„Corona-Hölle“ Sylt? Eine Insel wundert sich über die Nachrichten vom Festland
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Das Beachhouse Sylt in Westerland hat wegen Corona die Betriebsferien vorverlegt.
© Quelle: Miriam Keilbach
Westerland. Dort, wo auf der Karte Westerland ist, prangt ein Herz. Es ist der Ort, an dem Andrea und Jochen Rothofer vor zwölf Jahren geheiratet haben – ohne es der Familie und Freunden zu sagen. Sie fuhren wie immer nach Sylt und gaben sich im Urlaub einfach das Jawort. Ein Partnertattoo erinnert an diesen Tag, das Herz an der Stelle von Westerland als Ort der Hochzeit, die Umrisse von Sylt auf dem Unterarm als Bekenntnis zu ihrer zweiten Heimat.
Am Sonntag machten sich Andrea und Jochen Rothofer von Emmerich am Rhein auf nach Sylt. Spontan und kurzfristig. „Wir hatten freie Zeit und wollten nur weg“, sagt Andrea Rothofer. Fliegen sei nicht infrage gekommen („Wer weiß, ob man dann noch nach Hause kommt“), also wurde es Sylt.
Sylt, die Nordseeinsel, die sie seit vielen Jahren lieben, auf die sie immer wieder zurückkommen. Die Insel, die sie auf ihren Armen tragen.
Hochinzidenzgebiet Sylt: Wie die Insel mit der Corona-Lage umgeht
Sylt hat am Mittwoch 480 Corona-Infektionen und 617 Insulaner in Quarantäne. Im Krankenhaus wird niemand wegen Corona behandelt.
© Quelle: RND/reisereporter
Omikron macht Sylt zum Corona-Hotspot
Sylt, 18.000 Einwohnerinnen und Einwohner, geschätzt 12.000 Betten zur touristischen Vermietung. Und ein Spitzenplatz in der Inzidenzliste: 480 Menschen mit Erstwohnsitz auf Sylt haben sich infiziert, 617 weitere sind in angeordneter Quarantäne, sagt Bürgermeister Nikolas Häckel. Am Mittwoch musste die Kita in Westerland schließen, nachdem ein Kind und eine Mitarbeiterin positiv getestet wurden.
Die Omikron-Variante ist es, die Sylt zu einem Hotspot gemacht hat. In der vergangenen Woche waren in ganz Schleswig-Holstein 43 Prozent der sequenzierten Proben auf eine Infektion mit Omikron zurückzuführen. „Die Zahl ist seither gestiegen. Und wir wissen, dass es auf Sylt viele sind. Ob es nun 50, 60 oder 70 Prozent sind, können wir aber nicht sagen“, sagt Hans-Martin Slopianka, Sprecher des Kreises Nordfriesland, zu dem Sylt gehört.
Sechs Soldaten der Bundeswehr kümmern sich um Kontaktnachverfolgung
Wegen der hohen Fallzahlen im Kreis werden Infizierte jetzt per SMS auf die Regeln hingewiesen und nicht mehr angerufen – trotz Aufstockung des Personals kam das Gesundheitsamt an die Kapazitätsgrenzen. Seit Montag unterstützten sechs Soldaten der Bundeswehr bei der Kontaktnachverfolgung.
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Auf Sylt ist derzeit wenig los – typisch für Januar.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
„Wir fühlen uns hier sicher“, sagt Andrea Rothofer. In ihren Überlegungen spielten die hohen Corona-Infektionszahlen auf Sylt keine Rolle. Das Lieblingrestaurant von Jochen Rothofer hat nicht auf – aber das ist jeden Januar so. Es gibt genug Ausweichmöglichkeiten.
Gastgewerbe auf Sylt: von Lockdown keine Spur
Rund 350 gastronomische Betriebe gibt es auf Sylt, mit Hotels sind es mehr als 400. Obwohl ein Großteil davon offen ist, war in Medien von einem selbstverordneten Lockdown die Rede. „Der Januar war immer ein toter Monat“, sagt Raphael Ipsen, Lokalpolitiker und Zweiter Vorsitzender des Dehoga Sylt. Einige Betriebe machten ohnehin im Januar Betriebsferien, manche zogen diese wegen der Corona-Situation vor.
Rund ein Dutzend Menschen stehen an der Promenade in Westerland, den Blick gen Nordsee gerichtet. Der Hochpunkt der Flut ist erreicht, nun zieht sich das Meer langsam zurück. Eine Möwe klaut einer Frau das Fischbrötchen aus der Hand. Die Wellen brechen laut, doch es gibt ein Hintergrundgeräusch, das überlagert: Baulärm. Denn auch das ist Sylt im Januar: Handwerkerinnen und Handwerker fahren quer über die Insel, überall wird gebohrt, geschraubt, gehämmert. Die ruhige Zeit wird von Tourismusbetrieben genutzt, um Renovierungen anzugehen.
Wenige Gaststätten wegen Renovierungen oder Corona dicht
„Viele Läden wissen, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist zu schließen“, sagt Moritz Luft von Sylt Marketing. Renovierungen im Januar seien keine Besonderheit, sagt Bürgermeister Häckel. „Das war auch vor Corona schon so.“ Ein weiterer Punkt kommt in diesem Jahr hinzu: Gastronomiebetriebe, die freiwillig schließen, erhalten finanzielle Hilfe vom Land.
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Moritz Luft ist Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH.
© Quelle: picture alliance/dpa
Eine Handvoll habe als Vorsichtsmaßnahme geschlossen und wieder andere, etwa das Hotel Stadt Hamburg oder das Restaurant Glöck‘l, mussten schließen, weil Personal infiziert oder als Kontaktperson in Quarantäne ist. Die anderen haben auf – und leiden unter dem zuletzt transportierten Image als Corona-Hotspot der Republik. „Es gibt noch Auswahl auf Sylt, ein Komplettangebot ist aufgrund der geringen Gästezahlen gar nicht notwendig“, so Luft.
Im Kultrestaurant Sansibar sind am Dienstagabend die meisten Tische belegt, Schnitzel, Burger, Glühpunsch werden über die Theke gereicht. Im November gab es hier einen Corona-Ausbruch, Betreiber Herbert Seckler entschied, den Laden vorübergehend zu schließen. Doch inzwischen läuft das Geschäft wieder.
Meldungen über Sylt führen zu Stornierungen
„Die Meldungen werden der Situation auf Sylt nicht gerecht“, sagt Ole König, Betreiber zahlreicher touristischer Angebote, etwa dem I Love Sylt Hotel Terminus. Seit den ersten Medienberichten über eine Sylter Inzidenz von 1500 und Betrieben, die freiwillig in einen Lockdown gehen würden, werden seine Mitarbeitenden von besorgten Gästen angerufen. „Wir haben ein massives Aufkommen“, sagt er, „die Leute wollen wissen, ob sie in dieser Corona-Hölle Urlaub machen müssen.“
Die Szenarien seien völlig an der Lebensrealität vorbei. Einige Gäste, sagt er, könne man beruhigen, sie würden von einer Stornierung absehen. „Aber das Problem sind die, die uns nicht anrufen und die, die gar nicht erst buchen.“
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Sylt verfügt über eines der umfangreichsten Testangebote in ganz Deutschland.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
Eine Sieben-Tage-Inzidenz für Sylt hat es offiziell nie gegeben. Doch ein auf der Insel ansässiges Medienunternehmen rechnete sie aus. 1500. Die Zahl verbreitete sich. Es sei „sinnfrei“, eine Inzidenz für einen Ort mit 18.000 Einwohnerinnen und Einwohnern auszugeben, sagt Kreissprecher Slopianka.
Trotz vieler Corona-Infektionen: kein Corona-Fall im Krankenhaus auf Sylt
Wichtiger sei es, vor allem in Zeiten von Omikron, das sich nach aktueller Datenlage sehr schnell verbreitet, aber für mildere Verläufe sorgt, auf die Hospitalisierungsrate zu schauen. Und die ist auf Sylt recht eindeutig: Am Dienstagabend wurde in der Asklepios Nordseeklinik Sylt keine einzige Person mit Corona behandelt. Einige Mitarbeitende seien ausgefallen, weil sie infiziert oder in Quarantäne seien, weshalb man planbare Operationen verschoben habe, aber: „Bisher ist alles ruhig“, so Kliniksprecher Mathias Eberenz.
Kerstin Appel ist Insulanerin, auf Sylt geboren, und wohl ist ihr aktuell nicht. „Man kriegt langsam schon Angst“, sagt sie, während sie auf die Nordsee blickt und eine Zigarette raucht. Das gesellschaftliche Leben sei stark eingeschränkt, die Situation außer Kontrolle, „weil sich die Leute nicht an Regeln halten.“
Anwohner verärgert über wenige, die sich nicht an Regeln halten
Leon Poller (Name geändert) sieht das ähnlich: Seit zwei Jahren sei das Leben eingeschränkt – aktuell aber noch mehr. Er sorgt sich um die Infrastruktur – und um Freunde. „Es wird von milden Verläufen geredet, aber das heißt nicht, dass die Leute nicht mit 40 Grad Fieber daheim im Bett liegen“, berichtet er. „Bei allem berechtigen Interesse am Tourismus: Es gibt auch noch 18.000 Leute, die hier leben.“ Ziemlich verärgert sei er, sagt Markus Gieppner. „Wir sind bisher so gut durch die Pandemie gekommen. Wenn jetzt Partys gefeiert werden, das ärgert mich.“
Mit einigen Leuten, die sich nicht an Regeln halten, und Partys, die gefeiert werden, meinen die drei einen Vorfall: Am 24. Dezember fand im Club Rotes Kliff in Kampen die traditionelle Weihnachtsparty statt. 120 Menschen kamen zusammen, es galt die 2G-Regelung. Im Nachhinein plauderte ein Teilnehmer darüber, die Party mit einem gefälschten Impfausweis besucht zu haben. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Flensburg in diesem Zusammenhang. Ob besagte Person infiziert war, ist unklar.
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33 Personen, die an Weihnachten im Club Rotes Kliff gefeiert haben, haben sich mit Corona infiziert.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
33 Personen, bei denen nach den Feiertagen Corona-Infektionen nachgewiesen wurden, waren auf besagter Party. Peter Kliem, Chef des Roten Kliffs, informierte auf Facebook und der Website über die Corona-Situation und schloss seinen Laden nach Bekanntwerden der Fälle – eine Entscheidung, die er selbst traf. Ob aber wirklich das Rote Kliff der Ort war, an dem der Ausbruch passierte, ist unklar. Denn: Bei mehreren Partygästen waren die Corona-Tests bereits zwei bis drei Tage nach der Feier positiv, damit hätte es eine sehr kurze Inkubationszeit gegeben. „Wir wissen nicht zu 100 Prozent, wo der Infektionsherd lag“, sagt Slopianka, „die 33 Personen müssen sich nicht zwingend in dem Club infiziert haben.“
An offiziellen Stellen ist man nun um Schadensbegrenzung bemüht. „Einzelne gefährden die Gesellschaft, gesundheitlich und finanziell“, sagt Bürgermeister Häckel in Richtung der mutmaßlichen Impfpassfälscher.
Sylt: Vorreiter in Sachen Corona-Tests
Denn ebenfalls wahr ist: Sylt gehört zu den Vorbildern in Sachen Corona. In der Fußgängerzone und am Strand stehen alle paar Hundert Meter Teststationen, ein Überbleibsel der Modellregion im Frühjahr 2021. Einige Gaststätten hatten längst vor der Allgemeinverfügung auf 2G plus bestanden, einige machen auch derzeit vom Hausrecht Gebrauch und erkennen den Booster nicht als „plus“ an – ein Test wird dann zur Pflicht. „Sylt testet weiter“, heißt die Initiative. Restaurants wie Sansibar haben eigene Teststationen.
Die Impfquote auf der Insel sei hoch, so Häckel, auch wenn keine offiziellen Zahlen nur für Sylt herausgegeben werden. „Eigentlich sehen wir gerade einen großen Erfolg der Impfkampagne: Die Impfung schützt vor einem schweren Verlauf.“ Tourismuschef Moritz Luft sagt, durch die Testinfrastruktur sei die Dunkelziffer auf der Insel niedriger als andernorts in Deutschland. Er sagt, er bleibe erst einmal ruhig und beteilige sich nicht an der Hysterie. „Ausbrüche wird es immer geben. Mit unserer Strategie sind wir bisher gut gefahren.“ Probleme mit der kritischen Infrastruktur, wozu etwa Krankenhäuser und ÖPNV zählen, gebe es nicht.
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Winterpause wegen Corona bei Lankon auf Sylt.
© Quelle: Miriam Keilbach
Anwohner Markus Gieppner, Administrator der Sylter Facebook-Gruppe mit mehr als 100.000 Mitgliedern, sagt dennoch: „Mit Strandspaziergängen und Kochen in der Ferienwohnung ist ein Urlaub kein Problem“, aber: „Andererseits sollte man in so einer Situation überlegen, ob man unbedingt an einem Ort mit derart hohem Infektionsgeschehen Urlaub machen will.“ Die meisten Restaurants und Ferienunterkünfte hätten zwar ohnehin wegen der Nebensaison zugemacht, aber dennoch gebe es aktuell nun mal die Corona-Problematik mit Omikron.
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Tourist auf Sylt: „Es ist die schönste Zeit“
Ole König widerspricht: „Sylt ist nach wie vor ein top Erholungsort. Es gibt keinen Grund zur Sorge.“ So ähnlich sieht das auch Klaus Treiber aus Darmstadt. „Es ist ja fast keiner da, bei dem man sich anstecken könnte“, sagt er lachend. Nur vereinzelt sind in diesen Tagen Touristinnen und Touristen zu sehen, viele Geschäfte haben ihre Ruhezeiten verlängert. „Es ist die schönste Zeit. Wer die Insel mag, kommt im Januar“, sagt er, während er auf seine Frau wartet, die gerade in einem Laden einkauft. Sie hatten keine Bedenken, nach Sylt zu kommen, Bekannte seien durch die Medienberichte aber um ihre Sicherheit besorgt gewesen. „Die Straßen sind leer. Wir sind vollkommen relaxed. Und in den Läden werden die Regelungen ernsthaft kontrolliert.“
Gabriele Weinberger und ihre Freundin machen dieses Jahr einen etwas anderen Sylt-Urlaub. Seit 1993 kommen sie nach Sylt, genießen am liebsten die Natur, aber setzen sich auch gerne mal ins Café. Darauf verzichten sie trotz Booster dieses Mal. „Wir gehen überhaupt nicht unter Leute. Das nächste Mal wieder“, sagt Weinberger. Die ruhige Zeit, sie reizt die beiden. „Im Sommer ist es uns zu voll“, sagt sie. Für die beiden gehe es um Natur, Entspannung, Entschleunigung. „Das Meer im Winter ist anders“, sagt Weinberger, während sie auf die Nordsee blickt.