Deutscher lebt seit 20 Jahren freiwillig im Wald – ein Besuch
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Bild der Wohnstätte vom Mann im Wald verfremdet Die Wohnstätte von Robert S. in einem Kieler Gehölz. Seit fast 20 Jahren lebt er dort. Um ihn zu schützen, haben wir das Bild stark verfremdet.
© Quelle: Günter Schellhase
Kiel. Der hagere Mann mit dem westfälischen Zungenschlag seiner alten Heimat hat sich in all den Jahren seine eigene Welt unter Bäumen zurechtgezimmert. An den Seiten eines Trampelpfades dorthin leuchten Plastikblumen aus dem Waldboden. Schwarze Tücher hängen von einem rostigen Rundbogen herab wie am Eingangstor zu einem untergehenden Zauberland. Doch in dem großen grauen Tonnenzelt voller Decken, Schlafsäcken und alten Zeitungen in der Mitte dieses verwunschenen Ortes wohnt kein Zauberer. "Ich bin ein Messie", bekennt Robert S. gegenüber den Kieler Nachrichten: "Ich kann mich von meinen Sachen einfach nicht trennen."
Sammelsucht und „Reparaturinstinkt“
Aber Sammelsucht und „Reparaturinstinkt“, wie er seinen unstillbaren Drang nach „Erhaltung sonst verlorener Dinge“ selber nennt, sind nicht die einzigen Gründe für dieses extreme Einsiedlerleben mitten im grünen Irgendwo der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein.
Natürlich könne er sich auch gut vorstellen, in einer ganz normalen Wohnung zu leben. Doch die Bedenken waren bislang immer stärker als der Wunsch. Um Unterstützung in Anspruch nehmen zu können, müsse man Behörden gegenüber doch alles von sich preisgeben: zum Beispiel, wer von seiner Familie noch in welcher finanziellen Situation lebe, seine Biografie in allen Einzelheiten. „Aber das will ich nicht. Außerdem kann ich nichts mehr durch Dokumente oder Zeugnisse belegen. Die sind alle weg.“
Früher wollte er mal Lehrer werden
Auch sonst ist nicht viel geblieben aus seinem alten Leben, über das der 58-Jährige nur ungern spricht. Studiert habe er damals in Münster: Mathematik und Wirtschaftswissenschaften. Lehrer wollte er werden. Aber es habe keine Stellen dafür gegeben, auch keine beruflichen Perspektiven in der freien Wirtschaft. Und vor allem keine bezahlbare Wohnung, als Robert S. vor 20 Jahren nach Kiel kam, weil er den Norden mag. So wie auch die Landeshauptstadt, „die Münster von der Größe her und von der Mentalität der Menschen ja sehr ähnlich ist“.
Aus dem Provisorium wurde ein Dauerzustand
Weil es damals in Kiel offenbar keine preiswerte Wohnung gab, in der er sich einigermaßen wohlgefühlt hätte, wurde ein Zelt sein Zuhause. Doch aus dem übergangsweisen Provisorium sollte irgendwann ein Dauerzustand werden – das (Über-)Leben im Wald seine Lebensaufgabe, das Sammeln sein Lebenssinn. „Eigentlich ist es fast ein Wunder, dass ich überhaupt so lange durchgehalten habe.“
Trotz der vielen Jahre im Wald blieb Robert S. weitgehend unbehelligt. Er mache ja auch keinen Ärger, keinen Dreck, keinen Lärm, kein Feuer. Kein Grund für Beschwerden also. Ab und zu schaue zwar mal die Polizei nach dem Rechten, meckere ein bisschen über das Lager im Wald („... so geht das aber nicht“), lasse ihn ansonsten bislang aber in Ruhe. Genauso wie die Stadt oder die Stadtmission, die sich um die insgesamt mehr als 500 Wohnungslosen in Kiel kümmern. Für Sozialdezernent Gerwin Stöcken ist diese Zurückhaltung auch in Ordnung so: „Wir helfen jedem, der Hilfe braucht und sich an uns wendet. Aber wir können nicht jeden, der aus freiem Willen unter freiem Himmel leben will, ständig im Blick behalten.“
Kleines Taschengeld von Verwandten
Das würde Robert S. auch gar nicht wollen. „Ich brauche meine Ruhe, meine Unabhängigkeit, meine Existenzberechtigung.“ Trotzdem bleibt er zumindest finanziell auf Hilfe angewiesen. Verwandte ließen ihm jeden Monat „ein kleines Taschengeld“ zukommen, das fürs Nötigste reiche: für Brot, Aufschnitt, Saft, Wasser, Wein, Konserven, Waschsalon, Kleidung aus dem Second-Hand-Laden. Und für das Wichtigste in seinem Leben: Bücher, die er entweder findet oder die von der Stadtbücherei für kleines Geld aus dem Bestand aussortiert werden.
Hunderte von ihnen lagern in dicken Plastikeimern rund um die Zelte seines Lagers: Romane, Historisches, Biografien. Lesen ist für den Mann mit angegrautem Zottelhaar, aber modisch-schicker Brille überlebenswichtig. „Sonst würde ich verrückt.“ So liest Robert S. viele Stunden am Tag. Oder in der Nacht mit einer Stirnlampe über der weißen Strickmütze, tief verkrochen unter Decken und Schlafsäcken und liest sich weg von Kälte und Entbehrung: „Sonst kann ich nicht schlafen, weil mir der Stoff zum Träumen fehlt.“
Mann ohne Identität
Am meisten fesseln Robert S. Biografien. Über Karl May, Franz Kafka, Thomas Mann oder all die anderen Geistesgrößen, die um ihr Werk und ihre Identität ringen mussten. „Denn ich habe ja keine Identität: keine Wohnung, keinen Ausweis, keine Familie, keine Arbeit. Nichts, was Identität ausmacht.“
Ihm fehlt nichts in seinem Einsiedlerleben
Geblieben ist ihm die Hoffnung. „Bald wird es besser“, sagt Robert S. zum Abschied und schaut ins Grau über den kahlen Baumwipfeln. Etwas wärmer soll es in den nächsten Tagen werden. Dann könne er wieder aufräumen, sortieren oder undichte Zelte flicken. Vielleicht sogar das Fahrrad reparieren, um in den Waschsalon nach Kiel zu fahren. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Er kann es nicht genau sagen. Die Frage, was ihm am meisten fehle in seinem Einsiedlerleben, bedenkt er nur kurz: „Komischerweise eigentlich nichts.“ Und sein wichtigstes Ziel in nächster Zeit? „Nicht ernsthaft krank werden. Und einfach nur überleben.“
Von Jürgen Küppers/KN/RND