Glücksspiel und die Spirale ins persönliche Verderben

Ein letztes Mal sitzt Paul Wenzel seinem Endgegner gegenüber. Es klingelt und blinkt, rotiert und rattert. Etwa hundert Euro hat er dabei, so genau kann er das im Nachhinein nicht mehr sagen. Jedenfalls alles an Geld, was zu Hause zu finden ist, als er sich herausschleicht, während seine Lebensgefährtin schläft. Es war nichts vorgefallen, es gab keinen Anlass, er hatte es eigentlich schon so lange geschafft. Jetzt sitzt er wieder da, vor seinem Lieblingsspiel Take 5, die Obstsymbole flimmern vor seinen Augen. Irgendetwas ist anders. Die Mauer, die sich sonst um ihn herum hochzieht und ihn abschirmt von allem, fehlt. Der Tunnelblick, der ihn alles um sich herum vergessen lässt, fehlt. Die Gäste, die Bedienung am Tresen, alles bekommt er mit. Um vier Uhr morgens verlässt Paul Wenzel die Kneipe. Als Gewinner. Auch wenn es sich in diesem Moment nicht so anfühlt.

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Jahrzehntelang hat Wenzel gewonnen und er hat verloren, dann hat er weitergemacht, um die Verluste irgendwie auszugleichen – und den Gewinn gleich wieder eingesetzt. Gewinn, Verlust, Verzweiflung. Und von vorne. Der Kreislauf bestimmte sein Leben fast vierzig Jahre lang. Es ruinierte ihn. Finanziell, sozial, emotional. Paul Wenzel ist jetzt 56 Jahre alt und kann gar nicht sagen, wann das Ganze eigentlich zum Problem wurde.

Glücksspiel gab es schon vor 5000 Jahren

Spielsucht, in der Medizin "pathologisches Glücksspiel", zählt zu den stoffungebundenen Süchten, den Verhaltenssüchten. Sie zeichnet sich vor allem durch das Kriterium ab, dass Geld eingesetzt wird. Ihre Formen können unterschiedlich sein und sind längst keine Erfindung der Neuzeit: Von den Würfelspielen Mesopotamiens vor 5000 Jahren über die ersten Kartenspiele aus Asien im 12. Jahrhundert oder Englands Fußball- und Pferdewetten im 18. Jahrhundert sind es heute vor allem Spielbanken, Lotterien, Automaten und Online-Casinos, die Menschen in den Bann ziehen. Internet- oder Onlinesucht, etwa das zwanghafte Spielen von Rollenspielen am Computer, ist dagegen eine andere Diagnose. Die sogenannte Gaming Disorder und wurde erst 2018 von der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen in die International Classification of Diseases (ICD-10), dem internationalen Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Auch Glücksspielsucht wurde lange Zeit überhaupt nicht als Krankheit betrachtet. Süchte allgemein galten Jahrhundertelang als moralische Entgleisung, als Ausdruck von Charakterschwäche, Ärzte fühlten sich nicht zuständig. „Pathologisches Spielen“ ist seit 1992 im ICD-10 als Krankheit anerkannt.

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Wie viele Menschen in Deutschland spielsüchtig sind, kann niemand genau sagen, die Dunkelziffer ist laut Experten sehr hoch. Repräsentativen Umfragen der Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zufolge gibt es aktuell 330.000 Menschen mit problematischem Spielverhalten und 180.000 mit pathologischem Spielverhalten. Mediziner unterscheiden zwischen problematischer und eben pathologischer Spielsucht. Die Übergänge sind natürlich fließend und zeigen sich im Grunde in der Anzahl der Aussagen, die im Diagnosefragebogen mit Ja beantwortet werden: Sie denken intensiv und häufig an Glücksspiel, der Drang zum Spielen beherrscht Ihre Gedanken? Sie werden unruhig, wenn Sie nicht spielen können? Sie vernachlässigen Pflichten, Ihren Beruf, Ihre Beziehung?

Ja, ja und ja, hätte Paul Wenzel antworten müssen, hätte ihn jemand gefragt.

Lange Zeit tat das niemand. Lange Zeit war da auch niemand, nur der Automat. Früh fing das an, als er noch ein Kind war, ungefähr zehn Jahre alt. Mit vier Geschwistern wächst Wenzel in Hagen auf, südliches Ruhrgebiet, klassische Arbeiterfamilie. Jeden Nachmittag schickt die Mutter ihre Kinder den Vater holen, der nach Feierabend lieber in die Kneipe geht als nach Hause. „Spielt ihr eine Runde, dann kann ich noch ein Bier trinken“, kriegt der kleine Paul von seinem Vater zu hören samt ein paar Groschen; klettert auf den Barhocker und schmeißt die ersten 20 Pfennig in die bunte Kiste. Zu gewinnen gibt es damals kaum etwas, vielleicht 100 Mark. Aber was gibt es schon zu verlieren?

Der Spielautomat ist immer für Paul Wenzel da

Der Automat wird sein erster Freund und er bleibt sein bester. Als Teenager schenkt er ihm sein Taschengeld, als Bäckerlehrling sein erstes Gehalt. Wenn ihn die Jungs mit in die Diskothek oder in die Kneipe nehmen, ist sein blinkender Freund immer schon da. Er verbringt dann die Zeit lieber mit ihm, sie haben Spaß zusammen, er lässt ihn die Zeit vergessen und alle Sorgen. Es könnte die Welt untergehen, Hauptsache mein Automat bleibt, denkt Paul. Sein Freund, der Automat, ist immer da. Bald ist er der einzige.

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Warum ist Paul Wenzel spielsüchtig geworden? Und warum ist er es so lange geblieben? Zumindest auf die erste Frage haben Forscher einige Antworten gefunden. Untersuchungen zeigen, dass Suchterkrankungen auf zwei Dinge zurückführbar sind: auf biologisch-genetische Ursachen und auf soziale Faktoren. Dass Süchte grundsätzlich vererbt werden, getreu dem altgriechischen Spruch „Trinker erzeugen Trinker“, den einst die Nationalsozialisten missbrauchten, stimmt so allerdings nicht. Vielmehr wird, um beim Beispiel Alkohol zu bleiben, die Verträglichkeit vererbt, erklärt Ulrich Kemper, Chefarzt der LWL-Klinik für Suchtmedizin in Gütersloh. Je besser der Körper Alkohol verträgt, je trinkfester jemand ist, desto größer das Risiko der Abhängigkeit. Theoretisch hätten diese Menschen aber immer auch eine Wahl, keine Sucht entsteht zwangsläufig, sagt Kemper. So sei es im Prinzip mit allen Süchten.

Ein gewisses Interesse am Spiel, eine Anfälligkeit, hat Paul Wenzel also vielleicht mit in die Wiege gelegt bekommen. Aber nicht bloß seine Gene sind entscheidend. Auch die Sozialisation spielt eine große Rolle. Welches Bild gab der Vater ab, als Alkoholiker, als Erzieher, als Vorbild? Welche Belastung war er auch für die Familie, den kleinen Sohn? Hat er ihn nicht gar angefixt? War der Spielautomat ein Ventil für Wut und Enttäuschung? Oder ein Ersatz für nicht verfügbare Zuneigung?

Keine Freunde, keine Frauen, keine Hobbies. So fasst Paul Wenzel sein Leben als junger Erwachsener zusammen. Der Automat war immer verfügbar. Spielen macht einsam, das weiß er heute. „Früher hab ich gesagt: Wenn ich Familie und Kinder hab, höre ich auf. War aber nicht so.“

Jeder Gewinn ist nur eine Spielverlängerung

Paul Wenzel wird erwachsen – und seine Sucht wächst mit. Er arbeitet immer, anfangs als Bäcker, später als Pädagoge, mal in einer Schule, mal mit behinderten Menschen. Das Geld gibt er her für sein einziges Hobby, seinen Ausgleich. Stammläden hat er nicht, er will es überall probieren, seine Chancen maximieren, das Glück potenzieren, er spielt und spielt und spielt. Jeder Verlust ist Ansporn und jeder Gewinn nur eine Spielverlängerung. Er hat inzwischen eine Freundin und ein Kind, der für ihn wie ein eigener Sohn ist. Trotzdem macht er weiter; verspielt sein Geld, lebt von dem der Freundin. Wird zum Meister der Ausreden. Was hatte sein Auto nicht alles für Reparaturen. „Wir sind die größten Lügner, die es gibt“, sagt Wenzel. „Weil es funktioniert. Einem Alkoholiker sieht man den Suff ja an. Aber uns?“

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Wenzel erfindet einen Kupplungsschaden für 400 Euro, sein Kumpel stellt ihm eine falsche Quittung aus. Eine Woche später geht die Kupplung wirklich kaputt.

Die Freundin schmeißt ihn aus der Wohnung, er wird arbeitslos, entscheidet sich für eine stationäre Therapie, es ist das Jahr 2006. Schon 1993 hatte er es damit probiert, da seien Ärzte auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet gewesen, sagt Wenzel. Der damalige Oberarzt habe erstmal eine viertägige Fortbildung zum Thema Spielsucht machen müssen. Jetzt gibt es Gruppengespräche, Einzelgespräche, Paargespräche. Zwei Monate Ruhe. Rückfall.

In der Klinik von Ulrich Kemper werden im Schnitt 100 Suchtpatienten stationär behandelt, bis zu 25 davon wegen Spielsucht. Nur acht Prozent aller pathologischen Spieler nehmen professionelle Hilfe in Anspruch, sagt Kemper. Es gibt die „Kick-Spieler“, die auf Glücksgefühle und Euphorie aus sind, den Drang befriedigen müssen. Und es gibt die „Vermeidungs-Spieler“, die versuchen, Angst, Stress und Schuldgefühle zu kompensieren, die abschalten wollen, den totalen Tunnelblick. Wie Paul Wenzel. Beide Arten von Spielern werden in der Therapie „ursachenbezogen behandelt“: Die einen lernen dann, anderweitig Positives zu erleben, die anderen, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen.

40 Milliarden Euro Jahresumsatz in der Glücksspielbranche

Therapien versuchen zu kitten, was oft schon sehr kaputt ist. Spielsüchtigen zu helfen, ist ein ambitioniertes Feld in der Medizin. Spielsucht zu verhindern, ein eher kleines in Politik und Wirtschaft. Da ist etwa der Glücksspielstaatsvertrag, um den lange und bis vor dem Europäischen Gerichtshof gerungen wurde und der nur drei Jahre hielt. Ursprünglich sollte er bundeseinheitlich helfen, das Angebot zu begrenzen und Jugendschutz gewährleisten - und zerfiel dann in mehrere Versionen des Glücksspieländerungsstaatsvertrags auf Länderebene. Seit Dezember 2017 gelten demnach in NRW zum Beispiel folgende Regelungen: Es darf nicht mehr mehrere Spielhallen in einem Gebäude geben. Eine Spielhalle muss mindestens 350 Meter Luftlinie von der nächsten Spielhalle entfernt sein, ebenso 350 Meter von Schulen und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen.

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Das wirtschaftliche Potenzial der Glücksspielbranche mit einem Jahresumsatz von mehr als 40 Milliarden Euro ist enorm. Allein die Stadt Hagen, die Heimat von Paul Wenzel, macht nach eigenen Angaben pro Jahr gut 5 Millionen Euro Einnahmen durch die sogenannte Vergnügungssteuer. Die Stadt hat diese "Steuer auf Apparate mit Gewinnmöglichkeit in Spielhallen" in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht, sie liegt jetzt bei 21 Prozent. Zur Zeit gibt es offiziell 73 Konzessionen an 46 Standorten, Spielhallen inklusive. Seit Änderung der Rechtslage hätten insgesamt sechs Spielstätten geschlossen, sagt eine Sprecherin der Stadt. "Dies hatte in der Regel einen wirtschaftlichen oder persönlichen Hintergrund." Eine einzige Spielstätte sei abgemeldet worden, weil der Vermieter aufgrund der Rechtslage den Vertrag nicht verlängern wollte. Und aktive Kontrollen? Konsequenzen? Dazu heißt es lediglich: Sofern eine der abgemeldeten Spielstätten wieder geöffnet würde, ohne die erforderlichen Genehmigungen zu haben, würden diese durch den Städtischen Ordnungsdienst geschlossen." Für viele ist auch dieser Grauzonenbereich Teil des Suchtproblems.

„Ich bin spielsüchtig, das wird immer so bleiben“

Paul Wenzel packt es irgendwann. Als seine Freundin mit ihm Schluss macht, macht er Schluss. „Nach einer Nacht am Automaten hab ich in den Spiegel geguckt und gedacht: Noch ein, zwei Monate, dann lande ich unter der Brücke. Aber dann wäre ich gesprungen.“ Er sucht sich eine Therapeutin und eine Gruppe, gründet später eine eigene. Die Gruppe gibt Halt, Hilfe, Selbstkontrolle. Er bleibt konsequent. Als er die Ex-Freundin trifft und sie nach einem Kaffee fragt, sagt er: Nein ich muss zu meiner Gruppe. Zwei Monate später kommen sie wieder zusammen, 2016 heiraten sie. Geld ist ein Gut, das sie jetzt teilen, für Urlaube, ein neues Auto, eine Renovierung. „Es fühlt sich toll an“, sagt Wenzel.

Das letzte Spiel fühlt sich nicht gut an. Es ist diese Nacht, in dem die Wand fehlt, und der Tunnelblick. Heute weiß Wenzel, dass das nötig war. Als geheilt sieht er sich trotzdem nicht. „Ich bin spielsüchtig, das wird immer so bleiben“, sagt er. Das Risiko bleibt. Etwa als sie ihren neuen Hund abholen wollen, und an einer Raststätte halten. Wenzel sieht einen Mann am Spielautomaten, und er sieht sich selbst. Er war oft an Raststätten zum Spielen. „Aber das einzige, das ich dann dachte, war: Mensch, der Kaffee hier kostet verdammte vier Euro.“

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