„Dieser Krieg ist rund um die Uhr bei mir präsent“
Ira Peter ist Russlanddeutsche, Journalistin und Moderatorin beim Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“.
© Quelle: Edwin Bill
Frau Peter, wie genervt sind Sie, dass ausgerechnet im Zuge des russischen Angriffskrieges Russlanddeutsche in den öffentlichen Fokus rücken?
Ira Peter: Es wäre natürlich schöner, wenn es ein anderer, ein positiver Aufhänger wäre. Das nervt mich schon, dass es wieder ein negatives Thema ist, wie beim Fall Lisa 2016. Auf der anderen Seite sehe ich das auch als große Chance, dass man mehr über die Geschichte der Russlanddeutschen erfährt in Deutschland. Ich sehe auf der anderen Seite auch, dass, gerade wenn die Berichterstattung eher negativ ist, viele aus sich heraus kommen und motiviert sind, sich zu positionieren als Russlanddeutsche und auch öffentlich ihre Meinung zu sagen. Das war bei mir auch der Fall. Ich wäre nie in die Öffentlichkeit getreten, wenn es den Fall Lisa nicht gegeben hätte und auch nicht die Medienberichterstattung über Russlanddeutsche im Zuge der Bundestagswahl 2017.
Was hat der Fall Lisa in Ihnen ausgelöst, dass Sie sich positioniert haben?
Ich habe mich davor schon für die Kulturgeschichte der Russlanddeutschen interessiert. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, öffentlich ein Statement abzugeben, sowohl als Journalistin aber auch politisch habe ich mich ferngehalten, weil ich wirklich Respekt davor hatte. Durch die Berichterstattung über die Russlanddeutschen war ich dann aber echauffiert, weil ich mich in der Darstellung überhaupt nicht wiedergefunden habe. Es hat mich gestört, dass jahrzehntelang nichts über uns berichtet wurde, was auch okay war, weil wir uns gut integriert hatten, aber auf einmal geraten wir so negativ in die Schlagzeilen. Deswegen bin ich aktiv geworden und habe angefangen, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Solche Dinge bewegen etwas in der Gesellschaft und auch bei einzelnen Menschen, es bilden sich neue Arbeitskreise, neue Organisationen, das passiert jetzt auch und deswegen hat alles Vor- und Nachteile.
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Inwiefern beschäftigen Sie sich mit Ihrer Identität als Russlanddeutsche?
Zunächst war das ein privates Interesse, weil ich mehr über meine Herkunft erfahren wollte. Mittlerweile macht es einen Großteil meines beruflichen Lebens aus. Ich arbeite journalistisch größtenteils zu russlanddeutschen Themen. Ich habe einen Podcast zu diesem Thema und im Grunde drehen sich auch alle kulturellen Veranstaltungen, die ich als Teilnehmerin oder Rednerin besuche, rund um das Thema Migration, Integration und russlanddeutsche Migrationsgeschichte.
Sie haben Ihren Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ angesprochen. Was war ausschlaggebend dafür, diesen Podcast Ende 2020 zu starten?
Es gibt zwei Gründe, die bis heute unser Motor sind. Das eine ist, dass mein Kollege Edwin Warkentin und ich festgestellt haben, dass sehr wenig über Russlanddeutsche bekannt ist in der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Zum anderen stellen wir auch immer wieder fest, dass Russlanddeutsche selbst wenig über ihre Geschichte wissen, weil es Brüche in der Erinnerungskultur gibt. Das hat auch viel mit der Geschichte der Sowjetunion zu tun.
Im Grunde wollen wir diese zwei Zielgruppen mit unserem Podcast erreichen. Wir versuchen, ein Thema immer aus zwei Perspektiven zu beleuchten. Zum einen haben wir einen Experten oder eine Expertin zu Gast, die uns Fakten liefert. Und auf der anderen Seite füttern wir diese Fakten aus unserem persönlichen Erfahrungsschatz an, sodass die Zuhörer auch einen emotionalen Bezug aufbauen können zu dem, was sie erfahren und Geschichte begreifbarer, erlebbarer wird.
Sie haben 2021 selbst in der der Ukraine gelebt, in Odessa. Wie zerrissen sind Sie persönlich durch diesen Krieg?
Ich fühle mich nicht zerrissen durch diesen Krieg. Der Krieg macht mich sehr, sehr betroffen und sehr, sehr traurig. Das hat aber nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass ich Russlanddeutsche bin, sondern in erster Linie damit, dass ich oft in der Ukraine war und zu vielen Menschen, die dort leben, einen Bezug habe. Der Ukraine-Krieg nimmt einen großen Platz in meinem Arbeits- und Privatleben ein. Das ist auch gar nicht mehr zu trennen, weil ich teilweise Artikel über meine Freunde schreibe, auch wenn das oftmals anonymisiert ist. Dieser Krieg ist rund um die Uhr bei mir präsent.
Edwin Warkentin und Ira Peter sprechen im Podcast „Steppenkinder“ über Russlanddeutsche.
© Quelle: Edwin Bill
Haben Sie derzeit Kontakt in die Ukraine?
Ich habe täglich Kontakt zu Freunden aus der Ukraine. Ich möchte wissen, wie es ihnen geht, ob sie etwas brauchen. Mit einigen Freunden mache ich auch Projekte. Eine Freundin von mir fertigt zum Beispiel in Handarbeit kleine Engel, sie stellt 400 Stück für eine Benefizveranstaltung in München her. Mit anderen Freundinnen mache ich einen Onlinediskussionsabend. Ich moderiere und die eine Freundin ist eine Journalistin aus Odessa und wird uns zu der Lage vor Ort erzählen. Die andere Freundin, die ich interviewen werde, ist Journalistin in Moskau. Das ist eine interessante Kombination, zeigt aber auch, dass ich nicht nur mit der Ukraine verbunden bin, sondern auch mit Russland, weil auch dort Menschen leben, mit denen ich befreundet bin.
Wie erleben Sie denn gerade die russlanddeutsche Community in Bezug auf den Krieg?
In meinem Umfeld beobachte ich, dass jeder aktiv ist in der Geflüchtetenhilfe. Entweder vor Ort, dass er Menschen aufnimmt oder dass er zu Demonstrationen geht. Manche haben Arbeitskreise gegründet und überlegen, wie sie gegen Propaganda durch den Kreml vorgehen können. Im weiteren Umfeld bekomme ich aber auch mit, dass Menschen von den Ideen der russischen Propaganda infiziert sind, dass sie dem glauben, was das russische Staatsfernsehen erzählt und entsprechend negativ eingestellt sind gegenüber der Ukraine. Das ist aber die absolute Minderheit. Ich bin mir sicher, dass die absolute Mehrheit der Russlanddeutschen und Russischsprachigen in Deutschland gegen diesen Krieg ist.
Es gibt aber Menschen, die das Vorgehen Putins trotzdem nachvollziehen können, die glauben, dass der Westen sich in den letzten Jahren nicht richtig verhalten hat und Putin sich verteidigen müsse. Da sind einige Menschen dabei, die seit acht Jahren russische Staatspropaganda aufgenommen haben. Sie glauben nicht unbedingt alles, aber jede Story hinterlässt Zweifel. Sie fühlen sich in dieser Situation vielleicht gespalten und wissen nicht genau, wem sie noch glauben können.
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Seit acht Jahren, das heißt 2014 – mit der russischen Annexion der Krim. Wie hängt das zusammen?
Seit der Maidan Revolution hat die Propaganda durch die russische Regierung richtig Fahrt aufgenommen. Und diese Propaganda wurde auch hier gestreut, das russische Staatsfernsehen ist in Deutschland ja seit Anfang der 2000er-Jahre empfänglich. Der Fall Lisa ist ein Beispiel, das sagen mehrere Experten. Das war so ein kleiner Bericht im russischen Staatsfernsehen, ein tendenziöser TV-Bericht am Sonntagabend. Da war ein russischer Reporter in Hellersdorf-Marzahn und hat darüber berichtet, wie das russischsprachige Mädchen angeblich durch arabische Flüchtlinge entführt und vergewaltigt wurde.
Dieser Beitrag wurde über Whatsapp unter russischsprachigen in Deutschland geteilt und erst daraus sind Demos entstanden. Ohne diesen Bericht hätte es den Fall Lisa mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Dieser Bericht hat Klischees bedient, er hat Emotionen bedient, die man schon seit 2014 aufgebaut hatte, im Sinne von der Islamisierung des Abendlandes. Es kann gut sein, dass Russland bis dahin nicht wusste, welchen Einfluss es auf russischsprechende Menschen in Deutschland haben kann. Dass sich das Ganze später als Lüge entpuppt hat, hat das russische Staatsfernsehen nicht gejuckt. Sie wussten, dass durch Emotionalisierung gewisse Mechanismen greifen.
Mechanismen, die im Zuge der Kriegspropaganda wieder genutzt werden?
Genau das passiert seit dem 24. Februar nonstop und in viel höheren Frequenzen und mit einer ganz anderen Schlagkraft. Wir haben den Fall Lisa 2.0 – und das täglich, denn täglich gibt es Fake News und die Leute werden angestachelt, auf die Straße zu gehen. Der Fall ist in Vergessenheit geraten, obwohl diejenigen, die damals auf die Straße gegangen sind, sich dafür geschämt haben, dass sie instrumentalisiert worden sind. Und heute haben wir 2022, und man fällt erneut auf Lügen herein. Ich weiß nicht, ob die Leute aktuell reflektieren, wenn aufgeklärt wird, dass es sich um Fake News gehandelt hat, also ob sie daraus Konsequenzen ziehen und hinterfragen, wer die Quelle ist, ob etwas wahr ist oder ob sie es einfach weiter teilen.
Auf pro-russischen Demos waren Russlanddeutsche dabei, die von Russophobie in Deutschland gesprochen haben. Haben sie solch eine Ablehnung erlebt, wenn Sie in der Öffentlichkeit Russisch sprechen?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt vielleicht wenige einzelne Fälle, wo Menschen angefeindet wurden, als sie Russisch gesprochen haben. Es sind wenige Einzelfälle, die natürlich der Rede wert sind, weil man die Bevölkerung sensibilisieren muss, nicht rassistisch zu sein. Aber im derzeitigen Zusammenhang wird Russophobie von prorussischen Netzwerken als Aufhänger genutzt, um zu instrumentalisieren, um eigene Ziele zu erreichen.
Die Wahlen 2017 haben gezeigt, dass einige prorussische Menschen und Russlanddeutsche politisch der AfD nahe stehen. Wie passt das zusammen?
Das ist eigentlich völlig gegensätzlich, aber auch multidimensional. Viele Russlanddeutsche fühlen sich als Heimkehrer und nicht als Migranten, gerade die Älteren. Meine Generation spricht oft von Migrationserfahrung, ältere Russlanddeutsche würden das aber nie sagen. Sie sind nicht Ausländer, sie sind Heimkehrer. Einige fühlen sich dann von der AfD abgeholt. Auf der anderen Seite werden diese Menschen aber auch integriert in der AfD. Die AfD war 2017 die einzige Partei, die ihr Wahlprogramm ins Russische übersetzt hatte. Die AfD ist die Partei in Deutschland, die sehr eng am Kreml ist, die vom Kreml auch immer wieder eingeladen wird und im russischen Staatsfernsehen als offizielle Vertreter der Bundesrepublik dargestellt werden. Es ist sehr paradox und widersprüchlich, aber man muss trotz allem immer wieder betonen, dass über 80 Prozent der Russlanddeutschen nicht die AfD wählen.
Ist es ein Anliegen, mit dem Podcast auf Themen aufmerksam zu machen, die nicht so negativ konnotiert sind?
Der Podcast richtet sich zu einer Hälfte an die Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationsgeschichte und zur anderen an Russlanddeutschen. Der Podcast soll sie unterstützen, ihre Geschichte zu verstehen und sich in dieser Gesellschaft zu verorten. Bei beiden Zielgruppen sollen dadurch Vorurteile abgebaut werden, wir versuchen, auf ein Miteinander hinzuwirken, auf eine Gemeinschaft des Wirs. Wir bekommen von vielen jüngeren Russlanddeutschen das Feedback, dass sie durch uns viel gelernt haben und jetzt erst verstehen, warum ihre Großeltern oder ihre Eltern so sind, wie sie sind. Aber unser Podcast ist kein Imagetool. Wir wollen nicht das Image der Russlanddeutschen verbessern. Wir wollen unsere Gesellschaft stärken im Sinne der Demokratie. Wir wollen aufklären. Eigentlich wollten wir nie politisch arbeiten, aber wir können uns dem nicht mehr entziehen. Du kannst nicht apolitisch sein, wenn ein nicht gerechtfertigter Krieg in der Nähe stattfindet. Selbst als Kulturmensch musst du Positionen beziehen und kannst nicht akzeptieren, dass ein Land wie Russland ein Land wie die Ukraine angreift.
Wir sprechen von Russlanddeutschen – aber die Mehrheit der Russlanddeutschen ist gar nicht in Russland geboren oder hat eine Migrationsgeschichte mit Russland. Ist der Begriff nicht irreführend?
Der Begriff bezieht sich auf das russische Zarenreich und nicht auch die russländische Föderation. Etwas mehr als 50 Prozent der Russlanddeutschen, die als Aussiedler oder Spätaussiedler eingewandert sind in die Bundesrepublik, kamen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan. Der Rest verteilt sich größtenteils auf Russland und andere Länder Zentralasiens wie Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan.
Hat sich durch den Krieg in der Ukraine und die Reaktionen der Deutschen etwas an Ihrem Selbstverständnis als Russlanddeutsche verändert?
Nein, überhaupt nicht. Die Leute, die an Pro-Putin-Autokorsos teilgenommen haben, sind in den letzten zwei Jahren auch gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen. Das sind für mich stark radikalisierte russischsprachige und auch nicht russischsprachige Menschen. Für mich ändert sich nichts an meinem Weltbild dadurch. Ich finde es nur schade, dass Medien solchen radikalen und winzigen Gruppen, die nicht repräsentativ sind, so viel Platz einräumen. Das bewirkt Zerrbilder. Medien bilden nicht nur Realität ab, sie wirken daran mit, wie wir die Welt und unsere Gesellschaft wahrnehmen. Ich wünsche mir, dass sich mehr darauf konzentriert wird, was die Mehrheit der Russlanddeutschen macht. Und die Mehrheit ist im aktuellen Fall sehr engagiert für die Ukraine und gegen diesen Krieg.
Zur Person: Ira Peter ist 1983 in Zelinograd im heutigen Kasachstan geboren, ihre Vorfahren stammen aus Deutschland. Im Alter von neun Jahren siedelte sie mit ihrer Familie nach Deutschland um. Seit 2017 macht sie als Journalistin und Privatperson öffentlich auf russlanddeutsche Themen aufmerksam, seit November 2020 auch an der Seite von Edwin Warkentin als Moderatorin im Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“, der durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien gefördert wird. Ira Peter wurde 2022 bei den Goldenen Bloggern als Newcomerin des Jahres ausgezeichnet.