Das Hamburger „Pimmelgate“ erklärt: Chronologie einer Realsatire
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Ein Plakat in Hamburg sorgt für ein kurioses Katz-und-Maus-Spiel zwischen Aktivisten und der Polizei.
© Quelle: imago images/Hanno Bode
Hamburg. Alles beginnt mit einem harmlosen Tweet – und endet schließlich in einem kuriosen Malwettbewerb zwischen linksautonomen Aktivisten und der Hamburger Polizei. Über das Hamburger Pimmelgate spricht inzwischen nicht nur die Hansestadt, sondern das gesamte Land. Aber: Was hat es mit der Lokalposse eigentlich auf sich? Und wie hat alles begonnen? Die Chronologie einer Realsatire.
Der Hintergrund
Andy Grote (SPD) ist seit 2016 Innen- und Sportsenator der Stadt Hamburg. Die politische Karriere des heute 53-Jährigen verläuft weitestgehend unspektakulär, wenn man von einem Vorfall im Dezember 2019 einmal absieht. Da attackieren mehrere Maskierte Grotes Auto mit Steinen und Farbbeuteln, während dieser von einem Personenschützer chauffiert wird. Auch die Scheibe eines unbeteiligten Verkehrsteilnehmers geht zu Bruch. Der Staatsschutz leitet Ermittlungen ein.
Ein paar Monate später, im Juni 2020 sorgt der Innensenator dann selbst für Schlagzeilen. Grote feiert inmitten der Corona-Pandemie in einem Club in der Hafencity eine private Party – trotz geltender Beschränkungen und Verbote. Grund ist Grotes Amtsbestätigung. In der Hamburger Politik löst der Fall Unmut aus: CDU, Linke und AfD fordern den sofortigen Rücktritt des Innensenators, dieser betont jedoch, die Corona-Regeln eingehalten zu haben. Die Feier sei ein „dummer Fehler“ gewesen, Grote entschuldigt sich.
Die zuständige Bußgeldstelle stellt später fest, dass Grote mit seinem Stehempfang durchaus die geltende Corona-Eindämmungsverordnung missachtet habe. Gegen den 53-Jährigen wird ein Bußgeld von 1000 Euro verhängt. Grote bezahlt zwar das Geld, einer Rücktrittsforderung kommt der Innensenator jedoch nicht nach. Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher lässt Grote im Amt.
Grote selbst sieht sich derweil nicht nur mit heftiger Kritik aus der Politik und dem Internet konfrontiert – der Politiker wird auch Opfer eines ganz realen Angriffs. Unbekannte verüben im Juni 2020 einmal mehr eine Attacke auf das Auto des Politikers, genauer gesagt auf das seiner Frau. Am Kleinwagen von Catherine Grote, der in St. Pauli parkte, seien alle Autoreifen zerstochen worden, teilt die Polizei mit. Die Beamten vermuten einen politisch motivierten Anschlag.
Der verhängnisvolle Tweet
Knapp ein Jahr später scheint der Fall fast vergessen, da wird Grote ein Tweet zum Verhängnis. Am 30. Mai 2021 kritisiert der Innensenator feiernde Partygänger im Hamburger Schanzenviertel. Die Party ist keine gewöhnliche: Tausende Menschen versammeln sich trotz Corona-Verordnungen am Schulterblatt, feiern zu Technomusik, klettern auf Straßenschilder und fahrende Autos. Als die Polizei das Viertel räumen will, kommt es zu Flaschenwürfen.
„In der #Schanze feiert die Ignoranz!“, twittert Grote daraufhin. „Manch einer kann es wohl nicht abwarten, dass wir alle wieder in den Lockdown müssen …“ Die Party sei eine „dämliche Aktion“, so der Senator weiter. „Danke @PolizeiHamburg, die wieder einmal den Kopf hinhalten, damit die Pandemie nicht aus dem Ruder läuft.“
Party? Dumme Aktion? Bei Twitter-Nutzerinnen und -Nutzern springen schnell die Alarmglocken an, sie erinnern sich an den Fall vor einem Jahr. „Hilf mir mal jemand. Es gab da einen Hamburger Politiker, der es mit dem Feiern nicht abwarten konnte. Weiß jemand noch, wer das war?“, schreibt beispielsweise ein Nutzer spöttisch unter den Tweet. „Darf ich lösen? Meine Antwort lautet #Partyandy“, antwortet ein anderer.
Der Twitter-Account @Pauli_Zoo, laut eigener Biografie Betreiber einer „nicht sonderlich erfolgreichen Kneipe“ in St. Pauli („Antifaschistisch und durstlöschend since 2014“), kommentiert die Doppelmoral des Politikers mit fünf einfachen Worten: „Du bist so 1 Pimmel.“ Es ist die Geburtsstunde des #Pimmelgate.
Die Durchsuchung
Weitere drei Monate und viele Corona-Partys später, erscheint auf dem Twitter-Account von @Pauli_Zoo ein neuer Tweet. In diesem behauptet der Nutzer nun, die Polizei habe am Morgen seine Wohnung durchsucht. Der Grund: Der Pimmel-Tweet im Mai.
„Heute morgen um 6.00 gab es eine Hausdurchsuchung. 6 Beamt*innen in der Wohnung. Gesucht wurde das Gerät, mit dem ‚du bist so 1 Pimmel‘ unter einen Tweet von Andy Grote geschrieben wurde“, schreibt @Pauli_Zoo und beklagt: „Sie wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland.“ Laut einem Bericht der „Welt“ stellen die Beamten mehrere elektronische Geräte des Mannes sicher.
Ab diesem Zeitpunkt steht Twitter nicht mehr still. Zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer kritisieren die Polizeiaktion als unverhältnismäßig. Der „taz“ erklärt der Betreiber des Twitter-Accounts später, er habe zuvor schon eine Vorladung der Polizei bekommen, der er auch gefolgt sei. Er habe zugegeben, dass er den Account „Zoo St. Pauli“ betreibe. „Es ist unerklärlich, warum ein so schwerwiegender Eingriff möglich war, obwohl die Urheberschaft des Tweets bereits geklärt war“, kritisiert der Linken-Innenexperte Deniz Celik. Das Wort #Pimmelgate steigt erstmals in die Trends des Kurznachrichtendienstes auf.
Laut „Welt“ kam es nach dem beleidigenden Tweet vom 30. Mai zu einer Strafanzeige, jedoch nicht vom Innensenator selbst, sondern von einem Polizisten. Erst nachdem die Polizei an Grote herangetreten sei, habe dieser einen Strafantrag gestellt, die Ermittlungen wurden aufgenommen. Im Zuge dieser Ermittlungen sei der Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Twitter-Nutzers vom Amtsgericht Hamburg genehmigt worden.
Tatbestand Beleidung reicht für Hausdurchsuchung
Laut Staatsanwaltschaft reiche das Wort „Pimmel“, um den Tatbestand der Beleidigung zu erfüllen. Durchsuchungen nach Beleidigungen im Internet seien in Hamburg nicht unüblich. 2021 sei bereits eine mittlere zweistellige Zahl von entsprechenden Beschlüssen erlassen worden.
Grote selbst rechtfertigt die Durchsuchung so: „Als Politiker oder politisch Aktiver wird man ständig mit Beleidigungen und Häme im Netz konfrontiert. Ich rate immer allen dazu, Anzeige zu erstatten, damit das auch verfolgt werden kann“, so der Senator gegenüber dem NDR. Genau das habe er getan. In diesem Zusammenhang gebe es auch häufiger Hausdurchsuchungen. Eine Sonderbehandlung will der Innensenator nicht erkennen. Sein aktueller Fall sei vielleicht nicht der schwerwiegendste. Ziel müsse es aber sein, dass sich niemand beleidigen lassen muss und alle respektvoll miteinander umgehen.
Die Nachwirkungen
Zur Ruhe kommt der Fall auch mehrere Wochen nach Bekanntwerden nicht – denn der Protest gegen den umstrittenen Polizeieinsatz hat sich längst aus dem Internet auf die Straßen verlagert.
Im Oktober 2021 leitet der Staatsschutz der Hamburger Polizei neue Ermittlungen ein. Immer wieder werden gelbe Aufkleber mit der Aufschrift „Andy, du bist so 1 Pimmel“ in der Nähe von Grotes Wohnung im Stadtteil St. Pauli entdeckt. Die Aufkleber seien im Sinne der Gefahrenabwehr entfernt worden, teilt die Polizei später mit – wegen des erneuten Verdachts der Beleidigung sowie zur Beweissicherung für mögliche Strafverfahren.
Genau das sorgt wiederum für Spott und Häme in den sozialen Netzwerken. Immer wieder kratzen die Beamten die Aufkleber ab, immer wieder werden neue geklebt – an allen möglichen Stellen.
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Weiß auf Schwarz steht der Satz „Andy du bist so 1 Pimmel“ auf einer Wand der Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel.
© Quelle: imago images/foto-leipzig.de
Am Wochenende erscheint dann auf der Wand des linksautonomen Zentrums Rote Flora ein riesiges Plakat mit dem inzwischen vertrauten Spruch: „Andy, du bist so 1 Pimmel.“ Die Freude wehrt nicht lange: Kurze Zeit später wird das Plakat übermalt – von der Polizei. Kurz darauf sprühen Aktivisten den Schriftzug wieder auf dieselbe Stelle, ehe er wieder entfernt wird. Gleich mehrere Male geht das so, bis die Polizei schließlich aufgibt. Man werde das Plakat künftig nicht mehr übermalen, so eine Sprecherin gegenüber der dpa.
Derweil sorgt das Pimmelgate in Hamburg für einen echten Kreativschub. An einem Briefkasten beispielsweise ist der Sticker eines rosa Penis zu sehen, der das Gesicht von Andy Grote trägt. Andernorts finden sich Aufkleber mit Sprüchen wie „Die Polizei ist so 1 Pimmelaufkleberabkratzer“. Inzwischen gibt es sogar Merchandise mit dem Totenkopflogo von St. Pauli und dem Spruch „Andy, du bist so 1 Pimmel“. Das Satiremagazin „Extra 3“ erklärte die Hansestadt kurzerhand zur „Freien und Pimmelstadt Hamburg“. Auf dem Stadtwappen sind statt drei Türmen nun drei Penisse zu sehen.
Und jetzt?
Das Aufgeben der Polizei beendet zumindest das Katz-und-Maus-Spiel in Hamburg vorerst. Aus dem Umfeld des Senators selbst heißt es laut dpa, Grote sei froh, dass der „Kinderkram“ jetzt endlich ein Ende habe und die Polizei sich nicht mehr damit beschäftigen müsse.
Auch juristisch gegen die Beleidigungen vorgehen wolle er nicht mehr. Der Innensenator hatte der Staatsanwaltschaft kürzlich signalisiert, dass er nicht gewillt sei, bei jeder neuen Beleidigung dieser Art einen Strafantrag zu stellen. Daher könne die Polizei auf eine Anzeige in diesen Fällen verzichten, sagte die Sprecherin.
Unklar ist bislang, ob der Fall noch politische Konsequenzen nach sich zieht. Wie der „SHZ“ berichtet, fordern Teile der Hamburger CDU erneut den Rücktritt des Innensenators.
RND