Als ein Zeitungsleser die Loveparade-Katastrophe voraussagte
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Bei der Massenpanik auf der Duisburger Loveparade kamen 21 Menschen ums Leben. (Archiv)
© Quelle: Erik Wiffers/dpa
Duisburg. Es gibt Katastrophen, die lassen einen kalt – und solche, die treffen dich persönlich. Die Tragödie bei der Loveparade in Duisburg mit 21 Toten ist so eine. Auch heute, zehn Jahre später frage ich mich: Wie konnte man all die Warnzeichen ignorieren? Denn sie waren da, und das sehr offensichtlich.
Loveparade-Katastrophe: "Der zehnte Jahrestag ist besonders schwer"
Hinterbliebene und Betroffene haben dem Unglück mit einer "Nacht der Lichter" gedacht.
© Quelle: Reuters
Im Juli 2010 wohne ich im Ruhrgebiet, nur 30 Autominuten vom Unglücksort entfernt. Ich kenne das Gelände und ich kenne die Loveparade. Und es gibt nur einen Grund, warum ich an diesem 24. Juli nicht vor Ort bin: Auf der letzten Loveparade war es zu voll.
Schon Dortmund platzt aus allen Nähten
Zwei Jahre zuvor, am 19. Juli 2008, überlaufen bereits Hunderttausende Partygäste die Stadt Dortmund. Was während der Parade noch nicht so auffällt, macht sich auf dem Heimweg umso bemerkbarer. Die Straßen versinken im Chaos, Menschen springen über Polizeiabsperrungen, drängen sich ins Dortmunder Bahnhofsgebäude, um möglichst schnell hier weg zu kommen. An dem Tag ensteht dieses Foto:
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Voll war es auch schon bei der Loveparade 2008: Menschen stehen dicht gedrängt vor und im Dortmunder Hauptbahnhof. (Archivbild)
© Quelle: Matthias Schwarzer
Stundenlang stehen meine Freunde und ich inmitten von Menschen im Gebäude des Dortmunder Hauptbahnhofs, bis wir entscheiden: Diese erste Loveparade wird auch unsere letzte sein. Das Ruhrgebiet ist nicht dafür gemacht.
Und tatsächlich, so sieht das auch die Stadt Bochum. Die Stadt sagt die für 2009 geplante Fortsetzung der Veranstaltung ab. Hauptgrund sei die mangelnde Kapazität des Hauptbahnhofs. Man habe nicht die Voraussetzung, den Ansturm von mehreren Hunderttausend Besuchern zu bewältigen.
Zeitungsartikel stellt Sicherheitskonzept infrage
Duisburg ist da optimistischer. Nach einem Jahr Pause findet die Loveparade auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs statt. Es ist das Jahr, in dem das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt ist. Alle sind mächtig stolz auf ihr Revier, nur wenige Tage zuvor wird für das Projekt “Stillleben” die komplette A40 lahmgelegt – Hunderttausende kommen.
Auf dem Portal “DerWesten” erscheint am 20. Juli ein inzwischen historisches Zeitdokument – ein Artikel mit dem Titel “Loveparade wird zum Tanz auf dem Drahtseil”. Vor allem junge Menschen würden diesem nächsten “Ruhr2010″-Event entgegenfiebern, heißt es in dem Text – ehe der Autor über die organisatorischen Herausforderungen schreibt und sich die anbahnende Katastrophe bereits abzeichnet.
“In Duisburg werden deutlich mehr Raver erwartet, als auf das Güterbahnhofsgelände passen“, heißt es in dem Artikel. “400.000 bis 500.000 Menschen” könnten sich zeitgleich auf der abgesperrten Partyfläche mit 230.000 Quadratmetern aufhalten, wird der Veranstalter zitiert. “Die konkrete Zahl aus der Genehmigung der Stadt für die Loveparade wollte man aus einsatztaktischen Gründen nicht nennen.”
Erst sehr viel später wird klar, warum man zu dieser Zeit über die Besucherzahlen schweigt: Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine Genehmigung der Stadt für die Loveparade. Erst einen Tag später genehmigt ein untergeordneter Mitarbeiter im Bauamt die Sondernutzung des Güterbahnhofs. Dabei wird auf zwei dürren Seiten das Baurecht außer Kraft gesetzt.
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“Nicht mit Flip-Flops auf die Loveparade”
Auch ein Polizeisprecher wird in dem Artikel zitiert: “Wir werden genau beobachten, wie voll es ist, und dann gemeinsam mit dem Veranstalter entscheiden, wann der Zugang gesperrt wird.” Zum Thema Besucherkapazitäten wolle auch er sich nicht äußern.
Umso bitterer klingen im Nachhinein die weiteren Absätze: “Die Organisatoren gaben sich am Dienstag allerdings sehr optimistisch, dass es kein Chaos geben werde”, heißt es da etwa. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass der Zugang während der zehnstündigen Veranstaltung kurzzeitig gesperrt werden müsse, aber davon gehe man nicht aus. “Und wenn der Fall doch eintritt, dann haben wir ganz unterschiedliche Maßnahmen, mit denen wir das problemlos steuern können”, verspricht der Sicherheitsdezernent.
Der Artikel endet mit einem Tipp für alle Partygäste: Sie sollen das Event bitte mit festen Schuhen besuchen, nicht mit Flip-Flops. Kaputte Füße – zu dieser Zeit die einzige echte Befürchtung der Veranstalter.
Leser sagt Katastrophe voraus
Zwei Tage später, am 22. Juli 2010, kommentiert ein Leser mit dem Nickname „klotsche“ den Artikel. Was er schreibt, lässt einem heute kalte Schauer über den Rücken laufen.
„sehe ich das richtig, dass die versuchen 1 million menschen über die 1-spurige! TUNNELSTRAßE! Karl-Lehr-Straße mit zwischendurch 2 kleinen trampelpfaden hoch zum veranstaltungsgelände zu führen?“, heißt es in dem Kommentar. “Also in meinen augen is das ne falle. das kann doch nie und nimmer gut gehen. wer in essen und dortmund dabei war weiß, wie groß das gedränge schon auf recht weitläufigen zugangswegen war. das war ne katastrophe und die wollen ernsthaft den zugang über nen einspurigen TUNNEL leiten? ich fass es nicht!!!! ich seh schon tote wenn nach der abschlußkundgebung alle auf einmal über diese mickrige straße das gelände verlassen wollen.“
Wer „klotsche“ ist, ist bis heute nicht bekannt. Sein Kommentar ist auch nicht mehr auf dem Portal zu finden. Seit einem Relaunch gibt es auf „DerWesten.de“ keinen Kommentarbereich mehr - es existieren jedoch Screenshots. Nachtrag: Hier kommentiert der Leser bereits im Juni im selben Wortlaut. Der Kommentar (7. Juni 2010, 13.30 Uhr) ist dort weiterhin zu finden.
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Ein Nutzer auf dem Portal "DerWesten" sagt die Loveparade-Katastrophe voraus.
© Quelle: Screenshot
Pocher moderiert, Besucher ahnen nichts
Am 24. Juli findet das Event schließlich statt. Ich schaue es aus sicherer Entfernung im Livestream. Es gibt zwei Übertragungen: Eine vom WDR, eine von “Bild”. Eine Chronologie der Ereignisse ist noch heute auf Twitter zu finden. Nichtsahnend rege ich mich da unter anderem über die kommerzielle Ausschlachtung der Veranstaltung zu McFit-Werbezwecken auf:
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Für den “Bild”-Livestream moderiert an diesem Tag Oliver Pocher. Wer ihn verfolgt, bekommt lange Zeit nichts von der sich anbahnenden Katastrophe mit. Auf den Bildern im Livestream ist allerdings zu sehen, wie voll es auf dem Gelände bereits ist. Im WDR wird gegen 17 Uhr von ersten “Platzproblemen” gesprochen:
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Was weder ich noch die Besucher ahnen: Um 17 Uhr sind mehrere Besucher der Loveparade bereits tot. Der Druck auf die Treppe am Karl-Lehr-Tunnel wird so groß, dass mehrere Menschen regelrecht zerquetscht werden. Auf Bildern aus dieser Zeit ist zu sehen, wie Menschen einen großen Lichtmasten hochklettern, andere sich gegenseitig eine Treppe hochziehen.
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Besucher der Loveparade versuchen andere die Treppe hochzuziehen.
© Quelle: picture alliance / dpa
Gegen 18 Uhr erfährt die Öffentlichkeit von dem Unglück. Der WDR berichtet von zehn Toten nach einer Massenpanik:
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21 Tote, 541 Verletzte
Die Zahl der Toten steigt in den folgenden Tagen auf 21. Die Obduktion ergibt, dass sie an “massiver Brustkompression” starben. 541 Menschen werden an der Rampe der Karl-Lehr-Straße schwer verletzt. Der Selbsthilfeverein LoPa-2010 gibt später bekannt, dass mindestens sechs Überlebende der Katastrophe wegen seelischer Belastungen Suizid begingen.
Der Veranstalter der Loveparade gibt nur wenige Tage später die komplette Einstellung des Events bekannt, das seit 1989 existiert. Verantwortlich für das Unglück will allerdings niemand sein. Es beginnt ein Mammutprozess gegen die Verantwortlichen, der zehn Jahre später ohne Ergebnis zu Ende geht.
Angehörige kämpfen bis heute
Damit haben nun die Angehörigen der Opfer zu kämpfen. Als im vergangenen Jahr erstmals eine Einstellung des Loveparade-Prozesses diskutiert wird, gibt eine Mutter aus Bielefeld der “Neuen Westfälischen” ein Interview. Sie sagt: “Ich fühle mich lustlos. Kindergeschrei und laute, volle Straßen ertrage ich nicht mehr. Nur in meinem Auto fühle ich mich in unbekannten Gegenden wohl. Arbeiten kann ich leider auch nicht mehr.” Ihre Tochter Marie-Anjelina stand im zweiten Lehrjahr zur Bäckerin. Im Alter von 19 Jahren starb sie auf der Loveparade.
Vom Tod ihrer Tochter erfuhr die Frau damals aus dem Fernsehen. Dort habe sie gesehen, wie Marie-Anjelina abtransportiert wurde. Ihre Todesnachricht sei ein Schock gewesen, an die Ereignisse danach erinnere sie sich kaum noch.
Der Prozess ist inzwischen tatsächlich eingestellt. Und viele der 42 traumatisierten Nebenkläger blieben auf ihren Gerichtskosten sitzen. Adolf Sauerland, seinerzeit Oberbürgermeister von Duisburg, gibt in diesen Tagen fleißig Interviews. Eine Mitschuld an dem Loveparade-Unglück weist der Ex-OB nach wie vor zurück.
Was bleibt, sind Wut und Frust
Diese Zeilen zu schreiben, erfüllt auch mich zehn Jahre später noch mit Trauer und Wut. Ohne bei dem Event gewesen zu sein, ohne eins der Opfer zu kennen. Es sind diese 21 jungen Menschen, die nichts weiter wollten als einen schönen Nachmittag zu verbringen – totgetrampelt, nichtsahnend, in welche eine Tragödie sie schlittern würden. Es ist die Verbindung zur Region, die Gewissheit, dass auch meine Freunde und ich an diesem Tag dort hätten sein können.
Es ist die Verbindung zur elektronischen Musik und zur Parade, die seit meiner Kindheit existiert. Damals, als das Event noch aus Berlin von VIVA und RTL 2 übertragen wird, und ich mit der festen Überzeugung vor dem Fernseher sitze: Wenn du groß bist, gehst du da auch mal hin.
Es ist dieser Ärger über die Ausschlachtung des Events von einem Fitnessstudio-Boss und einer Stadt, die einfach nicht nein sagen konnte. Der Ärger darüber, dass sie eine Kultveranstaltung für Profit zu Grabe getragen haben. Und dass die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Loveparade-Tragödie trifft in diesem Juli 2010 nicht nur die Musikszene und die historische Loveparade, sie trifft auch das Ruhrgebiet mitten ins Herz. Man wollte zu viel an diesem Tag. 21 Tote, wegen Leichtsinn und Übermut. Man hätte all das sehen können. Die Warnzeichen waren da. „klotsche“ hat all das vorausgesagt.