Mindestens 22.000 Tote im Erdbebengebiet: Helfer suchen weiter nach Verschütteten
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Ein Rettungsteam konnte einen Verschütteteten in der türkischen Stadt Hatay befreien. Der junge Mann wird noch vor Ort versorgt.
© Quelle: IMAGO/Depo Photos
Istanbul/Damaskus. Vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet entdecken Helfer noch immer Überlebende unter eingestürzten Häusern. Trotz der eisigen Kälte in der Katastrophenregion hörten die Einsatzteams immer wieder die Laute Verschütteter, die verzweifelt auf Hilfe warteten, berichtete eine Reporterin des staatlichen Fernsehsenders TRT World am Freitagmorgen. „Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt“, zitierte sie einen Sprecher der Einsatzkräfte.
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Und tatsächlich berichten türkischen Medien immer noch von „unglaublichen Überlebensgeschichten“: So wurde in der Provinz Kahramanmaras laut der Nachrichtenagentur Anadolu nach 89 Stunden die fünfjährige Mina lebend aus dem Schutt geborgen. In der Provinz Hatay schaffte es die zweijährige Fatima nach 88 Stunden unter Trümmern mithilfe ihrer Retter ins Freie. In Gaziantep fanden Helfer den 17-jährigen Adnan nach 94 Stunden lebend. Er sagte anschließend, er habe seinen Urin getrunken, um nicht zu verdursten.
Rettung durch Amputation
In Antakya in der Provinz Hatay gelang es am Donnerstagabend (Ortszeit), ein zehn Jahre altes Mädchen zu retten. Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit dem Kind waren Einsatzkräfte 32 Stunden damit beschäftigt, durch den Trümmerhaufen eine Art Korridor zu graben, um zu ihm zu gelangen, meldete die Nachrichtenagentur DHS. Medizinische Fachkräfte sahen sich jedoch gezwungen, eines der Arme des Mädchens zu amputieren, um es freizubekommen. Eine Beseitigung der Trümmerlast, die auf dem Kind gelastet habe, hätte es zusätzlich gefährden könne, hieß es.
Eine Stunde zuvor zogen Rettungskräfte in der Provinz Adiyaman eine 17-Jährige aus den Trümmern. Als sie draußen war, wurde sie sofort von Sanitätern auf einer Trage, an der ein Infusionsbeutel hing, zu einem Krankenwagen gebracht. Umstehende applaudierten, einer der Retter bat dann jedoch um Ruhe. In Kahramanmaras konnten Mitarbeiter der Hilfsgruppe IHH zudem einen 20-Jährigen lebend aus den Trümmern holen. „Gott ist groß“, rief der junge Mann nach seiner Rettung.
Ein zehn Monate altes Baby mit seiner Mutter wurde im Bezirk Samandag der Provinz Hatay gerettet - die beiden harrten 90 Stunden unter den Trümmern aus. Die Helfer umwickelten den Säugling mit einer Wärmedecke, wie Bilder zeigten. In Hatay retteten Helfer zudem einen Mann nach 101 Stunden unter Trümmern. Die Rettungskräfte benötigten zehn Stunden, um ihn unter einem Betonblock zu befreien, wie der Sender CNN Türk berichtete.
Nach so langer Zeit noch lebende Verschüttete zu bergen, gleicht aber nahezu einem Wunder. Nur in seltenen Fällen überlebt ein Mensch mehr als drei Tage ohne Wasser, zumal bei eisigen Temperaturen.
Die Zahl der Toten nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist auf mehr als 22.000 gestiegen. Alleine in der Türkei seien 18.991 Menschen ums Leben gekommen, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Adiyaman. Aus Syrien wurden zuletzt 3384 Tote gemeldet. Erdogan bezeichnete das Erdbeben als eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Türkei. Man habe mehr als 76.000 Menschen aus dem Erdbebengebiet heraus in andere Provinzen evakuiert.
Mehr als 8000 Verschüttete wurden bislang gerettet. Experten befürchten aber, dass noch Zehntausende Erdbebenopfer unter den eingestürzten Gebäuden liegen könnten.
Erstes Beben hatte Stärke 7,7
Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in der Region.
Wegen der Katastrophe sollen die Flaggen an den obersten Bundesbehörden in Berlin und Bonn am Freitag auf halbmast hängen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ordnete die Trauerbeflaggung an.
Die Europäische Union sprach den Menschen in der Türkei und Syrien ihr Beileid aus und stellte weitere Hilfe in Aussicht. „Unsere Gedanken sind bei den Familien, die ihre Geliebten verloren haben, und bei denjenigen, die immer noch auf Neuigkeiten warten“, hieß es in einem von EU-Ratschef Charles Michel veröffentlichten Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Das Schreiben war beim EU-Gipfel in Brüssel von allen 27 Staats- und Regierungschefs unterschrieben worden.
Die Weltbank kündigte an, der Türkei Unterstützung in Höhe von 1,78 Milliarden US-Dollar (1,65 Milliarden Euro) zur Verfügung zu stellen. Damit sollen die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen vorangetrieben werden, wie die Weltbank in Washington erklärte. Es sei zudem eine rasche Schadensbewertung eingeleitet worden, um das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen und vorrangige Bereiche für die Unterstützung des Wiederaufbaus zu ermitteln.
Die Bundesregierung arbeitet mit daran, die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien zu verbessern. Das Problem sei, dass die Regierung und ihre Truppen zuletzt keine humanitäre Hilfe in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land gelassen hätten, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im WDR-Radio.
„Die Menschen sind mit einem Alptraum nach dem anderen konfrontiert“
Der einzige Grenzübergang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbeben eine wichtige Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. 90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. „Die Menschen sind mit einem Alptraum nach dem anderen konfrontiert“, sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres.
Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hilft laut Vorstandssprecher Thorsten Schäfer-Gümbel ebenfalls in der türkischen Erdbebenregion. Er sagte dem „Mannheimer Morgen“: „In der Region um Gaziantep arbeiten wir schon seit einigen Jahren, unterstützen syrische Geflüchtete und aufnehmende Gemeinden. Diese bestehenden Strukturen können wir jetzt nutzen, um den Menschen vor Ort in ihrer Notlage schnell zu helfen.“ Dazu gehörten etwa psychosoziale Unterstützung und warme Mahlzeiten.
Zahl der Erdbeben-Opfer in der Türkei und Syrien steigt auf über 15.000
Dennoch können die Rettungsteams immer wieder Menschen lebend unter den Trümmern befreien.
© Quelle: Reuters
Präsident Erdogan ließ am Donnerstag vom Parlament in Ankara den Ausnahmezustand für drei Monate bestätigen. Das Dekret wurde im Amtsblatt veröffentlicht - damit ist der Ausnahmezustand in Kraft. Die Maßnahme umfasst die zehn Provinzen, die auch vom Erdbeben getroffen wurden. Erdogan hatte gesagt, der Ausnahmezustand werde helfen, gegen diejenigen vorzugehen, die „Unfrieden und Zwietracht stiften“. So könnten zum Beispiel Plünderungen verhindert werden.
RND/dpa/AP