Straßensperrungen und Geld für Bürger: Wie Bielefeld gegen das Auto kämpft

Die Innenstadt von Bielefeld soll langfristig autofrei werden.

Die Innenstadt von Bielefeld soll langfristig autofrei werden.

Bielefeld. Die Pläne klingen ungewöhnlich – und für eine Großstadt in Deutschland, in der das Auto fest zum Inventar gehört, fast schon ein bisschen revolutionär: Wer in Bielefeld sein Kfz dauerhaft abmeldet, bekommt 1000 Euro von der Stadt geschenkt. Ausgegeben werden darf dieses Geld für ein nachhaltiges alternatives Verkehrsmittel – etwa für ein E-Bike, ein gebrauchtes Fahrrad oder für eine Fahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr.

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Selbst wer nicht dauerhaft aufs Auto verzichten möchte, bekommt eine Prämie: Wer sein Fahrzeug in Bielefeld mindestens drei Monate lang stehen lässt, erhält 400 Euro Zuschuss für den selben Zweck.

Zugegeben: Das Angebot richtet sich nicht an alle 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner der ostwestfälischen Stadt, sondern vorerst nur an 50. Sollten sich mehr Haushalte an der Aktion beteiligen wollen, entscheidet das Los - bislang ist noch nicht bekannt, wieviele Personen sich tatsächlich beworben haben. Aber: Die Maßnahme, Bürgerinnen und Bürgern überhaupt mit Geld Lust auf eine Autoalternative zu machen, ist dennoch eine ungewöhnliche. Und sie ist nicht die einzige.

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Das Auto soll verschwinden

Seit Mitte Juni sind große Teile der Bielefelder Innenstadt für den Autoverkehr dicht. Auf den kleinen Seitenstraßen in der Altstadt stehen nun große Verbotsschilder – hier und da herrscht Verwirrung. Dort, wo früher Kleinwagen und dicke SUVs nach Parkplätzen suchten, lärmten und stanken, ist das Auto fortan nicht mehr erlaubt – stattdessen patrouillieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes, damit die neuen Regeln auch eingehalten werden. Dort, wo früher Parkbuchten für Fahrzeuge waren, haben Gastronomen Tische und Stühle aufgebaut, man sieht Holzpaletten, auf denen Blumen stehen.

Prämien und Straßensperrungen sind Teil eines größeren Plans: Das Auto soll aus Bielefeld verschwinden, zumindest aus der Innenstadt. Also beschloss die Ratsmehrheit aus SPD, Grünen und Linken Ende Mai ein Modellprojekt: Vorerst befristet bis Februar 2022 sollen Teile der Altstadt von Bielefeld gänzlich autofrei werden, danach will man weitersehen. Die erwünschte Folge: Mehr grün, mehr Sitzmöglichkeiten in der Innenstadt, weniger Lärm und Gestank, mehr Lebensqualität.

„Der Autoverkehr ist mit einem Anteil von 50 Prozent die dominierende Verkehrsart in Bielefeld“, sagt Olaf Lewald, Leiter des Amts für Verkehr der Stadt. Dies bringe eine Reihe von Problemen mit sich, wie er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärt. Der CO₂-Ausstoß reduziere sich kaum, es sei laut, die Straßen seien in den Hauptverkehrszeiten häufig überlastet und das Auto nehme große Flächen im öffentlichen Raum weg.

Bürger haben Mitspracherecht

Es brauche also Projekte, die den Bürgerinnen und Bürgern zeigten, „wie ein lebenswerter Straßenraum gut, attraktiv und nachhaltig genutzt werden kann“. Das EU-Förderprojekt „Altstadt-Raum“ sei so eines. In den Straßen, die an die Bielefelder Fußgängerzone grenzen, solle die Aufenthaltsqualität erhöht werden, der Verkehr beruhigt und Gastronomie und Handel gleichzeitig gestärkt werden.

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Umgesetzt wurden die Pläne nicht allein durch die Stadt. Im Frühjahr wurden die Bielefelderinnen und Bielefelder selbst nach ihrer Meinung gefragt, zahlreiche Vorschläge seien eingebracht worden, sagt Lewald. Einige von ihnen würden nun im Rahmen des Projektes ausprobiert.

Bei den Bürgerinnen und Bürgern kommt die autofreie Altstadt jedoch unterschiedlich an. „Einige loben die entspannte Atmosphäre zum Bummeln und Verweilen. Andere beklagen die veränderten Verkehrsführungen für den Kfz-Verkehr und die damit verbundenen Erschwernisse bei Fahrten zum Einkaufen und zu Arztbesuchen“, resümiert Lewald die ersten Wochen.

Angst vor dem Weihnachtsgeschäft

Bei den Plänen sollen Einwohnerinnen und Einwohner auch künftig nicht außen vor bleiben: Im Herbst wolle man eine Befragung unter Passantinnen und Passanten in der Altstadt durchführen, um eine repräsentative Stimmungslage zu ermitteln.

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Ganz andere Sorgen haben derweil diejenigen, die bislang vom Autoverkehr in der Altstadt profitierten – nämlich die Einzelhändlerinnen und Einzelhändler sowie die Gastronomie. Die seien „gerade so durch die Pandemie gekommen“, wie Thomas Kunz, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Ostwestfalen-Lippe gegenüber dem RND beklagt – nun stünden sie vor dem nächsten Dilemma.

Kunz sieht gleich mehrere Knackpunkte bei den Plänen der Stadt. Zunächst einmal wäre da das Weihnachtsgeschäft. Da zahlreiche Straßen gesperrt seien, befürchtet der Handelsverband Verkehrschaos und gefrustete Autofahrerinnen und Autofahrer. Die Folge sei dann vermutlich nicht, dass sie auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen – „sondern, dass sie gleich ganz woanders hinfahren“, so Kunz. Für Bielefeld ein harter Schlag, schließlich kämen 30 Prozent der Kundinnen und Kunden von Außerhalb.

Zu wenig Park-and-ride-Plätze

Als Alternative käme da neuerdings zum Beispiel Osnabrück in Frage. Durch die kürzlich entstandene Verlängerung der Autobahn 33 sei die Stadt nun auch aus Ostwestfalen schnell zu erreichen und eine verlockende Alternative zu Bielefeld, befürchtet Kunz.

Der andere Knackpunkt: Die Alternativen zum Auto seien in Bielefeld noch nicht genügend ausgebaut. Als Beispiel nennt Kunz etwa Park-and-ride-Parkplätze, auf denen Autofahrerinnen und -fahrer ihre Wagen stehen lassen und dann mit der Bahn in die Innenstadt fahren können. Diese seien zwar vorhanden, jedoch viel zu klein und jetzt schon ständig überfüllt.

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„Es bräuchte größere Parkflächen oder Parkhäuser in den Außenbereichen, wo die Menschen ihr Auto stehen lassen können. Dann wären die Pläne realistisch. Aber diese Voraussetzungen müssen erst mal geschaffen werden. Hier macht man den zweiten Schritt vor dem ersten“, sagt Kunz.

Schlechte Anbindungen an die Großstadt

Zudem würden ab Juli weitere wichtige Zufahrtsstraßen zu Parkhäusern gesperrt, etwa die Straße Waldhof. Das mache die Reise nach Bielefeld noch komplizierter.

Und letztendlich sei die Region Ostwestfalen-Lippe von zahlreichen kleineren Städten geprägt. Die Bahnverbindungen aus diesen Städten nach Bielefeld seien jedoch häufig gewöhnungsbedürftig. Manchmal gebe es gar keine direkten Verbindungen, manchmal führen Busse und Bahnen zu selten. Viele würden daher aus Bequemlichkeit aufs Auto zurückgreifen und jetzt ausgebremst.

Der Handelsverband ist nicht der einzige, der die Pläne der Stadt kritisch sieht. Auch die Bielefelder Kaufmannschaft äußerte sich mit ähnlichen Befürchtungen. CDU und FDP im Rat plädierten dafür, die Testphase nur bis Oktober laufen zu lassen, nicht mitten im Weihnachtsgeschäft.

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Pläne auch in anderen Städten

Die Stadt Bielefeld nehme die Sorgen von Gewerbe und Gastronomie sehr ernst, wie Verkehrsamtsleiter Olaf Lewald betont. „Bisher gibt es einzelne Stimmen, die sich melden. Diese sind eher kritisch. Im September oder Oktober werden wir eine Befragung unter den Geschäftstreibenden durchführen, um eine repräsentative Stimmungslage zu ermitteln“, sagt er. Gleichwohl glaube man daran, „dass der Handel mittelfristig von den Veränderungen profitiert, die Maßnahmen die Attraktivität und damit die Anziehungskraft der Altstadt erhöhen.“

Fürs umstrittene Weihnachtsgeschäft plane man eine begleitende Kommunikationskampagne. „Wir schätzen es so ein, dass die vorhandenen Kapazitäten von Bus und Bahn sowie der Park-and-ride-Parkplätze ausreichen“, sagt Lewald. Parallel arbeite man am Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. „Wir sind der Meinung, dass Bielefeld heute schon einen guten ÖPNV hat, der aber auch in Zukunft noch deutlich ausgebaut werden wird.“

Mit seiner drastischen Abkehr vom Auto ist Bielefeld in Deutschland Vorreiter. Doch auch in anderen Städten gibt es erste Aktionen dieser Art. In der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover beispielsweise wurden Anfang Juli mehrere Straßen im Zentrum vorübergehend für Autos gesperrt. Auf sogenannten „Experimentierräumen“, auf denen einst Autos fuhren, sollen Bürgerinnen und Bürgern verschiedene Angebote wie Sport, Kunst oder Mitmachaktionen geboten werden.

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Europäische Metropolen sind Vorreiter

In der generell schon fahrradfreundlichen Stadt Münster in NRW wurde erst im Juni eine Straße zur autofreien Zone umgebaut. Über drastischere Pläne wird noch gestritten. Die Grünen wünschen sich eine komplett autofreie Innenstadt bis 2025, Parkplätze sollen verschwinden – und selbst Innenstadtparkhäuser sollen dann nur noch Anwohnern zur Verfügung stehen. Münsters CDU kritisiert die Pläne scharf.

In Köln fordern Politikerinnen und Politiker ebenfalls autofreie Zonen rund um den Dom. In Freiburg in Baden-Württemberg gibt es eine autofreie Innenstadt bereits.

Vorbild für das Bielefelder Modell war jedoch keine dieser deutschen Städte, sondern Metropolen im europäischen Ausland, wie Lewald erklärt. Als Beispiele nennt er Gent in Belgien, Wien in Österreich oder Ljubljana in Slowenien mit der riesigen Fußgängerzone und der Verkehrsberuhigung der Slovenska Cesta. Auch die Fußgängerstadt Pontevedra in Spanien nennt Lewald als beeindruckendes Beispiel.

In Bielefeld soll im Herbst eine Auswertung des Projektes stattfinden. Dann sollen weitere Vorschläge für eine Zeit nach dem Pilotprojekt erarbeitet werden. Über diese wird im Frühjahr 2022 in den politischen Gremien beraten.

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