SOS-Kinderdorf-Mitarbeiter: 100.000 Heimkindern muss geholfen werden
Gefühl von Geborgenheit geben: Ein ukrainisches Kind im polnischen SOS-Kinderdorf Bilgoraj.
© Quelle: Katerina Illievska
Das Wort Zuflucht wird in Bilgoraj ernst genommen, die Kinder dort sollen unbedingt zur Ruhe kommen, Medienkontakte sind deshalb nicht möglich. Die Evakuierten aus den ukrainischen SOS-Kinderdörfern werden von Mitarbeitern in dem polnischen SOS-Kinderdorf vor weiteren Belastungen beschützt. Manche von ihnen und von den Pflegeeltern haben auf dem Weg nach Polen zum Teil schreckliche Erfahrungen gemacht, haben erlebt, wie Flüchtende um sie herum verletzt wurden oder auch starben. Nur zu verständlich, dass sie nun abgeschirmt werden. Was die Kinder der kriegserschütterten Ukraine jetzt benötigen, ist das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
„Sie bekommen dort auch die beste Unterstützung, die wir ihnen geben können“, sagt Julian Erjautz am Telefon. Als Nothilfekoordinator ist der Österreicher für SOS-Kinderdörfer in Osteuropa zuständig. Entscheidet sich die Organisation SOS-Kinderdörfer im Fall einer Krise dazu, Hilfe zu leisten, baut Erjautz das jeweilige SOS-Team auf, koordiniert die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, etwa UN-Agencys, mit Rotem Kreuz, Hilfsorganisationen vor Ort sowie mit den Regierungen.
Die SOS-Kinder im Donbass wurden vor dem Überfall evakuiert
Auch die Verbringung der SOS-Kinder aus der besonders gefährdeten Region Luhansk zunächst in den Westen der Ukraine hatte er organisiert. Noch vor dem Überfall der russischen Streitkräfte war das – man hatte ein von Amerika ausgegebenes ursprüngliches Datum für den Kriegsbeginn ernst genommen – glücklicherweise. Als auch im Westen Raketen einschlugen, erklärte sich Polen bereit, die Kinder zu übernehmen.
An der polnische Grenze zur Ukraine: Julian Erjautz, Nothilfekoordinator von SOS Kinderdorf
© Quelle: Katerina Illievska
„Der Großteil der Familien hat sich damals evakuieren lassen“, sagt Erjautz, der sich derzeit im von Geflüchteten überfüllten Warschau aufhält. Allerdings seien nicht alle Pflegeeltern bereit gewesen zu gehen. Man könne die Leute eben nicht zwingen. Erjautz’ Arbeit ist mit der geleisteten Hilfe für die eigenen Schützlinge indes längst nicht getan. Vielmehr beginnt sie jetzt erst richtig. Man will weitere Familien dabei unterstützen, aus dem Kriegsgebiet herauszukommen. Man tut, was man kann. „Wir versuchen, mehr Leuten zu helfen.“
Die Evakuierung von 100.000 Heimkindern ist eine Riesenaufgabe
Eine Riesenaufgabe wartet, die man mit anderen Organisationen schultert – gibt es doch noch geschätzt 100.000 Kinder in ukrainischen Heimen. Man profitiert davon, dass SOS-Kinderdörfer in der Ukraine im seit Jahren umkämpften Donbass bereits ein mit Kriegszuständen erfahrenes Team hatte. „Viele Strukturen waren da bereits aufgebaut“, sagt Erjautz.
Die zuvor schnelle, oft unkoordinierte Flucht wird dabei zugunsten einer kontrollierten und sicheren Begleitung der Kinder entschleunigt. „Das Risiko des Menschenhandels ist ja durchaus vorhanden“, weiß Erjautz. Herkunft und Bestimmungsort der Kinder müssen genau dokumentiert werden. Die Evakuierung von Kindern aus Heimen erfolgt auf der Grundlage gegenseitiger Vereinbarungen zwischen der ukrainischen und der polnischen Regierung.
Die polnische Regierung überprüft den rechtlichen Status aller Kinder, die dann über einen zentralen Transitpunkt in Stalowa Wala nach Polen einreisen. Drei Tage bleiben die Kinder dort, dann werden sie an auf ihre Bedürfnisse spezialisierte Einrichtungen weitergeleitet.
Kann Polen das bewältigen? „Es müssen ja nicht gleich alle 100.000 Kinder aus der Ukraine dorthin gebracht werden. Es gibt in der Ukraine ja noch halbwegs sichere Gegenden.“ Entscheiderin, was in der Ukraine passiert, sei in jedem Fall die Regierung.
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Ende Februar vor der Evakuierung: SOS-Kinderdorf-Mitarbeiter und Kinder in einem Schutzkeller in Brovary nahe Kiew.
© Quelle: SOS Kinderdorf Ukraine
Was aktuell getan wird und wurde, kann sich sehen lassen. Katerina Ilievska, SOS-Kommunikationschefin an der polnischen Grenze, nennt eine Zahl von 60.000 Binnenflüchtlingen, die (Stand 14. März) in der Ukraine durch eine SOS-Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen mit Nahrungsmitteln, Non-Food-Artikeln, Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene, Umsiedlung und Unterkünften unterstützt wurden.
Etwa 200 Familien in der jahrelang umkämpften Region Luhansk erhielten bislang via SOS-Kinderdörfer grundlegende Unterstützung in Form von Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln und Wassergutscheinen. Weitere 1000 Familien werden diese Leistungen voraussichtlich noch in dieser Woche bekommen.
Auch in die hart umkämpften Kriegsgebiete soll humanitäre Hilfe
Auch in die lebensgefährlichen Gebiete, die dauerbeschossenen und eingekesselten Städte der Ukraine, versuche man, humanitäre Hilfe für Kinder und Familien zu bringen. „Daran wird rund um die Uhr gearbeitet. Die Akteure dort sind einsatzbereit, sie warten, bis die Lage es zulässt.“ Erjautz seufzt. „Das läuft auf einer stündlichen Basis von Go und No-Go!“
Die Großherzigkeit der polnischen Bevölkerung sei ungebrochen, auch wenn es inzwischen speziell in Warschau sehr schwierig sei, Quartier zu bekommen. „Die Stadt platzt aus allen Nähten“, weiß Erjautz. Für die SOS-Mitarbeiterin Ela Janczur ist es am berührendsten, wenn polnische Mütter ihre Kinderwagen an die Grenze bringen – als Geschenke für die mit Kleinkindern ankommenden ukrainischen Mütter.
Die traumatisierten Kinder sollen nun therapeutisch begleitet werden, sie sollen möglichst bald auch wieder unbeschwert spielen können. Solange der Konflikt dauert, sagt Erjautz, werden SOS-Kinderdörfer hier unterstützen. Und auch danach – beim Wiederaufbau. Denn natürlich soll SOS-Ukraine wieder erwachen.