LGBT-Diskriminierung: Es ist Pride Month und niemand merkt’s

Die Regenbogenfahne ist das Symbol der LGBT-Bewegung.

Die Regenbogenfahne ist das Symbol der LGBT-Bewegung.

Hannover/Berlin. Normalerweise wären die Straßen bunt in diesem Sommer. Von Berlin bis Bielefeld, überall sähe man die Regenbogenfahnen, die Dragqueens auf den Wagen, die glücklichen Pärchen in den Bars und Diskotheken.

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In diesem Jahr ist das anders. Vom Pride Month, in dem traditionell jedes Jahr im Juni die LGBT-Community für ihre Rechte einsteht, ist nichts zu sehen. CSDs wurden abgesagt, queere Clubs sind bis heute geschlossen. Immerhin: Vereinzelt hissen Städte vor ihren Rathäusern die Regenbogenfahnen.

Der Grund liegt auf der Hand: Noch immer macht die Corona-Pandemie Großveranstaltungen einen Strich durch die Rechnung, CSDs wie etwa der in Köln oder Berlin wurden schon im Frühjahr frühzeitig abgesagt oder ins Internet verlagert, Bars dürfen nur im reduzierten Umfang öffnen. Für die queere Community eine Katastrophe, und das seit Monaten.

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Wichtige Rückzugsorte geschlossen

“Gerade die Bars und Clubs sind für viele Schwule und Lesben essenzielle Rückzugsorte”, erklärt Steve Hildebrandt vom Berliner Verein “Liebe wen Du willst” im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Hier gingen auch Menschen hin, die aus Angst vor Diskriminierung bislang “ungeoutet” seien. “Hier haben sie die Möglichkeit, ganz sie selbst zu sein. Hier ist man unter sich." Dass sich in Bars inzwischen wieder zwei “Haushalte” treffen dürften, mache die Sache nicht viel besser.

Auf diese und andere Problematiken hinzuweisen ist derzeit äußerst schwierig – denn das Thema LGBT-Diskriminierung scheint ausgerechnet im Pride Month Juni völlig vom Radar verschwunden. Das sichtbarste Event der Community, der Christopher Street Day in Köln, fällt in diesem Sommer aus. Eigentlich hätte der CSD ab dem 20. Juni stattfinden sollen – neuer Termin ist nun der 9. Oktober. Ob es tatsächlich zu diesem Datum kommt, bleibt fraglich.

Auch in Zürich und in Wien fällt der CSD aus. Bis zum Juni 2021 ist die Veranstaltung ersatzlos gestrichen. Das Berliner Pendant soll in diesem Jahr derweil ausschließlich digital stattfinden. Dazu seien mehrere Livestreams geplant samt Bühnenprogramm mit Acts und politischen Statements. Wer zu Hause ein Laufband habe, könne auch “gern mitlaufen”, heißt es auf der Website des Berliner CSD.

CSD: Der Pride Month und seine leeren Straßen
Christopher Street Day findet nicht wie gewohnt statt.

Noch immer macht die Corona-Pandemie Großveranstaltungen einen Strich durch die Rechnung. Auch der CSD kann dieses Jahr nicht wie gewohnt stattfinden.

“Sichtbar sind wir nur auf der Straße”

Nicht zuletzt in der Community selbst sorgt dieses Konzept für Kritik. Der schwule Aktivist Johannes Kram kritisierte schon im April: “So ein Blödsinn. Ja, man kann eine Cola-Marke auch im Internet inszenieren. Aber man kann keine Cola im Internet trinken.” Ein digitaler CSD sei kein CSD, so Kram. “Er ist so ziemlich das Gegenteil davon.”

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Auch Steven Hildebrandt ist vom digitalen CSD nicht sonderlich angetan: “Ich weiß nicht, ob das was bringt”, so der Vereinsvorsitzende. Zwar würde die Community sicherlich den Livestream verfolgen – wirklich sichtbar für jedermann sei man aber nur draußen auf der Straße.

Queere Aktivisten haben inzwischen auf die Kritik reagiert: Sie kündigten eine alternative Demo für den 27. Juni in Berlin an. Diese soll unter dem Motto "Pride Berlin: Save our Community, Save our Pride“ stattfinden. Über die genauen Pläne, Teilnehmerzahlen und den Verlauf der Strecke ist bislang nichts bekannt.

Parallelen zur #BlackLivesMatter-Bewegung

Das Thema des Pride Month ist derweil aktueller denn je: Der Aktionsmonat der LGBT-Bewegung geht zurück auf den 28. Juni 1969. Damals stürmten in Manhattan Polizisten die LGBT-Bar Stonewall Inn in der Christopher Street und lösten einen mehrtägigen Aufstand von Schwulen, Lesben und Transsexuellen gegen Polizeigewalt und -willkür aus.

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Das Ereignis gilt bis heute als Wendepunkt im Umgang mit der LGBT-Community. In den Sechzigerjahren war es in den USA immer wieder zu gewalttätigen Razzien in Schwulenlokalen gekommen. Dabei wurde die Identität der Besucher festgestellt und bisweilen sogar in der Presse öffentlich gemacht. Es kam zu gewaltsamen Verhaftungen und Anklagen wegen “anstößigen Verhaltens“.

Die Ereignisse führten damals zu einer breiten Solidarisierung im New Yorker Schwulenviertel. Über Tage hinweg leisteten die Betroffenen den Polizeitruppen erfolgreich Widerstand – erst Tage später beruhigte sich die Situation.

“Die Demonstrationen sehen viele kritisch”

Heute blickt die Community mit kritischem Blick auf die aktuellen Demonstrationen auf den Straßen. “Dort demonstrieren Menschen dicht an dicht gedrängt gegen Rassismus”, so Hildebrandt. Das sei zwar ein tolles Zeichen – “allerdings fragen wir uns, warum unsere Veranstaltungen dann alle abgesagt wurden. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.”

Diskriminierung betreffe nämlich auch andere Gruppen, bemerkt Hildebrandt. Sein Verein erlebe das tagtäglich hautnah: “Liebe wen Du willst” unterstützt Betroffene von Homophobie und erstattet Strafanzeige bei den entsprechenden Stellen. Die Diskriminierung von Schwulen und Lesben habe in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen – online wie offline.

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Das belegen auch offizielle Zahlen des Bundesinnenministeriums: Wurden im Jahr 2013 noch 50 Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI) gezählt, waren es 2018 bereits 97.

Queere Menschen leiden besonders unter Corona-Einschränkungen

Unlängst haben zudem Studien ergeben, dass LGBT-Personen ganz besonders unter der Corona-Krise leiden. Eine Untersuchung der britischen LGBT Foundation besagt, dass Schwule und Lesben eher von sozialer Isolation betroffen sind – ein Faktor, der durch geschlossene Rückzugsorte und fehlende Treffen mit Gleichgesinnten noch verstärkt wird.

Aufgrund von Diskriminierungserfahrungen leiden LGBT-Personen zudem häufiger unter psychischen Problemen. Gerade in der Hochphase des Corona-Lockdowns ein massives Problem: Tägliche Routinen fielen weg, Hilfsangebote waren nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr geöffnet.

Nicht zuletzt der Faktor häusliche Gewalt betreffe viele queere Menschen, wie die LGBT-Foundation in ihrer Studie auflistet. Darunter fielen vor allem junge Menschen, die während des Lockdowns mit ihren homophoben oder transphoben Familienmitgliedern auf engstem Raum zusammenleben mussten.

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Die Gesundheit geht vor

Zudem befürchtet die queere Community eine Zerstörung ihrer mühsam aufgebauten Infrastruktur: Können Clubs auch in absehbarer Zeit nicht öffnen, droht eine beispiellose Pleitewelle. Da helfen dann auch Spenden nichts mehr.

All das wären Punkte, auf die man nun im Pride Month Juni hinweisen könnte. Doch auch Hildebrandt weiß: “Die Gesundheit geht vor.” In seinem Verein seien auch viele Krankenpfleger und Ärzte aktiv, die bestätigen: Es sei schlicht unvernünftig, jetzt in Massen auf die Straßen zu gehen.

Vielmehr appelliert Hildebrandt an jeden Einzelnen: Wer Homophobie im Alltag oder im Netz erlebe, solle nicht schweigen. “Es ist wichtig, dass diese Leute Gegenwind bekommen – dass sie merken, dass die Mehrheit zusammensteht.” Nur so könne man das Problem Homophobie langfristig bekämpfen. Auch dann, wenn es momentan nicht so sichtbar ist, wie es eigentlich sein sollte.

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