Sehnsuchtsort Meer: Darum fahren wir immer wieder an die See

Berge muss man bezwingen. Aber am Meer lässt sich einfach sitzen. Wir können dort das tun, wozu wir das ganze Jahr über nicht kommen: nichts tun.

Berge muss man bezwingen. Aber am Meer lässt sich einfach sitzen. Wir können dort das tun, wozu wir das ganze Jahr über nicht kommen: nichts tun.

Hannover. Jetzt am Meer sein. Im kühlen, erfrischenden, allumfassenden Meer. Wie oft haben wir uns in den Hitzestunden der vergangenen Tage an den Atlantik oder den Pazifik, an die Nord- oder Ostsee gewünscht?

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Doch die Anziehungskraft der Wassermassen, die 70 Prozent der Erdoberfläche ausmachen, braucht keine 38 Grad, keine Hitze, keinen brütenden Sommer. Das Meer ist auch so – zumindest für viele Menschen, die nicht dort leben – ein immerwährender Sehnsuchtsort. Aber warum eigentlich?

Die Mehrheit der Deutschen sind Meerurlauber: 70 Prozent der Deutschen zieht es laut einer Umfrage an die See, nur 23 Prozent in die Berge. Strandstädte gleichen Hotelburgen, der Tourismus boomt. Aber woanders ist es doch auch schön – und sogar zumeist günstiger als in den Ferienorten mit Meeresblick. Trotzdem fahren mehr als zwei Drittel der Deutschen, wenn die Urlaubszeit beginnt, dahin, wo das Meer das Land zum Strand macht.

Der Sand umschmeichelt uns

Vielleicht ist es der Sand. Dieses weiche Gesteinsgebrösel, in das wir einfach erst ein Handtuch und dann uns fallen lassen können. Der Sand umschmeichelt uns, als nähme er wie ganz selbstverständlich Rücksicht auf uns, auf unser Wohlbefinden. Ein Gefühl, das sonst nur Eltern ihren Kindern geben.

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Unser Körper im warmen, weichen, weiß-gelben Untergrund. Erinnerungen werden wach an unbeschwerte Kindheitstage, in denen der Sand alles war – Ort des Tobens und des Schlafens, weicher Untergrund für Hechtsprünge beim Beachtennis und Baumaterial, um die nervigen Geschwister bis zum Kinn verschwinden zu lassen, Ort der ersten Schritte als Sandburgarchitekt und der ersten Würfe von Boulekugeln.

Der Sand als Refugium, als Hort des Ursprünglichen. Noch heute ziehen wir als allererstes am Strand die Schuhe aus, um barfuß durch den Sand zu laufen. Wo machen wir das sonst noch?

Das Element, das all unseren Sinnen gefällt

Wie alles, was uns in besonderen Situationen begeistert, wollen wir auch den Sand in unseren Alltag integrieren. Vor Jahren haben Städte, Kneipen und Cafés begonnen, Sand in Einkaufszonen, auf Parkhausdächer und in Kneipenviertel zu karren, um mit Liegestühlen und Sandhügeln eine Idee von Strand ins Urbane zu transportieren. Doch wenn nicht das Meer rauscht, sondern nur der Autoverkehr, kann ein Liegestuhl im Sand nicht mehr sein als eine Simulation von Erholung.

Der Strand kann aber nicht der alleinige Grund dafür sein, dass so viele Menschen gern ans Meer fahren. Schließlich zieht es Urlauber auch im Herbst und Winter ans Wasser. Dann sind Spaziergänger zu beobachten, wie sie in Outdoorjacken Seeluft atmen und auf die See schauen. Wasser ist das einzige Element, das all unseren Sinnen gefällt. Wir mögen es riechen, fühlen, sehen, hören, schmecken.

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Verbindendes Element: Die meisten Deutschen ziehen bei der Urlaubsplanung das Meer den Bergen vor – egal, in welchem Alter.

Verbindendes Element: Die meisten Deutschen ziehen bei der Urlaubsplanung das Meer den Bergen vor – egal, in welchem Alter.

Schauen wir also aufs Meer. Rund zwei Drittel der Erdoberfläche bestehen aus Wasser. Nicht umsonst heißt unser Himmelskörper der Blaue Planet. Wasser ist das Ursprungselement jeden Lebens. Aus ihm kam alles. Bezeichnenderweise kann man im Französischen La mer (das Meer) und La mère (die Mutter) zumindest ausgesprochen nicht unterscheiden. Das Meer ist die Mutter alles Lebendigen.

Heute leben Schätzungen zufolge rund 2,3 Millionen Tier- und Pflanzenarten im Meer. Ein Großteil ist noch gar nicht entdeckt oder wissenschaftlich beschrieben worden. Wir wissen heute mehr über die Rückseite des Mondes als über das Meer, von dem man sagt, dass erst 5 Prozent seiner Welten erforscht sind.

In der Poesie des 19. Jahrhunderts, beim „Moby Dick“-Dichter Herman Melville, klang das so: „Das Meer, dessen sanften, furchtgebietenden Wogen von einer darunter verborgenen Seele künden, birgt ein Geheimnis – aber welches?“

Das Meer schenkt uns Ruhe

All dies gibt uns eine Ahnung von seiner Urgewalt, seinem Reichtum, seiner Schönheit. Und auch wenn wir diese Zahlen und Zeilen nicht im Kopf haben, fühlen wir, was wir da vor uns haben, wenn wir aufs Meer blicken. Es scheint, als kämen wir zu unseren Ursprüngen zurück, und das entspannt uns. Anders ist es nicht zu erklären, dass uns das lärmende Meer – es ist mit bis zu 100 Dezibel mitunter lauter als vorbeifahrende Lastwagen, Motorsägen und ein Presslufthammer in zehn Metern Entfernung – beruhigt.

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Ja, das Meer schenkt uns Ruhe. Weil es nicht stresst, uns nichts abverlangt. Beim Meer gebe es zu den Bergen und anderen Destinationen einen wichtigen Unterschied, sagt die Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer. „Man hat dort die Möglichkeit zum passiven Genießen.“ Die Berge muss man bezwingen. Aber am Meer lässt sich einfach sitzen. Wir können dort das tun, wozu wir das ganze Jahr über nicht kommen: nichts tun.

Natürlich lädt das Meer zum Segeln, Tauchen, Schwimmen ein. Aber einfach nur am Strand sitzen, den Sand durch die Zehen rieseln lassen, mal wach, mal halbwach, mal dösend unterm Sonnenschirm liegen, all das gehört zum Geheimnis des Strandurlaubs dazu. Genauso wie das Schweben im Meer. Der hohe Salzgehalt lässt uns ohne viel eigenen Schwimmaufwand auf dem Wasser treiben – es ist ein Gefühl von Schwerelosigkeit.

Das Gefühl, ein Teil der Ewigkeit zu sein

Und dann zurück am Strand aufs Meer blicken. Denken, dass genau dieses Meer, egal an welchem wir gerade sitzen, schon vor Tausenden und Millionen Jahren da war. Dass unsere Existenz klein und endlich ist, das Meer aber rauscht und rauscht und immer weiter rauscht, egal was passiert. Es war schon da, als das Drehbuch der Erde den Auftritt des Menschen noch nicht einmal ansatzweise vorgesehen hat, und es wird noch da sein, wenn der Abspann der Menschheit läuft.

Das ist beruhigend und beängstigend zugleich. Diese Einsicht wirft uns auf uns zurück – was eine Wohltat sein kann. Das Meer gibt uns das Gefühl, ein Teil der Ewigkeit zu sein – manche sprechen auch vom ozeanischen Gefühl. Oder wie es in Charles Trenets Chansonklassiker „La Mer“ heißt: Das Meer hat „mein Herz beruhigt für mein ganzes Leben“.

Auf kaum einem Bild ist das Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Meer besser zu sehen als auf Caspar David Friedrichs Bild „Der Mönch am Meer“. Dort steht verloren und kaum sichtbar ein Mönch klein und allein am Strand und schaut auf die Meereswellen und den bewölkten Himmel. Was er wohl denken mag?

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„Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich: Was er wohl denken mag?

„Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich: Was er wohl denken mag?

Die Gedanken, sie werden endlich wieder frei, wenn wir am Strand liegen, am Meer sitzen. Wer stundenlang nichts tut und ihnen freien Lauf lässt, wird sich wundern, wohin dieser Bewusstseinsstrom fließt. Wir lernen uns am Meer wieder selbst besser kennen, da wir ohne Vorgaben, Verpflichtungen, Reizüberflutungen denken können. So wie wir sind. Das ist manchmal befreiend und manchmal beklemmend. Aber es sind wir, wirklich wir, dort am Meer.

Und warum wollen wir nicht mal über Muscheln nachdenken? Vielleicht sind auch sie es, die unsere Sehnsucht nach dem Meer beflügeln. Es existieren bei aller Schönheit dieser Welt kaum schönere Tiere als Muscheln. Auch wenn wir die Tiere zumeist ja nicht mehr sehen, weil sie am Strand dann schon tot sind.

Aber die Kalkschale finden wir, diese oft schön geriffelten oder glatt glänzenden und bunt verschnörkelten Exoskelette der Muscheln. Das Muschelsammeln gehört zu den zutiefst kontemplativen Handlungen am Meer. Sie ist eine dieser meertypischen Tätigkeiten, bei der man etwas macht, ohne nachdenken oder sich anstrengen zu müssen. Als flögen wir per Autopilot.

Urlaub am Meer ist ein Phänomen der Moderne

Dass die Deutschen ans Meer fahren, um ihren Urlaub dort zu verbringen, ist ein Phänomen der Moderne. Im Mittelalter und der Neuzeit galten die Ozeane und Meere noch als Ort ständiger Gefahren. Familien, die Matrosen oder Handelsleuten auf ihren Schiffen Auf Wiedersehen sagten, mussten immer damit rechnen, dass es kein Wiedersehen geben, es ein Abschied für immer sein wird.

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Und natürlich passieren auch heute noch Tragödien auf dem und im Meer. Doch all der Tod, die Schiffsunglücke, die Tsunamis können dem positiven Image des Meers nichts anhaben. Es gilt uns nicht mehr als bösartig und gefährlich.

Der heutige Tourismus wurzelt im Gesundheitswesen. Schon in der Antike wussten Ärzte, dass das Meer heilende Kräfte besitzt. Dies gilt bis heute: Das Reizklima vor allem an der Nordsee, der starke Wind, salzige Luft und schwankende Temperaturen reizen das Immunsystem des Körpers und regen es dadurch an, sich gegen Krankheiten zu wappnen. Asthmatiker können an der Küste mal wieder richtig durchatmen.

Ein simples Heilmittel gegen Meeressehnsucht

Den Gesundheitsaspekt der See hatten unter anderem die Briten, die die Erfinder des Meerestourismus sind, für sich entdeckt. Sie bauten ab 1753 das erste europäische Seebad in Brighton, das erste deutsche Seebad entstand 1793 in Heiligendamm.

Viel später setzte sich dann endgültig im 20. Jahrhundert die Idee durch, dass es ja auch ohne Zipperlein schön an der See sein kann, sodass die Fahrt ans Meer zur Haupteinnahmequelle des Tourismus wurde.

Es gibt so viele Gründe, ans Meer zu fahren. Und alle zusammen können immer noch nicht endgültig erklären, was uns immer wieder ans Blaue zieht. Sie bleibt auch immer ein Geheimnis, die See. Gegen die Meeressehnsucht aber gibt es ein simples Heilmittel: einfach losfahren. Egal wie heiß es gerade ist. Es lohnt sich immer.

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Von Kristian Teetz

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