Lebensrettung bei Katastrophen

Triage im Erdbebengebiet: „Man muss hart bleiben“

Zelte der Afad, der türkischen Katastrophenschutzbehörde: Ein Mann steht neben Zelten in einem Zeltlager, das für Überlebende errichtet wurde. Mit 50.000 Toten durch die Erdstöße rechnen de Vereinten Nationen, von etwa 70.000 Verletzten ist bisher die Rede. Nach den verheerenden Beben wurden Verletzte nach dem Triagekonzept eingestuft. Foto: Emrah Gurel/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Zelte der Afad, der türkischen Katastrophenschutzbehörde: Ein Mann steht neben Zelten in einem Zeltlager, das für Überlebende errichtet wurde. Mit 50.000 Toten durch die Erdstöße rechnen de Vereinten Nationen, von etwa 70.000 Verletzten ist bisher die Rede. Nach den verheerenden Beben wurden Verletzte nach dem Triagekonzept eingestuft. Foto: Emrah Gurel/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Artikel anhören • 16 Minuten

Herr Ringe, in der Türkei und in Syrien rechnen die UN den jüngsten Schätzungen zufolge mit mehr als 50.000 Toten, die Angaben über die vermutete Zahl von Verletzten schwankt, derzeit ist die Rede von ungefähr 70.000. Und man hört immer wieder, dass Ärzte, um eine Katastrophe solchen Ausmaßes organisatorisch in den Griff zu bekommen, die Triage anwenden. Was versteht man darunter und wann kommt sie zu Anwendung?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Angewandt wird die Triage bei einer sogenannten Massenanfall-von-Verletzten-Situation oder MANV. Es gibt dafür regional definierte Kennzahlen, die MANV-Stufen. Geht die Verletztenzahl beispielsweise bis 100, sind richtig viele Einsatzkräfte gefordert. Liegt sie jenseits der 200 – andere nennen 500 als Zahl –, sprechen wir von einer Katastrophe. Die wird dadurch definiert, dass sie allein mit regionalen Mitteln nicht mehr bewältigt werden kann. Auch wir sind dann auf überörtliche Hilfe angewiesen.

Was in der Türkei und Syrien zweifelsohne der Fall war und ist. Da braucht es sogar ein internationales Miteinander.

Ein Großschadensereignis wie jetzt in der Türkei und in Syrien ist immer eine absolute medizinische und organisatorische Herausforderung. Es fehlt an Informationen, die Kommunikation bricht zusammen, Sie brauchen Führungsstrukturen, die gibt es im Chaos vor Ort aber oft noch nicht. Alles ist dynamisch, man handelt unter Zeitdruck. Zu klären ist möglichst schnell: Wie viele Patienten gibt es? Wie viele Helfer sind da? Was können wir mit dem Material, das vorhanden ist, leisten? Was fehlt? – Oft fehlt viel! Es gibt für Ärzte und Helferteams immer eine Diskrepanz zwischen dem Wollen und dem Können.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Dennoch geht die Versorgung der Verletzten sofort los.

Und dafür gibt es in einem Katastrophengebiet die „Triage“. Bei uns nannte man dieses Vorgehen lange Zeit „Sichtung“, weil das französische Wort „trier“ – „aussortieren“ – in Deutschland durch den Nationalsozialismus negativ konnotiert war. Inzwischen ist der Begriff auch bei uns zugelassen, international wird er zu 100 Prozent verwendet, alle verstehen sofort, was bei Triage ansteht. Und „Sichtung“ trifft es ja letztlich auch nicht ganz.

Obwohl man ja „sichtet“, wer wie schlimm verletzt ist.

Triagieren heißt Priorisieren. Die Behandlungsdringlichkeit muss stark reduziert werden, bevor dann später eine vollständige Diagnose gestellt wird. Dazu werden die Patienten kategorisiert.

Das klingt sehr geordnet. Aber an einem solchen Ort herrscht keine Ordnung.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Das stimmt, die muss erst geschaffen werden. Im März 2004 gab es in Madrid diese Zugbombenanschläge mit zahlreichen Toten und 1800 Verletzten. Die meisten der Patienten sind damals chaotisch durch die Gegend gelaufen, der Rettungsdienst hat nur so um die 400 davon gesehen und registriert. Die anderen 1400 haben sich ihren Weg selbst gesucht. Auch damit sind Sie in einer solchen Ausnahmesituation konfrontiert – gerade bei so unglaublich hohen Verletztenzahlen. Auch bei einem Erdbeben bleibt ja keiner sitzen und wartet, bis Sie als Notarzt vorbeikommen, ihm ein Band in einer bestimmten Farbe umlegen und ihm erklären, wann er wie behandelt wird.

Kategorien werden bei der Triage durch Farben ersichtlich?

Genau. Patienten der Sichtungskategorie 1 oder auch „rote Patienten“ sind vital bedroht und brauchen sofort eine Behandlung – höchste Dringlichkeit. Die zweite Stufe sind die „gelben Patienten“, ebenfalls schwer verletzt, aber nicht lebensbedrohlich. Ein grünes Band erhalten die leichtverletzten Patienten – oft ist das ungefähr die Hälfte der Betroffenen, die sich an einem solchen Ort aufhalten. Sichtungskategorie 4 sind die „blauen Patienten“, deren Situation hoffnungslos ist, die eine palliativmedizinische Versorgung benötigen. Die fünfte Gruppe sind die Toten, die schwarze Bänder bekommen. In Hannover haben wir den Farben noch arabische Zahlen von eins bis vier und die internationalen taktischen Zeichen zugeordnet – damit auch Nichtmediziner die Situation der Patienten erfassen. Die Raute steht für den Menschen oder Patienten. Ist ein Pfeil dabei, heißt das, er muss transportiert werden. Ist ein Kreuz in der Raute, ist der Betreffende tot.

Welche Bänder werden da verwendet?

Wir benutzen rote und gelbe Bänder aus dem Forstbetrieb für die Vorsichtung, ein Endlosband, das normalerweise dazu benutzt wird, Bäume zu markieren. Die haben wir in der Tasche, man reißt dann ein Stück ab und macht einen Knoten um den Arm des Betreffenden.

Das muss im Ernstfall ja alles sehr schnell gehen und deshalb muss der- oder diejenige, der oder die an einem Unglücks- oder Katastrophenort Patienten kategorisiert, in solche Situationen erfahren sein. Wie bekommt man diese Erfahrung – kann man die Triage im Training erlernen?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wir haben in Hannover ein Sichtungs- und Vorsichtungssystem in der Anwendung, wenden unsere Hannover-Checkliste von Symptomen an, die wir eigens aufgestellt haben und machen einmal im Jahr ein großes Training mit Stadt und Region, mit der Berufsfeuerwehr und den Notfalldiensten und auch den Krankenhäusern. Wir simulieren mit Riesenaufwand einen MANV mit bis zu 60 Verletztendarstellern, die dafür richtig geschminkt werden. Und dann wird alles immer wieder in verschiedenen Szenarien durchgespielt. Der eintreffende Notarzt verschafft sich auch da den Überblick, bittet all die Patientendarsteller, die sich bewegen können, an einen Sammelpunkt – kein Band. Das sind ja zunächst einmal die gehfähigen Patienten, die Dringlichkeit ist nicht ganz so hoch. Die Gehfähigen werden dann im Verlauf gesichtet und weiter kategorisiert. Wer hat nur eine Platzwunde am Kopf, die zwar schlimm blutet, aber noch Zeit hat oder eine Amputationsverletzung, bei der die Blutung steht beziehungsweise schnell zum Stillstand gebracht wurde? Und wer muss schnell ins Krankenhaus, weil er sonst stirbt? Die Toten sind erst einmal, so hart das klingt, irrelevant. Einen Totenschein auszustellen hat keine Priorität. In solchen Trainings lernt man die Vorgehensweise für den Ernstfall. Auf einiges kann man sich vorbereiten, vieles entwickelt sich aber häufig erst vor Ort: Leben in der Lage.

Gibt es für Triage auch digitale Übungsmöglichkeiten?

Wir haben vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit dem DRK tatsächlich eine virtuelle Realität entwickelt, in der wir – in zwei verschiedenen Szenarien – Großschadenslagen trainieren. Mit Controller und VR-Brille geht man durch diese Situationen, stuft Patienten ein und versorgt sie. Da haben wir schon zahllose Notärzte, Notfallsanitäter und Rettungsassistenten in Kursen durchgeschickt.

Die Krankenhäuser sind ins Triagetraining mit eingebunden?

Die werden einbezogen. Das große System an Krankenhäusern ist ein Vorteil, den wir im Westen haben. Die Triage dient letztlich dazu, festzustellen, wer „zuerst“ in die Krankenhäuser transportiert werden muss und wer nicht. Und es bedarf – hier kommt das nächste Problem – auch des Überblicks, wie die „roten Patienten“ auf verschiedene Häuser verteilt werden. Würden alle Verletzten eines großen Unglücks beispielsweise in die MHH verbracht werden, könnten wir dort dicht machen. In Niedersachsen nutzen wir diesbezüglich zusätzlich noch das Ivena-System zur präzisen Echtzeitzuweisung von Patienten, auch im Falle eines MANV oder eines Großschadensereignisses.

Im Erdbebengebiet sieht das alles anders aus.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Im Erdbebengebiet ist die Triage im Grunde vom Ablauf her identisch mit dem bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn oder unserer Trainingssituation. Aber die unglaubliche Fläche dort ist nicht mehr durch eine einzige Einsatzstelle abdeckbar. Die Triage wird dort an vielen Stellen durchgeführt. Jeder Notarzt, jedes Helferteam hat einen Abschnitt, für den er oder es zuständig ist, und man ist dort für Wochen unterwegs. Krankenhäuser sind entweder selbst beschädigt oder über zerstörte Verkehrswege nicht erreichbar. Häufig ist die Infrastruktur so zerstört, dass zunächst technische Mittel zum temporären Wiederaufbau der kritischen Infrastrukturen eingesetzt werden müssen. Banale Dinge wie die Sicherstellung der Wasserversorgung stehen im Vordergrund. Es werden Behelfsunterkünfte, Zeltplanen, irgendetwas halbwegs Geschütztes aufgestellt, wo man die Menschen versorgen kann. Die Medizin wird in diesem Fall zu den Menschen gebracht. Man muss sich auch schnell um die zahllosen Toten kümmern. Sonst bekommt man noch ganz andere Probleme.

Wie sicher ist die richtige Triagierung eines Patienten?

In Hannover besteht das Sichtungskonzept aus zwei Phasen. Die sogenannte Vorsichtung kann bei uns in Stadt und Region jeder machen, der die entsprechenden Trainings absolviert hat. Es kann ein Arzt oder eine Ärztin sein, der oder die die Farbe vergibt, ein Notfallsanitäter oder eine Feuerwehrkraft. Theoretisch könnte das auch die Polizei sein. In Phase zwei aber, dem Sichtungsablauf, muss es ein Arzt sein. Denn jetzt werden die Schnelldiagnosen im zweiten Gang mit noch mehr Wissen fundiert, werden medizinische Entscheidungen getroffen. Die Entwicklung ist dynamisch, ein Patient, der bei der Vorsichtung gelb war, kann rot werden und umgekehrt. Ein Gehfähiger, der ein grünes Band hat, aber plötzlich am Rettungswagen umkippt, geht wieder auf null und wird neu eingestuft. Patienten können ständig neu reevaluiert werden. Sie werden nicht mit einer Farbzuweisung ihrem Schicksal überlassen, sondern permanent betreut.

Wer gibt den Ton am Katastrophenort an?

Die medizinische Struktur zu schaffen im Chaos ist in Deutschland die Aufgabe des Leitenden Notarztes (LNA). Der organisiert den Raum, schafft den Versorgungsplatz für rote und den für gelbe Patienten. Sobald verfügbar, werden diese ärztlich oder mit einem Notfallsanitäter besetzt, damit alle vor Ort kontinuierlich richtig medizinisch versorgt werden. Bis sie dann ins Krankenhaus kommen. Alleine schafft das der LNA natürlich nicht, an seiner Seite steht der Organisatorische Leiter der Feuerwehr und ist verantwortlich für alle technischen Aspekte der Lage. Gemeinsam koordinieren sie das Team und haben jeder den eigenen Aufgaben- und Verantwortungsbereich. Die beiden stehen permanent im Kontakt miteinander, sprechen sich eng ab. In der Türkei gibt es ein funktionierendes Desastermanagement der Türken. Die ausländischen Helfer sind die Gäste, ordnen sich unter, organisieren ihren Bereich, haben Verbindungsleute und Dolmetscher. Hierarchische Strukturen sind nötig – sonst funktioniert ein solcher Einsatz nicht. Aber es sagt ihnen niemand, wie sie zum Beispiel die Patienten in ihrem Bereich zu operieren haben.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Mit welchen Verletzungen muss man in einem Erdbebengebiet rechnen?

Mit Quetschverletzungen, Rissverletzungen, Amputationen, schwersten Kopfverletzungen, vielen stumpfen Verletzungen – dem kompletten traumatischen Spektrum. Bei diesen Temperaturen gibt es natürlich auch Unterkühlung und Erfrierungen. Viele Verletzte sind stunden-, tagelang unter Trümmern eingeklemmt und können aus ihrer Lage nicht befreit werden. Diese Menschen sind dehydriert.

Geht man dann als Notarzt oder Sanitäter auch mal ins Risiko und begibt sich in die Nähe von Verschütteten, um zu triagieren und zu helfen?

Nein. Es gilt immer der Selbstschutz – das lehren wir auch unsere Notärzte. Dafür sind die ja auch gar nicht ausgebildet – in ein brennendes oder einsturzgefährdetes Haus zu gehen. Haben wir beispielsweise eine Amoksituation, ist die Polizei dafür ausgebildet, den Amokschützen dingfest zu machen. Obwohl ich eine taktisch-medizinische Notfallausbildung habe, ist es nicht vorgesehen, unter Beschuss Verletzungen zu versorgen. Die Patienten müssen dann zu mir herausgebracht werden. Und so ist das auch in der Erdbebensituation. Wenn den Helfern geholfen werden muss, wird erstmal niemandem mehr geholfen.

Wie erträgt man als Helfer solches Chaos, Leid und Not? Wie bewältigt man die Schreckensbilder des Gesehenen und Erlebten?

Zunächst: In dieses Krisengebiet Türkei und Syrien gehört niemand hin, der keine Ahnung von Massenanfallsituationen hat, der nicht krisenfest ist, der nicht zu einer professionellen Organisation gehört und darin ausgebildet ist, in solchen Situationen zu handeln. Viele sind zurzeit unglaublich motiviert. Kollegen von mir, vor allem türkische Mitarbeiter, wollen dorthin, selbst tätig werden. Die meisten normalen Mediziner wären aber überfordert. Man muss das an Profis übergeben. Für diese Profis gibt es dann auch – absolut notwendig – die psychosoziale Notfallversorgung. Solche Kräfte sind in Deutschland auch gleich an der Großunglücksstelle, von der Leitstelle wird die Krisenintervention gleich mitalarmiert. Und diese Leute, erkennbar an ihren Westen, helfen den Einsatzkräften, stehen aber auch den Angehörigen von Schwerverletzten oder Toten zur Seite.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Das Stream-Team

Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. – jeden Monat neu.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Wie kommen Sie persönlich mit diesen Einsätzen zurecht?

Ich bin Chirurg, arbeite in der Transplantationsmedizin, ich habe also sowieso viel mit Toten zu tun, und auch das Sterben gehört hier dazu. Und als Notfallmediziner kann es schon sein, dass ich zu einem Unfall komme, und der Tote ist jemand, den man kennt. Es gibt aber auch Positives, Dinge über die man sich freuen kann. Ich hatte einmal einen Einsatz mit einem ertrunkenen Kind, das wir zurückbekommen haben. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder, das ist ein Gegengewicht. Und wenn mir mal wirklich etwas nachgeht – etwa, wenn ein Kind tot ist, das im Alter meiner Kinder ist – dann gehe ich damit zu meiner Frau, die auch Ärztin, Mikrobiologin, ist, und dann rede ich. Aber in der Regel kann ich das abstellen und kann weitermachen. Und ich muss ja auch weitermachen.

Verbessert die Triage die Überlebenschancen von Katastrophenopfern?

Unbedingt. Wenn man ganz rigoros nach dem Motto „treat first, what kills first“ („Behandle zuerst das, was zuerst tötet“, d. Red.) vorgeht. Wenn wir es schaffen, uns an dieses Konzept zu halten, an das checklistenhafte Durchgehen, dann können wir deutlich mehr Menschen, möglichst viele Menschen retten. Da muss man jedoch hart bleiben. Denn das heißt auch, dass ich an einen Menschen, der zwar jetzt gerade noch mit mir redet, dessen Verletzung aber nicht mit dem Leben vereinbar ist, und der mir in den nächsten zehn Minuten versterben wird, keine medizinische oder personelle Ressourcen verschwenden darf. Diese Person braucht dann vielleicht nur noch TLC – „Tender loving care“ – jemanden, der mit tröstlicher Zuwendung bei ihm sitzt und ihn nicht alleine lässt.

Bastian Ringe.

Bastian Ringe.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Dr. Bastian Ringe ist Chirurg an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Leitender Notarzt der Stadt Hannover. Gemeinsam mit Professor Andreas Flemming leitet er an der MHH die Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfallmedizin. Ringe ist in taktischer Notfallmedizin und Expeditionsmedizin ausgebildet

Mehr aus Panorama

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Top Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken