Übergriffe im SOS-Kinderdorf: Experte fordert Konsequenzen - „Kein völlig isolierter Einzelfall“

Der Schriftzug "SOS-Kinderdorf e.V." ist auf einem Schild am Briefkasten zu lesen.

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München. Gewalt, Grenzüberschreitungen, sexuelle Grenzverletzungen: Ausgerechnet in einem SOS Kinderdorf soll es zu schweren Übergriffen gekommen sein. Zwei Dorfmütter stehen unter Verdacht. Der Psychologe Heiner Keupp hat die Fälle untersucht - und sieht die Auseinandersetzung der Kinderdörfer mit dem Thema dabei noch am Anfang, wie er im Interview sagt.

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Herr Keupp, wie kam es zu dem Auftrag zur Aufklärung und Aufarbeitung?

Wie bei fast allen Aufarbeitungsprojekten in den letzten Jahren waren es Betroffene von Gewalt und Missbrauch, die sich an die Institution wenden, in der sie Grenzverletzungen erlebt haben und Aufklärung einfordern. So war es auch in diesem Fall, und in der Begleitgruppe des Projektes haben sie auch aktiv mitgearbeitet.

Sie haben die Fälle nun ein Jahr lang untersucht. Welche Vorwürfe werden gegen die beiden Frauen erhoben?

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Es geht vor allem um das, was man „schwarze Pädagogik“ nennt und wie sie eher in den 1960er-Jahren verbreitet war als Anfang der 2000er-Jahre. Eine Dorfmutter soll zum Beispiel einem Kind die Hausschuhe mit Klebeband an die Füße gebunden haben. Außerdem wird berichtet, dass sie das Essen, das die Kinder nicht mochten und auf dem Teller ließen, im Mixer pürierte und sie zwang, es zu trinken. Das war purer Sadismus. Die Kinder durften morgens nicht aufs Klo gehen, weil die Toilette neben dem Zimmer der Dorfmutter lag und sie nicht gestört werden wollte. Sie haben dann Bettflaschen bekommen.

Eine andere Dorfmutter soll bei Regelverstößen Kinder auf die Kellertreppe verbannt haben und in den dunklen Keller gesperrt haben. Ihr werden auch die Verletzung von Schamgrenzen vorgeworfen. Die Kinder mussten an den Wochenenden mit ihr gemeinsam duschen, jeweils zwei Jungen und dann zwei Mädchen nackt in einer engen Duschkabine, und danach mussten sie die nackte Kinderdorfmutter eincremen. Morgens - wenn sie noch im Bett lag – mussten die Kinder nackt an ihr vorbeidefilieren, damit sie sehen konnte, ob sie sich auch gut gewaschen haben. Die Schambereiche wurden besonders kontrolliert. Einem Mädchen soll sie dabei in die Brustwarzen gezwickt haben. Das sind sexuelle Übergriffe gegen die Kinder.

Haben Sie die Frauen mit den Vorwürfen konfrontiert?

Das habe ich versucht. Eine Frau war aber überhaupt nicht zu erreichen und hat auf nichts reagiert - und die andere erschien mit ihrem Anwalt zu unserem Gespräch, der mir untersagte, sie zu den Vorwürfen gegen sie zu befragen. Sie weist alle Vorwürfe zurück. Beide Mütter haben aber nun wohl mit Strafanzeigen zu rechnen, in einem Fall ist diese schon ergangen.

Wie kann so etwas in einem SOS Kinderdorf passieren?

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Die Frauen haben sich weitgehend abgeschottet und ihr ganz eigenes familiäres Innenleben aufgebaut. Sie haben auch die Unterstützung durch pädagogische und psychologische Fachkräfte, die es gegeben hätte, weitgehend verweigert. Es ist viel zu wenig nach oben weitergegeben worden an die Leitung. Hinweise auf Vorfälle, die doch weitergegeben wurden, sind nicht so bearbeitet worden, wie es notwendig gewesen wäre. Der Kinderdorfverein selbst gilt zu Recht als einer der führenden Anbieter von qualitativ guten stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Die haben gute Standards aufgestellt und eine fachlich bewährte pädagogische Abteilung. Aber der Transfer in die Praxis der Kinderdörfer, in den Alltag eines Kinderdorfes, hat nicht so funktioniert wie es sein sollte. Wir sprechen immerhin über die 2000er-Jahre und nicht über die dunklen 1960er-Jahre.

Sind das Einzelfälle?

ANTWORT: Ich bin bei meinen Recherchen auf Hinweise auf wirklich massiven Missbrauch und sexuelle Gewalt in den 1960er- und 1970er-Jahren gestoßen. Dem Verein liegen Meldungen von Betroffenen vor und es wurden auch Entschädigungszahlungen geleistet, aber es ist absolut notwendig, dass dort nochmal genauer hingeschaut wird. Es gibt Hinweise auf Suizide ehemaliger Bewohner, die mit Missbrauch im Zusammenhang stehen können. Eine wirklich systematische Aufarbeitung hat bislang nicht stattgefunden. Der Kinderdorfleiter, der in den 70er-Jahren auffällig wurde, wurde in eine andere Einrichtung versetzt und auch da gibt es inzwischen Meldungen von Betroffenen im fortgeschrittenen Alter, die als Kinder schweren Missbrauch erlebt haben. Ich spreche eine dringliche Empfehlung aus, dass hier eine nachholende Aufarbeitung zu leisten ist.

Und gibt es auch aktuellere Fälle in anderen Kinderdörfern?

Es gibt zur Zeit keine Belege, dass es in allen Kinderdörfern ähnliche Fälle gegeben hat. Aber ich weiß, dass gerade in Österreich zwei Untersuchungen laufen - eine in Kärnten und eine ist im allerersten SOS Kinderdorf in Imst geplant. Da geht es auch um ganz klare Fälle von Grenzüberschreitungen. Die Fälle in Bayern sind also ganz sicher kein völlig isolierter Einzelfall. Man wird sich da als Kinderdorfverein fragen müssen, ob man nicht doch nochmal in die Breite gehen muss. Vielleicht löst die Berichterstattung über unsere aktuelle Untersuchung ein Nachdenken in anderen Kinderdörfern aus und Betroffene fühlen sich ermutigt, ihre Geschichte von Missbrauch und Gewalt zu erzählen.

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ZUR PERSON: Heiner Keupp ist Sozialpsychologe und war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Er ist Mitglied der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Außerdem begleitete er für das Zentrum Bayern Familie und Soziales die Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) zur Situation von Heimkindern in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren. Keupp arbeitete auch den Missbrauchsskandal im katholischen Kloster Ettal wissenschaftlich auf.

RND/dpa

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