Grönland – die Insel der Kontraste

Zwei Nationalitäten, zwei Kulturen, zwei Kontinente

Die rund 56.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die auf Grönland leben, fühlen sich oft zerrissen.

Die rund 56.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die auf Grönland leben, fühlen sich oft zerrissen.

Es gibt diese Geschichten über Grönland und den aufgezwungenen Fortschritt, den Dänemark in den 1950er-Jahren forcierte, indem Wohnblöcke aufgezogen wurden. Die Menschen, die bis dahin in Hütten und kleinen Holzhäusern lebten, konnten damit wenig anfangen. „Die Leute haben die Seehunde einfach in der Wohnung zerlegt, wie sie es vorher auch gemacht hatten“, erzählt Karen Buus, die bei einem lokalen Fluganbieter in Ilulissat arbeitet. „Sie haben nicht bedacht, was das für Wohnung und Nachbarn bedeutet.“ So floss Blut durch die Decken, hinein in andere Wohnungen.

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Die Wohnblöcke entstanden in den 1950er-Jahren auf Wunsch Dänemarks und heben sich von den Holzhäusern in Ilulissat deutlich ab.

Die Wohnblöcke entstanden in den 1950er-Jahren auf Wunsch Dänemarks und heben sich von den Holzhäusern in Ilulissat deutlich ab.

Seit Jahrhunderten wird Grönland fremdbestimmt, Dänemark und kurzzeitig auch die USA entschieden, was gut für die riesige Insel zu sein hat. Doch nun schickt sich Grönland an, unabhängig zu werden, ein eigenes Land, mit eigener Souveränität. Doch einfach wird das nicht für die Gesellschaft, die zwar mit großer Mehrheit für die Loslösung von Dänemark stimmte, aber die auch an ihre Grenzen kommen wird.

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Grönland – ein Land der Kontraste

Grönland ist eine Insel der Kontraste. Die Insel ist mehr als sechsmal so groß wie Deutschland, hat aber nur 56.000 Einwohnerinnen und Einwohner – ungefähr so viele wie die kleine Stadt Eschweiler in Nordrhein-Westfalen. Weil nicht jedes Haus einen Wasseranschluss hat, stehen in jeder Siedlung kleine blaue Hütten mit Wasserzugang – mit Eimern kann das Wasser transportiert werden. Zu mehr als 80 Prozent mit Eis bedeckt, wächst nahezu nichts, alle Frischwaren müssen importiert werden. Der Großteil der Bevölkerung lebt noch immer hauptsächlich vom Fischfang und der Jagd auf Wale, Robben, Rentiere und Eisbären, statt Bussen und Autos werden im Winter Hundeschlitten, im Sommer Boote genutzt. Langsam zieht der Tourismus an.

Mehr als 90 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind Inuit. Sie treffen mit ihren Traditionen, ihrer Kultur und ihrer eigenen Sprache auf die einstige Kolonialmacht Dänemark. Zwei Nationalitäten, zwei Identitäten, zwei Kulturen, zwei Kontinente. Politisch gehört Grönland zu Europa, ist nach wie vor Teil des dänischen Königreichs, wenngleich autonomer Teilstaat. Geografisch und geologisch jedoch gehört es zu Nordamerika und ist historisch mit den Inuit im 30 Kilometer entfernten Kanada verbunden.

Ein Eisbärfell hängt zum Bleichen an einem Haus in Ilimanaq in der Sonne.

Ein Eisbärfell hängt zum Bleichen an einem Haus in Ilimanaq in der Sonne.

Grönlands Bevölkerung: zwischen WLAN und Waljagd

Grönland ist modern und traditionell, naturverbunden und mit WLAN ausgestattet, es gibt Designermöbel und Deko aus Walrossschädeln und Walhaut. Das Land ist ein einziger Kontrast. „Ich glaube nicht, dass wir hier zerrissen sein müssen. Man kann zwei Sprachen sprechen und zwei Pässe haben, wieso sollte man nicht zwei Kulturen leben können, die dänische und die unseres Volkes?“, sagt Nivé Heilmann. Die in Grönland geborene Inuit ist mit einem Dänen verheiratet, sie ist ausgebildete Lehrerin, setzt sich ehrenamtlich gegen Alkoholismus und Missbrauch ein, führt eine Hundeschlittenfarm in Qasigiannguit im Süden der Diskobucht und arbeitet als Touristenführerin in Ilimanaq.

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Heilmanns Lebenslauf ähnelt dem anderer Grönländerinnen und Grönländer. Jan Cortsen war schon Fischer und Hundeschlittenführer, hat in einer Fischfabrik gearbeitet und im Fernsehen die Fußball-WM kommentiert. Aktuell arbeitet er als Guide in Grönlands Tourismushochburg Ilulissat. Den direkten Weg von Schule zur Ausbildung und Studium und im Anschluss in einen brancheninternen Job können sich nur die wenigsten leisten. Die Arbeit der Menschen richtet sich weniger nach Ausbildung, sondern vielmehr nach dem aktuellen Bedarf. Und so ist die Wirtschaft Grönlands in vielen Bereichen nach wie vor abhängig von Dänemark.

Jan Cortsen arbeitet als Touristenguide in Ilulissat, Grönland.

Jan Cortsen arbeitet als Touristenguide in Ilulissat, Grönland.

Grönland hat zu wenig Einwohner, um eine volle Infrastruktur zu stellen

Schon logistisch wäre eine volle Infrastruktur mit so wenig Menschen unmöglich. Grönland kann schlicht nicht für jeden Bedarf Arbeitskräfte haben. Wer eine Spezialoperation benötigt, muss in die USA, nach Kanada oder Dänemark. Die Grenzen werden auch im Bereich der Marine aufgezeigt: Grönland hat ein Flugzeug, vier Helikopter und vier Schiffe, um 44.000 Kilometer zu überwachen, die Souveränität zu sichern, die Fischerei zu beaufsichtigen, maritime Dienstleistungen zu erbringen, Patienten zu transportieren, Notfall- und Rettungs­einsätze zu bestreiten und andere soziale Aufgaben zu lösen.

Von Cortsens Schulfreundinnen und Schulfreunden sind nicht mehr viele in Ilulissat. Spätestens zur Oberstufe müssen sie die drittgrößte Stadt Grönlands verlassen, um andernorts zur Schule zu gehen, in Grönlands Hauptstadt Nuuk oder irgendwo in Dänemark. 25 Prozent jener, die nach Dänemark gehen, schätzt Karen Buus, kommen nicht zurück. Es sind vor allem die jungen, gut ausgebildeten Kräfte. „Sie lernen, wie einfach das Leben sein kann, mit Kinos, Discos, Konzerten, U‑Bahnen“, sagt sie. In Ilulissat ist einmal im Monat Kino. Je nachdem, wie beliebt der Film ist, läuft er ein, zwei oder drei Tage. Außer im Juli, da ist Rentierjagd, „dann haben wir keine Zeit für Kino“.

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Grönlands Probleme mit Alkoholismus und einer hohen Suizidrate

Grönlands Gesellschaft hat Probleme, weil die gut ausgebildeten Jungen nicht heimkehren. Aber dann wären da noch die, die dableiben oder zurückkehren. Nirgendwo auf der Welt ist die Suizidrate so hoch wie in Grönland, am häufigsten bringen sich junge Männer zwischen 15 und 24 Jahren um. Im Schnitt versucht eine von fünf Personen, sich das Leben zu nehmen. Vor allem in den Sommermonaten, wenn die Mitternachts­sonne das Schlafen erschwert, ist die Rate hoch.

20, 25 Gehminuten vom Zentrum Ilulissats entfernt gibt es eine Klippe am Eisfjord, die als Todeskliff bekannt wurde. Nakkaavik – der Ort, an dem man fällt. Wenngleich Selbstmord kulturell verankert ist – früher brachten sich die Alten um, wenn sie nicht mehr zum Familieneinkommen beitragen konnten –, sind die Ursachen heute vielfältig. Schlafmangel, Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Depressionen und die Zerrissenheit zwischen Kulturen und Anforderungen werden in Studien gelistet.

Am Rande des Eisfjords stürzten sich in der Vergangenheit häufig Menschen in den Tod.

Am Rande des Eisfjords stürzten sich in der Vergangenheit häufig Menschen in den Tod.

Armut gegen Unabhängigkeit: Grönlands Hoffnung ruht auf Bodenschätzen

Heilmann glaubt an ihr Land, an die Menschen in Grönland, an die Unabhängigkeit. Aber sie weiß auch, dass das alles zu schnell ging mit Dänemark, der Kolonialisierung, der Selbstregulierung. Viele in Grönland seien traumatisiert aufgrund von Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, die Kinder sehen kaum Perspektiven für sich. 48 Prozent der Frauen zwischen 15 und 24 Jahren und 56 Prozent der Männer in der Altersgruppe haben laut Statistiken einen problematischen Alkoholkonsum. 9,2 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner leben bereits jetzt unterhalb der Armutsgrenze.

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Auch wenn die Unabhängigkeit gewünscht ist, wird sie wohl noch einige Jahre dauern, glaubt Arktisforscher Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Denn um keine Existenzen und Leben zu riskieren, bedarf es einen Plan. Denn ganz allein wird Grönlands Gesellschaft die Infrastruktur nicht stellen können. Doch einen Vorteil hat die größte Insel der Welt: Sie ist begehrt wegen Bodenschätzen, dem Arktiszugang, der strategischen Lage – Grönland ist politisch umworben wie selten zuvor.

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