Russische Athletinnen und Athleten bei Olympia: Die Geächteten „rocken“ die Welt

Luftsprünge der Freude nach dem Olympiasieg: Die Fechterinnen Adelina Zagidulina, Marta Martjanowa, Inna Deriglasowa und Larissa Korobeinikowa in Tokio.

Luftsprünge der Freude nach dem Olympiasieg: Die Fechterinnen Adelina Zagidulina, Marta Martjanowa, Inna Deriglasowa und Larissa Korobeinikowa in Tokio.

Moskau/Tokio. Die Olympischen Spiele bieten nur alle vier Jahre die Chance auf den ganz großen Triumph. Bestimmte Geschichten können deswegen gerade nur in Tokio geschrieben werden: Als die russische Fechterin Marta Martjanowa im Finale des Mannschafts-Florettwettbewerbs einem Angriff ihrer französischen Gegnerin Pauline Ranvier ausweicht, verstaucht sie ihren Knöchel. Der Schmerz ist übermächtig, doch eine Auswechslung ist nicht möglich. Den einen Wechsel, der erlaubt ist, hatten die Russinnen bereits im Halbfinale vorgenommen: „Ich habe nur an eines gedacht”, schrieb Martjanowa später auf dem Telegram-Kanal des Russischen Olympischen Komitees (ROC): „Man darf die Mannschaft nicht im Stich lassen. Wenn ich den Kampf mit der Französin nicht fortgesetzt hätte, hätte das Team verloren.”

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Und so kämpfte die 22-Jährige nach langer Behandlungspause und großen Schmerzen nicht nur weiter, sondern steuerte in dem Duell mit ihrer erfahreneren Gegnerin, die bei den Weltmeisterschaften 2019 die Silbermedaille im Einzelwettbewerb gewonnen hatte, vier Punkte zum Gesamtsieg bei. Am Ende hieß es 45 zu 34 für die Russinnen und damit olympisches Gold.

Nicht nur die Dramatik des Wettbewerbs, bei dem der Goldtraum im Halbfinale gegen die USA fast schon geplatzt wäre, sondern auch die schönen Bilder, die die vier aufgekratzten Fechterinnen bei ihrem Siegesjubel produzierten, boten viel Stoff für die russischen Medien, von denen besonders die staatsnahen Fernsehkanäle und Zeitungen derzeit pausenlos über Olympia berichten.

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Sanktionen für Russland in Rio, Pyeongchang und jetzt in Tokio

Dass Russland offiziell gar nicht an den Spielen in Tokio teilnehmen darf, geht so in der dortigen Öffentlichkeit zumindest unter. Als eine Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) 2015 zu dem Ergebnis gekommen war, dass es in Russland von 2011 an systematisches Staatsdoping gegeben hatte, kam das Internationale Olympische Komitee (IOK) nicht umhin, das Land zu sanktionieren: 2016 durften in Rio de Janeiro nur Sportlerinnen und Sportler teilnehmen, die den Nachweis führen konnten, nicht in das russische Staatsdopingsystem involviert gewesen zu sein. Die russischen Leichtathletinnen und -athleten sowie die Gewichtheber, ob sauber oder nicht, waren in Rio komplett ausgeschlossen.

Bei den Winterspielen in Pyeongchang 2018 waren nicht gesperrte Sportlerinnen und Sportler aus Russland zwar gestattet, sie durften allerdings nur unter dem Namen „Olympische Athleten aus Russland” (OAR) antreten. Die russische Flagge und Hymne wurden ihnen verwehrt, stattdessen traten die OAR-Sportlerinnen und -Sportler unter der olympischen Flagge und Hymne an.

Symbole, die gestattet sind, fühlen sich recht russisch an

Nach einer Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS) von 2020 bleibt Russland noch für weitere zwei Jahre von Olympia ausgeschlossen, der Bann gilt also noch bis zu den Olympischen Winterspielen in Peking 2022. Doch inzwischen fällt die Ächtung gar nicht mehr so schlimm aus. In Tokio dürfen russische Athletinnen und Athleten zwar nach wie vor nicht unter der russischen Flagge und Hymne antreten, doch die Symbole, die inzwischen gestattet sind, fühlen sich doch recht russisch an: Gehisst wird nun die Flagge des Russischen Olympischen Komitees (ROC), auf der die russischen Nationalfarben weiß, blau und rot deutlich zu erkennen sind. Und gespielt wird ein Fragment von Pjotr Tschaikowskis weltbekanntem Klavierkonzert Nr. 1.

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Offiziell fühlt sich Russland noch immer zu Unrecht diskriminiert: Als Präsident Wladimir Putin die Olympiamannschaft Ende Juni empfing, bezeichnete er die Dopingvorwürfe aus dem Westen als politisch motiviert: „Die Rechte und Interessen unserer Athleten müssen vor jeder Willkür geschützt werden”, sagte der bekanntermaßen sportbegeisterte Putin, „auch vor Entscheidungen, die einzelne Länder durchsetzen, weit über ihre nationalen Vollmachten hinaus”.

Viel Zuspruch aus der russischen Heimat

Doch inzwischen stellt sich die Frage, ob die Einschränkungen, die den russischen Athleten und Athletinnen auferlegt werden, aus Sicht der russischen Regierung nicht sogar eher von Vorteil sind. Denn sie bieten dem Regime einen neuen Beleg für die These, dass Russland vom feindlichen Westen umzingelt ist, der sie pausenlos ausschlachtet. Gleichzeitig sind die Auflagen inzwischen so gering, dass sich die russischen Athleten und Athletinnen bei Olympia kaum noch stigmatisiert fühlen müssen.

Zumal der Zuspruch, den sie aus der Heimat erhalten, durch die IOK-Sanktionen eher noch angespornt zu werden scheint. Das liegt sicher auch an einer „Jetzt erst recht”-Haltung, die viele Russinnen und Russen einnehmen, weil sie permanent das Gefühl haben, vom Westen unfair behandelt und zu Unrecht an den Rand der europäischen Völkerfamilie gedrängt zu werden: „Die Ausgrenzung bei Olympia”, sagt der pensionierte Historiker Walentin Beljajew, „bestärkt uns in dem Gefühl, pausenlos als die Bösen abgestempelt zu werden”.

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„We Will Rock You! Aus Russland, mit Liebe”

Die russische Politik gibt diesem Gefühl der Ungleichbehandlung zudem sehr geschickt Futter. Als Frontfrau für die Unterstützung der heimischen Olympioniken präsentiert sich seit einer Woche Marija Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, die für ihren harschen Umgang mit der ausländischen Presse berühmt-berüchtigt ist. Sie veröffentlichte auf Instagram einen Clip, in dem sie entgegen aller Gepflogenheiten der diplomatischen Praxis mit Boxhandschuhen auf eine Gummipuppe einprügelt, auf deren Oberkörper das Wort „Presse“ prangt, bevor sie sich den Journalistinnen und Journalisten in einer Pressekonferenz zu Olympia in Tokio stellt.

Auf die Frage nach dem „neutralen Status” Russlands antwortet Sacharowa: „Der Status spielt keine Rolle. Das Wichtigste ist der Stolz, den unsere Sportler haben, und das weiß die Welt.” Zum Abschluss des Videos, das inzwischen auch als Werbespot permanent bei der TV-Berichterstattung zu Olympia eingeblendet wird, wendet sich die Diplomatin direkt an die russischen Athletinnen und Athleten in Tokio: „Wir lieben euch, wir glauben an euch, wir wünschen euch den Sieg. Und ich möchte unsere ausländischen Freunde ansprechen, und allen zusammen sagen: We Will Rock You! Aus Russland, mit Liebe.”

Der Spot wird schwarz, während im Hintergrund der Beat zu „We Will Rock You“ von Queen läuft und schließlich der Hashtag #wewillROCyou mit den Initialen des Russischen Olympischen Komitees (ROC) eingeblendet wird.

#wewillROCyou geht in sozialen Netzwerken Russlands viral

Der Slogan ging in den sozialen Netzwerken Russlands inzwischen massiv viral und wird in Graffitis über das ganze Land verbreitet – mit aufwändigen Wandbildern, die von den Behörden beauftragt und bezahlt wurden, aber auch mit wahllos an Hauswände geschmierten Hashtags, die schon ein Vandalismusproblem darstellen, wie das regierungsnahe Boulevardblatt „Moskowski Komsomolez“ beklagt.

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Das kämpferische Gebaren, das die russische Staatsmacht beim Thema Olympia nach außen hin demonstriert, ist allerdings wohl eher eine propagandistische Solidarisierungsaktion mit dem Volk und weniger der Versuch, die Dopingstigmatisierung anhaltend auf die harte Art zu kontern.

Dafür spricht, dass sich Russland hinter den Kulissen deutlich konzilianter zeigt: 2018 wurde der bis dahin amtierende ROC-Präsident Alexander Schukow durch Stanislaw Posdnjakow ersetzt. Die Personalie gilt als Zugeständnis Russlands an das IOK, weil Posdnjakow im Gegensatz zu seinem Vorgänger keine politischen Verbindungen zum Kreml unterhält. Nach außen hin betont auch der vierfache Goldmedaillengewinner im Säbelfechten, dass er den neutralen Status seiner Athletinnen und Athleten bei den Spielen in Tokio für eine unfaire Wettbewerbsverzerrung und eine Abstrafung Unschuldiger hält: „Die Nationalflagge und Nationalhymne”, sagte er der Nachrichtenagentur AFP kurz vor Eröffnung der Spiele in Tokio, „sind ein zusätzlicher Motivationsfaktor für jeden Athleten”, der den Russinnen und Russen vorenthalten werde. Zudem sei die Sanktionierung besonders den jungen Sportlern und Sportlerinnen gegenüber unfair. Ein Argument, das in Russland häufiger zu hören ist: „Sie haben nichts mit den Vorwürfen aus dem Jahr 2015 zu tun.”

Die Top drei im Medaillenspiegel als Ziel

Doch nachdem er die offizielle Position ausreichend vertreten hat, lobt Posdnjakow auch die Bedingungen, unter denen die russischen Athleten und Athletinnen in Tokio auftreten dürfen: „Das Leben besteht immer aus Kompromissen und dem Versuch, sich zu verständigen. Unsere Sportler sind zufrieden, dass sie dabei sein können.”

Als einstmals erfolgreicher Athlet sucht der 47-Jährige die Auseinandersetzung ganz offensichtlich eher im sportlichen Wettkampf als auf der politischen Bühne: „Gemessen an der Zahl unserer potenziellen Medaillengewinner”, sagte er der russischen Tageszeitung „Kommersant” zwei Tage vor Beginn der Spiele in Tokio, „rangieren wir hinter den USA und China.”

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Die Top drei im Medaillenspiegel sind das Ziel, es reicht als Motivation vielleicht sogar aus, die gegnerischen Olympioniken allen Hindernissen zum Trotz zu „rocken”. Vorerst rangiert das ROC-Team im Medaillenspiegel auf Platz fünf.

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