Psychologe zu Böllerattacken

Angriffe auf Einsatzkräfte: „Gewalt entsteht immer aus Gewalt“

Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk.

Herr Elbert, müsste bei den gewalttätigen Menschen, die in der Silvesternacht Feuerwerkskörper als Geschosse auf Menschen benutzten, nicht zumindest gegenüber Feuerwehren, die ihren Dienst am Nächsten tun, eine „Beißhemmung“ bestehen?

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Ich glaube nicht, dass von diesen Leuten ein großer Unterschied gemacht wird zwischen verschiedenen Uniformierten – ob das nun die Polizei ist oder die Feuerwehr. Auch die Polizei ist ja dazu da, den Bürgern zu helfen und sie zu schützen. Sie wird aber von diesen Leuten nicht als Einsatzkraft wahrgenommen, die wichtig ist, um die Ordnung im Staat aufrechtzuerhalten, sondern als Feindesgruppe. Natürlich ist das nur meine Vermutung, die aber mit den Tatsachen in Einklang zu stehen scheint. Man müsste die Leute befragen: „Ist es euch egal, welche Uniformierten vor euch stehen, oder nicht?“

Lässt sich hinter den Taten ein alkoholisiertes Silvestervolk vermuten, das – etwa in den berüchtigten Silvesterböllerschlachten von Berlin-Neukölln – einer seltsamen Agenda persönlicher Belustigung folgt?

Alkohol und andere Drogen senken bekanntermaßen die Hemmschwelle. Es ist dann eine „Riesengaudi“, gegen die Ordnungskräfte Feuerwerkskörper einzusetzen und „Krieg“ zu spielen. Dabei ist das nicht so ganz verschieden von dem, was sich ohnehin jedes Wochenende an Plätzen wie dem Stuttgarter Schlossplatz oder dem Frankfurter Hauptbahnhof abspielt. Nur dass nicht Bierflaschen und Steine fliegen, sondern Feuerwerkskörper.

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Bei dieser „Gaudi“ geht es oft um Einsätze an brennenden Mülltonnen. Kann man davon ausgehen, dass die absichtsvoll angezündet werden?

Schon, ja. Man spielt da sozusagen einen Kampf durch. Zivilisiert kann man so etwas in Mannschaftssportarten mit strengem Reglement ausleben. Oder eben unzivilisiert wie in diesen von den meisten Bürgern ja strikt abgelehnten Angriffen. Der „Spaß“ dahinter ist der gleiche.

„Weniger eine Frage der Integration als der Erziehung“

Die Berliner Sonnenallee, in der es besonders heftig zuging, ist auch als „arabische Straße“ bekannt. Kann misslungene Integration eine Ursache für Gewalt gegen Helfende sein? Dass sich zurückgelassen fühlende Leute Silvester als Ventil benutzen?

Es ist zunächst weniger eine Frage der Integration als der Erziehung. Was wir aus vielen Untersuchungen sehr gut wissen, in die Millionen Menschen einbezogen waren: Gewalt entsteht immer nur aus Gewalt. Es zielt nur derjenige wirklich darauf ab, andere zu verletzen, der selbst Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren hat. Der Umkehrschluss, dass alle, die Gewalt erfahren haben, gewalttätig werden, stimmt natürlich nicht. Das ist nur ein Viertel bis ein Drittel. Wenn Leute aus Kulturkreisen kommen, in denen das „positive parenting“ noch nicht angekommen ist, wo Kinder noch mit massiven Bestrafungen erzogen werden – ich rede nicht von einer Ohrfeige, sondern von echter Körperverletzung – dann haben Sie vermehrtes Gewaltpotenzial. Vorwiegend bei jungen Männern. Aber auch im eigenen Kulturkreis erleben wir bei etwa 20 Prozent häusliche Gewalt. Davon ein Drittel – das ergibt die gewaltbereiten Szenen.

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„Strafen halten diese Leute nur sehr begrenzt ab“

Der Strafrahmen ist höher geworden, die Zahl der Silvestergewaltdelikte gegen Hilfskräfte ist trotzdem zwischen 2018 und 2022 angestiegen. In der jüngsten Silvesternacht gab es bei 1717 Einsätzen 38 Attacken auf Einsatzkräfte und 15 verletzte Feuerwehrleute allein in Berlin, dazu 18 verletzte Polizisten. Schrecken Strafen die Täter nicht ab?

Strafen halten diese Leute nur sehr begrenzt ab. Strafandrohung wirkt je weniger, je geringer die Perspektiven sind. Die Überlegung, sich durch Straffälligkeit die Zukunft zu verbauen, wird nicht von dem aufgestellt, der glaubt, sowieso keine Zukunft zu haben, gesellschaftlich nicht Fuß fassen zu können. Dem wird eine Bestrafung egal sein.

Rechnen die Täter vielleicht auch damit, für ihre Gewalttaten gegen Hilfskräfte gar nicht belangt zu werden, weil Staatsanwaltschaften und Gerichte personell überlastet sind und nicht mehr hinterherkommen?

Eine Bestrafung, die das Leben dieser jungen Leute wirklich bedrohlich beeinträchtigt, ist unwahrscheinlich. Die Strafe ist auch keine geeignete Maßnahme, Gewalttaten zu verhindern, die Situation zu verbessern. Man muss auf die Bedingungen einwirken, in denen diese jungen Leute aufwachsen, diese Bedingungen verändern. Die Strafe ist nur eine „Rache“ des Staates und der Gemeinschaft.

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Die Polizeigewerkschaft in Berlin fordert ein „Böllerverbot“. Würde diese Maßnahme, diese „Entwaffnung“, das Ende dieser Angriffe bedeuten?

Ist es schwierig, an die Böller zu kommen, kann ich das „Kriegspielen“ so nicht mehr durchführen.

Wäre bezüglich eines solchen Verbots eine Solidarität der normalen Bürger, die es an Silvester ein wenig krachen lassen wollen, mit den angegriffenen Hilfskräften vorstellbar?

Ich glaube das schon. Für mich ist das schönste Knallen an Silvester sowieso das des Sektkorkens. (lacht) Und der Aufschrei der breiten Masse bezüglich der abgesagten Silvesterknallerei war schon in Corona-Zeiten eher mäßig. Die Menschen stellen immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Immer mehr Leute werden sich darüber klar, welches Tierleid durch die Böller verursacht wird, wie viel Feinstaub durch die Feuerwerkskörper in den Großstädten produziert wird – und eben auch welche Möglichkeiten die Böller gewaltbereiten Gruppen bieten, „Krieg“ zu spielen. Man könnte natürlich auch regulieren statt verbieten – Böller nur noch mit begrenzter Lautstärke, mit bestimmten Inhaltsstoffen erlauben. Durch ein komplettes Verbot würde die Gewalt auch nicht verschwinden.

Bundesinnenministerin Faeser lehnt bundesweites und generelles Böllerverbot ab

Die Bundesregierung hat die zahlreichen Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte in der Silvesternacht verurteilt.

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Sondern sich andere „Waffen“ suchen?

So ist es.

„In diesem Konflikt dauerhaft zu leben geht nicht“

Welche Wirkung hat es auf die Psyche der Einsatzkräfte, die ihren Dienst ja zu Recht als „gut“ für den Zusammenhalt der Gemeinschaft empfinden, wenn sie beim Helfen, in der Ausübung ihrer Pflicht attackiert werden?

Im Moment des Einsatzes sind diese Kräfte willens und geschult, den aktuellen Konflikt in den Griff zu bekommen. Danach ist die Enttäuschung darüber, dass man für sein altruistisches Verhalten eine Aggression erfährt, die wie eine Bestrafung erscheint, natürlich riesengroß. Traurigkeit, Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit sind die Folgen. Manche steigen dann aus, andere schlagen zurück. In diesem Konflikt dauerhaft zu leben geht jedenfalls nicht.

Wie sähe ein Zurückschlagen bei der Feuerwehr aus? Mit dem Schlauch?

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Ja – einfach den Schlauch kurz mal in die andere Richtung halten. (lacht)

Kommt bei Feuerwehrleuten nicht mit der Zeit die Angst auf, der Alarm an Silvester wegen einer brennenden Mülltonne in Neukölln könnte von vornherein eine „Falle“, sein, in die man von den Gewalttätern gelockt wird?

Nach meiner Erfahrung sind Feuerwehrleute seelisch kräftige Menschen. Sie halten einen solchen schlimmen Einsatz schon mal aus. Aber die ständig steigende Anzahl solcher Vorfälle, bei denen man angegriffen wird, nagt an ihnen. Es ist nur eine Frage der Zeit bis zur Zermürbung.

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In Jobs, die ja auch im Normalfall nicht immer einfach sind.

Auch wenn man im Alltag als Polizist, Sanitäter oder Feuerwehrkraft zu einem schlimmen Verkehrsunfall gerufen wird, ist das belastend. Und jeder erträgt nur eine gewisse Last. Bei unseren Forschungen in afrikanischen Krisengebieten hieß es von Einheimischen „Jeder trägt einen Rucksack mit sich, und das Leben legt ‚Steine‘ hinein – eine Bombenattacke, einen Raubüberfall, eine schwere Kindheit – das sind die Steine. Jeder Mensch kann unterschiedlich viele Steine tragen, jeder hat eine Grenze, an der er bricht.“ Diese Metapher trifft auch für Feuerwehrleute und Polizeikräfte zu. Schon allein deswegen ist es ein Riesenverbrechen, gegen die Einsatzkräfte aus purer Gaudi oder aus Hass auf staatliche Organe Gewalt anzuwenden. Durch diese Gewaltexzesse werden den Betroffenen zusätzliche Steine in den Rucksack gepackt.

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Forderungen nach allgemeinem Böllerverbot werden lauter

Es wird schon lange gefordert – ein allgemeines Böllerverbot. Jetzt erhält diese Forderung neue Argumente.

Wie kann man ihnen helfen?

Man muss ihnen wieder Steine herausnehmen. Indem man zum Beispiel dem gefahrvollen und stressbeladenen Einsatz einen klaren Ort und eine klare Zeit zuweist. Damit der angegriffene Feuerwehrmann klar weiß, dass sein nächster Einsatz nichts mit dem davor zu tun hat. Das ist nicht einfach, weil das Gedächtnis zu verallgemeinern und zu fusionieren pflegt. Um die Geschehnisse nun klar zu verorten und zu vergeschichtlichen, wäre professionelle Hilfe günstig.

Thomas Elbert (72) ist ein deutscher Neuropsychologe. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung der Folgen von sozialem und traumatischem Stress sowie die Behandlung von traumabedingten Erkrankungen. Dabei zeichnet ihn besonders aus, Feldstudien und Versorgungsprojekte direkt in Konfliktgebieten durchgeführt zu haben. Dabei fragte sich seine Forschergruppe vor allem, was Personen zu Gewalt – häuslich oder organisiert in Gruppen – motiviert. Elbert ist Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er erhielt den Hector-Wissenschaftspreis sowie – gemeinsam mit Maggie Schauer – den renommierten Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis, mit dem ein Beitrag zur wissenschaftlichen Bearbeitung gesellschaftlich wichtiger Problembereiche gewürdigt wird. 2019 erhielt er den Deutschen Psychologiepreis, der herausragende Leistungen in der psychologischen Forschung prämiert.

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