Qanon in Europa: Mädchen in Frankreich entführt

Eine Frau trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Qanon“.

Eine Frau trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Qanon“.

Paris. Die verlassene Spieldosenfabrik in der kleinen Schweizer Berggemeinde war das perfekte Versteck für die junge Mutter und ihre achtjährige Tochter. Lola Montemaggi hatte das Sorgerecht für Mia verloren, weil die Behörden ihrer französischen Heimat sie für labil hielten. Doch bei den rechtsextremen Verschwörungserzählern von Qanon fand Montemaggi ihren Glauben bestätigt, die Sozialarbeiter seien Teil eines Kindesentführer-Ringes. Sie halfen ihr zu tun, was sie ihrer Ansicht nach tun musste: mit Mia verschwinden.

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Die Entführung der achtjährigen Mia am 13. April gilt als das erste Verbrechen, das Verschwörungserzähler in Europa begangen haben – verstrickt in ein ähnliches Netz aus Lügen wie jenes, das im Januar Hunderte Menschen das Kapitol in Washington stürmen ließ. Der Einfluss von Qanon erstreckt sich inzwischen auf 85 Länder. Ein Teil der dazugehörigen Verschwörungsmärchen bezieht sich auf die USA, wo Qanon seinen Anfang nahm.

Deep-State-Behauptung schafft es über Grenzen

Doch die unwahre Behauptung, es gebe einen Staat im Staate, einen Deep State, der unter anderem Kindesentführungen anweise, hat es über die Grenzen geschafft. Und seit der Pandemie auch die Rhetorik der Impfgegner. Die europäische Polizeibehörde Europol hat Qanon im Juni auf ihre Liste der Bedrohungen gesetzt.

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„Wenn jemand versucht, sein Kind wiederzubekommen, und sagt, er glaubt an diese Verschwörung, gibt es mit Qanon jetzt ein Netzwerk an Unterstützern“, sagt Mia Bloom, die für ihr Buch über Qanon Kindesentführungen dokumentiert hat. Als die aufgebrachte Menschenmenge in das Kapitol in Washington eindrang, hatten die Verschwörungserzählungen von Qanon in Europa bereits Fuß gefasst, besonders in den Protesten gegen die Corona-Bestimmungen in Großbritannien und Deutschland.

Ähnlich wie Reichsbürger in Deutschland

In Frankreich verdunkelten sie die Welt von Lola Montemaggi. Sie sah ihre Regierung als illegitim an und sich selbst den Gesetzen nicht mehr verpflichtet, ähnlich wie in Deutschland die Reichsbürger. Montemaggi verkündete, sie werde all ihre Möbel verkaufen und mit ihrer Tochter untertauchen. Seit Monaten verlor sie immer mehr Gewicht und stritt so heftig mit ihrem Freund, dass ihre Familie um Mia fürchtete. Wenig später verlor Montemaggi das Sorgerecht an ihre eigene Mutter.

Etwa zu dieser Zeit begann der Name Rémy Daillet-Wiedemann in französischen Qanon-Chats auf Telegram aufzutauchen. Der frühere Politiker hielt sich im selbstgewählten Exil in Malaysia auf und fand nun wieder Gehör für seine früheren obskuren Aufrufe, Frankreichs Regierung abzusetzen, sich der „medizinischen Diktatur“ der Corona-Maßnahmen zu widersetzen und Kinder vor Pädophilen mit Verbindung zur Regierung zu schützen.

Je mehr Daillet-Wiedemanns Behauptungen mit jenen von Qanon übereinstimmten, desto größer war sein Publikum. Im Frühjahr begannen Frankreichs Anti-Terror-Ermittler damit, eine Gruppe seiner Unterstützer zu beobachten. Etwa zur gleichen Zeit riet einer von Montemaggis Telegram-Kontakten, sie solle mit ihren Sorgerechtsproblemen auf Daillet-Wiedemann zugehen. Dieser habe ein Netzwerk mit einigen Hundert Unterstützern und einem sehr viel kleineren „harten Kern“ gehabt, sagt der zuständige Staatsanwalt in Nancy, François Pérain. Daillet-Wiedemann habe einen seiner Anhänger aufgefordert, einen Plan für Mia und ein weiteres Kind zu entwerfen, und 3000 Euro für Reisekosten und Ausstattung geschickt, sagt Pérain.

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Mehrere Unterstützer bei der „Operation Lima“

Fünf Männer im Alter von 23 bis 60 Jahren kamen so für die „Operation Lima“ zusammen – ein Anagramm der Namen Lola und Mia. Ein sechster Unterstützer, ein früherer Offizier, fälschte Regierungspapiere. Am 13. April fuhr dann ein grauer Van in dem kleinen Ort Les Poulières vor.

Zwei Männer hielten Mias Großmutter offiziell aussehende Papiere unter die Nase und behaupteten, das Mädchen kurz über ihr Wohlergehen befragen zu wollen. Die Großmutter stimmte zu, und als sie ihren Fehler bemerkte, war Mia schon auf dem Weg ins Nachbardorf. Dort wartete ihre Mutter mit den anderen Männern. Sie fuhren bis an die Schweizer Grenze und wanderten dann stundenlang durch den Wald in Richtung Osten, wobei sie Mia abwechselnd trugen.

In der Schweiz angekommen, trafen sie auf ein weiteres Mitglied des Netzwerks. Er brachte sie allerdings nicht, wie erwartet, in einen sicheren Unterschlupf, sondern in ein Hotel. Am folgenden Tag hatten die französischen Anti-Terror-Ermittler den Van bereits auf genau jene Unterstützer von Daillet-Wiedemann zurückverfolgen können, die sie bereits beobachteten. Die meisten von ihnen wurden wenig später in Frankreich festgenommen.

Pérain: „Aus Verschwörungserzählungen wurden sehr konkrete Taten“

Keiner von ihnen stritt ab, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein, vielmehr waren sie überzeugt, es habe sich eigentlich um die Rückgabe des Kindes gehandelt. „Aus Verschwörungserzählungen wurden sehr konkrete Taten, und jene, die daran beteiligt waren, haben nicht unbedingt begriffen, dass sie auf der falschen Seite des Gesetzes stehen“, sagt Pérain.

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Am 15. April wurden Montemaggi und ihre Tochter in die stillgelegte Spieldosenfabrik gebracht. Es gab keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine Betten. Drei Nächte dauerte es, bis die Ermittler die beiden fanden. Die Mutter kam wegen Entführung in Untersuchungshaft, Mia kehrte zu ihrer Großmutter zurück. Daillet-Wiedemann sitzt inzwischen ebenfalls in Haft, nachdem Malaysia ihn im Mai ausgewiesen hatte. Ihm wird die organisierte Entführung eines Kindes vorgeworfen. Am ersten Verhandlungstag erklärte Daillet-Wiedemann, er sei Präsidentschaftskandidat. Montemaggi kam am Montag frei. Ihre Familie und ihr Anwalt hatten darauf beharrt, dass sie für ihre Tochter keine Gefahr mehr darstelle.

RND/AP

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