Henry Kissinger wird 100: zwischen Lichtgestalt und überschätztem Realpolitiker
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Henry Kissinger beim New Economy Forum in Singapur im Jahr 2018.
© Quelle: imago images/Xinhua
Er ist das letzte der großen Alphatiere eines längst vergangenen Jahrhunderts. Vor allem in Deutschland vertraut man Henry Kissinger, dem „Jahrhundertdenker“. Der Mann mit den wachen Augen, dem dichten weißen Haar, der Walrossstimme, dessen Deutsch einen amerikanischen Akzent und dessen Englisch noch immer einen deutschen Akzent hat, wird am 27. Mai 100 Jahre alt.
„Man weiß immer, wann irgendetwas Scheußliches passiert ist, weil dann Mr. Kissinger auf dem Bildschirm erscheint und mit seinem liebenswerten Brummen erläutert, wie es hätte vermieden werden können“, schrieb ein Kolumnist der „New York Times“.
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Umstrittene Äußerungen zu Putin
So auch, als Russlands Präsident Wladimir Putin die Ukraine mit Krieg überzog. Wieder war Kissinger-Zeit: „Die Verhandlungen müssen in den nächsten zwei Monaten beginnen“, forderte der ehemalige US-Außenminister vor genau einem Jahr in Davos.
Verhandeln mit dem Aggressor, territoriale Zugeständnisse? Aussagen wie jüngst in der Zeit „Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt“, führten dazu, dass alle mal wieder über Kissinger redeten.
„Da ist sich Kissinger treu geblieben, er drängt in die Medien“, ist der Historiker und Amerikanist Bernd Greiner überzeugt, Autor des Buches „Henry Kissinger. Wächter des Imperiums“. Vor Donald Trumps Wahl warb Kissinger dafür, den späteren Präsidenten an seinen Taten zu messen. Als Präsident traf Kissinger Trump mehrfach, unterstützte beispielsweise dessen harten Kurs gegenüber Peking und dessen Verständnis für Putin. Den Irak-Krieg 2003 fand er notwendig – selbst noch, als Amerika bereits mehrheitlich von einem Fehler sprach.
Es gab in Washington ein ungeschriebenes Gesetz: Nie wieder Kissinger. Für ihn war das eine schwere Kränkung.
Bernd Greiner,
Kissinger-Biograph
„Es gibt den Pensionär Henry Kissinger, der sich seit seinem Ausscheiden aus dem Amt 1977 mit Büchern, Aufsätzen und Medienauftritten dauerhaft im Gespräch hält“, so Greiner zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Kissinger schien stets darunter zu leiden, dass er nicht wieder in eine hohe Funktion berufen wurde – anders als seine ehemaligen Mitstreiter aus den Tagen republikanischer Herrschaft in den 70er Jahren, also zum Beispiel George Shultz, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Caspar Weinberger und Alexander Haig. „Doch es gab in Washington ein ungeschriebenes Gesetz: Nie wieder Kissinger. Für ihn war das eine schwere Kränkung“, so Greiner.
Henry Kissinger: Im Kontrast zu „Tricky Dick“ Nixon
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Henry Kissinger (damals US-Außenminister) am Rande des Finales der Fußballweltmeisterschaft 1974 in München.
© Quelle: imago/WEREK
Sich selbst preist Henry Kissinger gern als Lichtgestalt im Kontrast zu seinem Chef, dem Skandalpräsidenten Richard „Tricky Dick“ Nixon, der 1974 nach Lügen im Watergate-Skandal zurücktreten musste. Vielen gilt Kissinger als wirkmächtiger Stratege, der Amerikas Ausstieg aus dem Vietnamkrieg in die Wege leitete, zudem die Annäherung der USA an China, später die Entspannungspolitik mit dem Ostblock, die ersten Abrüstungsverträge. „Das sind Zuschreibungen, die ich nicht nachvollziehen kann“, gibt der Historiker Greiner zu bedenken.
Kissinger ging es nicht um genuine Entspannung, sondern darum, den Kalten Krieg nach neuen, nach amerikanischen Regeln zu spielen.
Bernd Greiner,
Historiker
„Kissinger ging es nicht um genuine Entspannung, sondern darum, den Kalten Krieg nach neuen, nach amerikanischen Regeln zu spielen. Die Annäherung an China erfolgte, um die Sowjets unter Druck zu setzen. Und gleichzeitig sollte ein verbessertes Verhältnis zu Moskau die Einkreisungsängste in Peking schüren. Diese Dreiecksdiplomatie zielte in erster Linie darauf ab, nach dem Debakel in Vietnam die USA global wieder in die Poleposition zu bringen“, so Greiner. „Und was die Rüstungskontrolle anbetrifft, so haben Nixon und Kissinger auf diesem Gebiet kaum mehr erreicht als vorherige Regierungen unter John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson.“
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Spätestens seit dem Buch „Die Akte Kissinger“ (engl. The Trial of Henry Kissinger) des britisch-amerikanischen Journalisten Christopher Hitchens 2001 ist Kissingers Denkmal in den USA beschädigt. Beschrieben werden im Buch Kriegsverbrechen und verdeckte illegale Operationen, für die Kissinger als Sicherheitsberater und Außenminister verantwortlich oder mitverantwortlich gewesen sein soll.
Aufgezählt werden unter anderem die Ausdehnung der Flächenbombardements in Vietnam sowie die massiven Luftangriffe auf das bis dato neutrale Kambodscha, zudem Kissingers Rolle in Vorbereitung des Militärputsches 1973 in Chile. Hitchens bezichtigt den Republikaner schwerer Straftaten wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verstöße gegen das Völkerrecht, Verschwörung zum Mord und ähnliches.
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Die beiden damaligen Chefunterhändler Henry Kissinger (USA, rechts) und Le Duc Tho (Nordvietnam) bei den Friedensverhandlungen Anfang 1973 in Paris.
© Quelle: UPI/dpa
Verantworten musste sich Kissinger nie. Dass ausgerechnet er 1973 gemeinsam mit seinen nordvietnamesischen Verhandlungspartner Lê Đức Thọ den Friedensnobelpreis bekam, klingt da wie Hohn. Greiner hält Kissinger vor allem für überschätzt, was seine politische Bilanz, als auch seine Konzeptionen betrifft.
Nixon war der Koch, Kissinger der Kellner
„Man sollte nie vergessen: Präsident Nixon war der Koch, Kissinger lediglich Kellner. Alle relevanten Dokumente besagen, dass die entscheidenden Impulse stets von Nixon kamen. Kissinger teilte diese Vorgaben, aber er hat sie nicht erfunden, sondern wie ein guter Chefsekretär befolgt. Und als solcher hat er auch Kriegsverbrechen zu verantworten, etwa das verheerende Flächenbombardement in Kambodscha“, so der Historiker.
„Kissinger als Impulsgeber für eine Entspannung mit dem Warschauer Pakt zu sehen, geht vollends an der Realität vorbei. Diesbezüglich kamen die entscheidenden Initiativen aus Europa, vor allem von Willy Brandt, aber auch vom Schweden Olof Palme oder dem Österreicher Bruno Kreisky. Nixon und Kissinger sind auf diesen fahrenden Zug aufgesprungen, um die USA im Spiel zu halten“, sagt Greiner.
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Dass Kissinger als „Jahrhundertdenker“ vor allem in Deutschland verehrt wird, hat vor allem mit einem zu tun, der mit ähnlichen Umschreibungen gefeiert wurde: Helmut Schmidt. Den Ex-Kanzler und den Ex-Außenminister verband bis ins hohe Alter hinein nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine Brüderschaft im Geiste.
„Was beide verband, war ein geteiltes Verständnis von Realpolitik. Dass kluge Außenpolitik also primär von Interessen geleitet wird, nicht von moralischen Erwägungen. Zudem waren sie überzeugt, dass eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder kontraproduktiv ist. Beide warnten immer wieder vor moralischer Überhöhung und Selbstgerechtigkeit. Wobei Helmut Schmidt das ethische Fundament von Außenpolitik nie aus dem Blick verlor. Kissinger war eher Machiavellist und dem Grundsatz verpflichtet, dass der Zweck die Mittel heiligt“, ist Greiner überzeugt.
Kissinger als Projektionsfläche
Dass Kissinger im Land seiner Geburt eine so hohe Sympathie genießt, liegt laut Greiner auch daran, dass er für viele Deutsche eine „Projektionsfläche“ ist. Soll heißen: Für die einen erinnert sein Erfolg an den Verlust, den Deutschland mit der Vertreibung der Juden sich selbst zugefügt hat. Andere rechnen es ihm hoch an, dass er Deutschland gegenüber nie Rachegefühle erkennen ließ – obwohl 30 Familienangehörige ins Gas geschickt wurden.
Er verkörpert die Hoffnung auf amerikanische Selbstheilungskräfte.
Bernd Greiner,
Historiker
Kissinger ist ein Symbol für die deutsch-amerikanische Freundschaft. „Und die“, so Greiner, „steht immer auch für Nachsicht gegenüber den deutschen Jahrhundertverbrechen.“ Davon abgesehen bildete die vermeintliche Lichtgestalt Kissinger einen willkommenen Kontrast zum Dunkelmann Nixon. „Er verkörpert die Hoffnung auf amerikanische Selbstheilungskräfte.“
Henry Kissinger: Geboren im dramatischen Jahr 1923
Wie ein Brennglas bündelt Kissingers Vita die politischen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts. Als Henry Alfred Kissinger am 27. Mai 1923 in Fürth als Sohn eines jüdischen Gymnasiallehrers geboren wurde, regierte in Berlin ein gewisser Wilhelm Cuno als parteiloser Reichskanzler – ein Kilo Brot kostete knapp 500 Mark, die Inflation nahm gerade Fahrt auf, weil französische und belgische Truppen seit Januar das Ruhrgebiet, die wirtschaftliche Herzkammer der Weimarer Republik, besetzten.
Der im Reich noch weithin unbekannte Vorsitzende einer rechtsradikalen Splitterpartei unternahm im November 1923 den dilettantischen Versuch, die bayerische Landesregierung wegzuputschen – ein Unterfangen, das im Kugelhagel der Polizei scheiterte und die Putschisten hinter Gitter brachte, was den Aufstieg jenes Adolf Hitler aber erst richtig beflügelte.
Hitler war dann 15 Jahre später auch der Grund, dass die Familie Kissinger 1938 ihre fränkische Heimat verlassen und nach Amerika fliehen musste, wo der talentierte Junge, der fortan den Alfred aus seinem Namen strich, Philosophie und Geschichte studierte – Auftakt für eine sagenhafte Karriere. Mitgenommen aus Deutschland hatte der junge Henry seine deutsche Prononcierung, die er bis heute nicht abgelegt hat – und seine Vorliebe für historische Machtpolitiker wie Bismarck und Metternich.
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Richard Nixon (Mitte), wegen seiner Skrupellosigkeit „Tricky Dick“ genannt, wurde 1969 Präsident und Kissinger sein Sicherheitsberater.
© Quelle: UPI/dpa
Unter US-Präsident Richard Nixon wurde Kissinger offizieller Berater für Außen- und Sicherheitspolitik, später Außenminister. Das blieb er auch unter Gerald Ford, der nach Nixons Sturz 1974 als einziger Präsident der US-Geschichte regierte, ohne jemals gewählt worden zu sein. Mit der Wahlniederlage der Republikaner 1976 endete Kissingers politische Karriere früh.
Dass er von späteren republikanischen Präsidenten wie Ronald Reagan oder den Bushs nicht in ein Amt geholt wurde, empfand er als Kränkung, die er „therapierte“, in dem er fortan als Orakel aktiv wurde, das kaum einem ihm hingehaltenen Mikrofon widerstehen konnte. Nur Fragen nach seinen dunklen Stunden – denen wich er bis heute erfolgreich stets aus.