715 Angriffe auf Gesundheitsversorgung

Ärzte und Pfleger aus Mariupol eröffnen Krankenhaus in Kiew

Ein medizinischer Mitarbeiter Anfang März 2022 in einem Krankenhaus in Mariupol (Archiv).

Ein medizinischer Mitarbeiter Anfang März 2022 in einem Krankenhaus in Mariupol (Archiv).

Als im März russische Truppen die Kontrolle über das ostukrainische Mariupol übernahmen, verschwand nach und nach das Personal des größten Krankenhauses der Region: Eine von einem russischen Scharfschützen verwundete Krankenschwester wurde in Laken gewickelt hinausgeschmuggelt. Ein Krankenpfleger schlich durch eine Seitentür hinaus und lief davon, weil er es nicht ertragen konnte, für die Menschen zu arbeiten, die sein Zuhause zerstört hatten. Einige Ärzte tauschten ihre Kittel gegen Straßenkleidung.

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Monate später finden sich rund 30 Angestellte des Krankenhauses in Kiew wieder. Zusammen mit 30 Spezialisten einer Herzklinik in Kramatorsk in der Ostukraine, das nach wie vor unter ukrainischer Kontrolle steht, eröffnen sie ein Behelfskrankenhaus für vertriebene Ukrainer.

„Konnte denen, die mein Leben zerstört haben, nicht gehorchen“

Dmitro Gawro ist Krankenpfleger und lässt sich zum Kardiologen ausbilden. Er erinnert sich an jedes Kind, das in den dunklen Tagen im März im Krankenhaus Nr. 2 in Mariupol ankam, als die Stadt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine vom 24. Februar belagert und bombardiert wurde.

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„Ich erinnere mich an alle, angefangen vom ersten Mädchen, das uns gebracht wurde, bis zu den beiden Kindern, die kurz vor der Besetzung unseres Krankenhauses zu uns gebracht wurden“, sagt Gawro. Er habe Mariupol verlassen, weil er für die Russen nicht arbeiten könne. Russland betrachtete die Hafenstadt als strategische Beute und bombardierte sie 86 Tage bis zur Kapitulation. „Ich konnte denen, die mein Leben zerstört haben, nicht gehorchen“, sagt er. „Ich habe kein einziges Foto, nicht eine einzige Erinnerung an meine Kindheit – kein einziges Foto mit meiner Familie, keine Fotos meiner Eltern aus meiner Kindheit. Zu Hause ist alles abgebrannt.“

Umgeben von Menschen, die verstehen, was er durchgemacht hat, sieht der 21-Jährige das neue Krankenhaus in der ukrainischen Hauptstadt als eine Art Wiedergeburt: „Gerade unser Krankenhaus ist der Beweis dafür, dass alles möglich ist: Man kann bei null anfangen und das schaffen“, sagt er am Tag vor Aufnahme der ersten Patienten.

715 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung der Ukraine

Ein Großteil der medizinischen Infrastruktur muss von Grund auf neu aufgebaut werden. Die Weltgesundheitsorganisation hat während des Krieges 715 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung der Ukraine dokumentiert. Nach einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Studie des ukrainischen Zentrums für Gesundheitsfürsorge wurden fast 80 Prozent der medizinischen Einrichtungen allein in Mariupol beschädigt oder zerstört, also 82 der 106 Orte, die das Zentrum mit einer Kombination aus Satellitenbildern und Augenzeugenberichten analysierte. „Unter den zerstörten medizinischen Einrichtungen befindet sich fast die gesamte kritische medizinische Infrastruktur der Stadt“, heißt es in dem Bericht.

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Ihre letzte Erinnerung an das Krankenhaus Nr. 2 hat Marina Gorbasch nicht als Krankenschwester, sondern als Patientin: Am 11. März, als russische Truppen das Gebäude mit Panzern umstellt hatten, schlug die Kugel eines russischen Scharfschützen in ihren Kiefer. Zu diesem Zeitpunkt wurden in dem Krankenhaus fast ausschließlich zivile Kriegsopfer behandelt, doch seine Gänge waren voll mit Bewohnern der Stadt, die nirgendwo anders hinkonnten.

Gorbaschs zwei Töchter im Teenageralter befanden sich im Keller ihres Hauses am anderen Ende der Stadt und wussten nicht, was mit ihrer Mutter passiert war. Zwei Reporter der Nachrichtenagentur AP, die an diesem Tag im Krankenhaus waren, wurden Zeugen des Beschusses sowie des Näherrückens der russischen Truppen in jener Nacht.

Russische Führung besorgt über Antikriegsstimmung im eigenen Land

Die russische Führung sorgt sich nach Einschätzung britischer Geheimdienstexperten über die Zunahme einer Antikriegsstimmung in ihrem Land.

Als russische Soldaten am 13. März die Kontrolle über das gesamte Krankenhaus übernahmen, lag Gorbasch halb im Delirium auf der Intensivstation. „Sie zählten die Patienten und die Mitarbeiter, damit niemand gehen konnte. Sie sagten, sie würden jeden Arzt erschießen, der das Krankenhaus verlässt“, erzählt Gorbasch, die auf der neurologischen Station arbeitete. Also wickelten die Kollegen sie heimlich in Laken und fuhren sie am 16. März in einem Auto weg.

Danach wollte sie nie wieder im medizinischen Bereich arbeiten. Doch als sie schließlich nach Kiew kam, traf sie die langjährigen Kollegen wieder, die ihr Leben gerettet hatten – und merkte, dass die seelischen Wunden heilten. „Der Wunsch zu leben kam wieder“, sagt sie. „Wir hatten das alles gemeinsam durchgestanden. Deshalb verstehen wir uns hier so gut mit einem halben Wort, einem kurzen Blick. Wissen Sie, die Einwohner von Mariupol verstehen einander jetzt einfach so, mit Worten, Augen, Gesten und Tränen.“

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RND/AP

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