Ausflug in die Todeszone: Touristen strömen nach Tschernobyl – und nicht alle benehmen sich
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Die Bloggerin Julia Baessler bei ihrem Besuch im Kontrollraum des Unglücksreaktors in Tschernobyl.
© Quelle: Julia Baessler
Prypjat. Vom Sprungturm, der über das leere Schwimmbecken ragt, blättert die Farbe ab. Das Riesenrad mit den gelben Gondeln wurde nach dem Aufbau nie in Betrieb genommen. Und die mit Rost überzogenen Autowracks stehen seit Jahrzehnten an derselben Stelle. Wer auf der Foto-Plattform Instagram nach dem Hashtag #chernobyl sucht, findet täglich neue Bilder, aufgenommen in der ukrainischen Geisterstadt Prypjat.
Nur wenige Kilometer entfernt liegt das Kernkraftwerk Tschernobyl, Schauplatz einer der schlimmsten von Menschen verursachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Bei dem Super-GAU in der Nacht zum 26. April 1986 kam es zur Kernschmelze und zu einer gewaltigen Explosion im Block 4 des Kernkraftwerks. Prypjat wurde Tage nach dem Unglück evakuiert, an den Folgen der Katastrophe starben Schätzungen zufolge zwischen 4000 und 60.000 Menschen.
Durch die hoch gelobte HBO-Serie "Chernobyl" ist das Reaktorunglück jetzt wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt – und hat in Prypjat einen Touristenansturm ausgelöst: Um rund 30 Prozent seien die Besucherzahlen im Mai im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters den Betreiber einer Tourismusagentur, die Führungen durchs Sperrgebiet anbietet. Und die Buchungen für Juni, Juli und August lägen sogar um 40 Prozent höher.
Tschernobyl-Reisen: Zahl der Buchungen mehr als verdoppelt
Einen „regelrechten Boom durch die Serie“ hat auch Beatrice Herrmann vom Reiseportal „Urlaubspiraten“ festgestellt. Seit Jahresbeginn hätte sich die Zahl der Buchungen mehr als verdoppelt. Reisen ins Katastrophengebiet bietet das Unternehmen seit 2017 an – für Flug, drei Hotelübernachtung und einen Tagestrip ins Sperrgebiet zahlen Kunden 260 Euro. Darüber, ob Tschernobyl-Reisen überhaupt ins Angebot aufgenommen werden sollten, habe es durchaus Diskussionen gegeben, sagt Herrmann. „Wir haben uns am Ende dafür entschieden.“ Denn mit einem klassischen Urlaub hätten die Reisen nichts zu tun: „Sie sollen die schlimme Katastrophe fassbar machen. Der Bildungsaspekt steht im Vordergrund.“
Wenig mit Aufklärung zu tun haben allerdings zahlreiche Instagram-Fotos, die zuletzt für Empörung sorgten: Denn auch Influencer haben Prypjat als Schauplatz für ihre Fotos entdeckt. Ein Model posierte gar mit nacktem Oberkörper und heruntergelassenem Strahlenanzug, vermeintlich aufgenommen im Sperrgebiet. Die 23-Jährige ruderte später zurück und behauptete, das mit Prypjat verortete Foto sei dort gar nicht entstanden – der Sturm der Entrüstung war da freilich längst über sie hereingebrochen.
Besuch des Kontrollraums: „Da kommen unglaublich viele Emotionen hoch“
„Einige Fotos überschreiten Grenzen und sind geschmacklos“, findet auch Julia Baessler. Die österreichische Bloggerin (über 320.000 Follower bei Instagram) war selbst schon zweimal in Prypjat: „Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Katastrophe von Tschernobyl, da war die Motivation groß, sich das vor Ort anzusehen.“ Vor allem der Besuch des Kontrollraums im Unglücksreaktor sei „sehr sehr bewegend“ gewesen. „Hier hat die Geschichte ihren Lauf genommen, da kommen unglaublich viele Emotionen hoch“, sagt die 26-Jährige.
Auch sie nahm ihre Follower mit auf die Reise ins Sperrgebiet, postete zahlreiche Fotos und Videos bei Instagram. „Die Reaktionen waren am Anfang extrem positiv, ich habe selten so viel Feedback und so viele Fragen bekommen“, sagt Baessler. Zuletzt sah sie sich aber auch mit zahlreichen negativen Kommentare konfrontiert: „Einige Leute können nicht nachvollziehen, warum ich schon mehrmals nach Tschernobyl gereist bin und dies auch auf Social Media dokumentiert habe.“ Leider würden auch viele nicht zwischen den Intentionen, diese Bilder zu teilen, unterscheiden. „Es gibt mit Sicherheit viele, die dies aus Provokation machen. Andere, und dazu zähle auch ich mich, wollen bloß Impressionen weitergeben.“
In die Diskussion hat sich zuletzt sogar der Drehbuchautor von „Chernobyl“ eingeschaltet. Es sei großartig, dass die Serie das Unglücksgebiet so in den Blick der Öffentlichkeit rücke, aber auch er habe die kritisierten Fotos gesehen, schrieb Craig Mazin bei Twitter. „Wenn ihr dorthin reist, denkt bitte daran, dass dort eine schreckliche Katastrophe passiert ist. Verhaltet euch respektvoll denen gegenüber, die gelitten und sich geopfert haben.“
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Von Sebastian Heintz/RND