeregter im Koexistieren mit den Raubtieren. In den kanadischen Provinzen British Columbia und Alberta leben 500.000 Schwarzbären und 25.000 Grizzlys. Auf Vancouver Island erinnert sich die deutschstämmige Lisa Ross an eine ungewöhnliche Begegnung mit einem Schwarzbären. „Ich wollte Pflaumen im Garten meiner Tochter pflücken“, erzählt sie. Dann habe sie ein Brummen über sich im Baum gehört. Ein Bär saß im Geäst, und schaufelte sich das offenkundig schon gärende Obst ins Maul.
„Der war viel zu beschwipst, um mich zu bemerken“, sagt die heute 85-Jährige. Sie sei ruhig ins Haus gegangen, irgendwann sei der pelzige Trunkenbold vom Gelände gerollt. „Bären gehören hierher. Menschen sind nicht Bestandteil ihrer Ernährung. Man lebt miteinander und man stellt sich auf die Tiere ein“, sagt Ross. Natürlich gebe es auch Situationen, die gefährlich sind. Ihre Schwiegertochter sei auf ihrem Grundstück auf dem Festland einmal zwischen eine Bärin und ihr Junges geraten, konnte sich aber rasch aus der kritischen Zone retten.
„If it’s brown, lie down. If it’s black, fight back“
Auch in Kanada gelten Bären keineswegs als harmlose Kuscheltiere. Regeln, mit denen Einheimische aufwachsen, werden an Touristinnen und Touristen weitergereicht: Laut sein, keinen Müll liegen lassen, bei Bärensichtung niemals zum Fotografieren aus dem Auto steigen und die Tiere nie anfüttern. Das berühmte Bärenglöckchen wird beileibe nicht in allen Nationalparks empfohlen. Dort, wo Bären an Menschen (und ihre Picknicks) gewöhnt sind, vertreibt sie der Klang nicht wie sonst – sondern lockt sie an. Kommt es zu einer Begegnung, gilt die Regel „If it’s brown, lie down. If it’s black, fight back“ (ist’s ein – aggressiverer – Braunbär, leg dich hin, ist es ein – defensiverer – Schwarzbär, wehr dich).
Insgesamt leben in Europa laut World Wide Fund for Nature (WWF) etwa 17.000 Braunbären. Die größte Population des größten landlebenden Raubtiers in Europa ist mit 7360 Exemplaren in den Karpaten zu finden. Bären gibt es in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ebenso wie in Polen, Estland, Lettland, der Slowakei, Bulgarien, Albanien und Griechenland. In Skandinavien leben geschätzt knapp 4500 Exemplare und in Spanien sind es um die 350. Die mit 30 Bären zahlenmäßig geringe pyrenäische Population teilt Spanien sich mit Frankreich. In Deutschland wurde der letzte Braunbär vor etwa 190 Jahren erschossen.
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Tödliche Vorfälle mit Bären sind vergleichsweise selten. In Europa starben laut einer 2019 im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten Studie zwischen 2000 und 2015 19 Menschen bei 291 Bärenangriffen. In ganz Nordamerika wurden im selben Zeitraum 45 Tote bei 183 Angriffen registriert. Dennoch werden in Kanada jährlich Hunderte Bären auf behördliche Anweisung getötet, weil sie durch Anfütterung ihre Scheu vor dem Menschen verloren haben.
Deutscher Bärengnadenhof will JJ4 aufnehmen
Und was passiert nun mit JJ4? Die von Fugatti bereits zweimal angeordnete Tötung der Bärin wurde beide Male von einem Trienter Verwaltungsgericht gekippt. Eine für Donnerstag,11. Mai, geplante Anhörung vor Gericht wurde auf den 25. Mai verschoben. Einstweilen ist JJ4 im Bärengehege Casteller in Trient einquartiert.
Die vom früheren Präsidenten des Deutschen Tierschutzvereins, Andreas Grasmüller, gegründete Gewerkschaft für Tiere hat laut „Münchner Merkur“ die Verbringung der Bärin in ihren Bärengnadenhof in Bad Füssing angeboten. In den elf Hektar großen Gehegen könnte die 17-jährige JJ4 den Rest ihres Lebens (Braunbären werden 20 bis 30 Jahre alt) mit Suse, Balu und Franzi sowie zwölf anderen Artgenossen führen – aus menschlicher Misshandlung befreiten Tanz-, Zirkus- und Käfigbären.