Nicolette Krebitz: „Ältere Frauen sind mehr als böse Tanten“
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Die Schauspielerin Nicolette Krebitz.
© Quelle: picture alliance / Vianney Le Caer/Invision/AP
Was ist Nicolette Krebitz denn nun zuerst – Schauspielerin oder Regisseurin? Und, ach ja, Musikerin ist die 1972 in West-Berlin geborene Künstlerin auch noch. Das zeigte sich zum Beispiel bei einem ihrer großen Kinoerfolge: In „Bandits“ (1997) brach sie als Mitglied einer Frauenband aus dem Gefängnis aus. Den Soundtrack zum Film schrieb Krebitz zusammen mit Jasmin Tabatabai und Katja Riemann – und der gewann eine Goldene Schallplatte. Rollen wie jene als rücksichtslose Aidskranke in „Ausgerechnet Zoé“ (1994) oder als verliebte Undercoverpolizistin in „Long Hello & Short Goodbye“ (1999) katapultierten sie in die erste Riege deutscher Schauspielerinnen.
Dann aber wechselte Krebitz hinter die Kamera: Schon ihr Regiedebüt „Jeans“ (2001) über zwei Kumpel in einem Berliner Sommer überzeugte durch Mut zum Experimentellen. Für Aufsehen beim renommierten Sundance Film Festival sorgte „Wild“ (2016), eine Art Liebesgeschichte außerhalb des zivilisatorischen Rahmens zwischen einer jungen Frau und einem Wolf. Der Liebe bleibt Krebitz nun auch in ihrem neuen Film „AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe“ (Kinostart: 16. Juni) treu.
Frau Krebitz, „Boy meets Girl“ in vielerlei Variationen ist die am häufigsten erzählte Geschichte im Kino: Wieso wird sie nie langweilig?
Weil wir das alle kennen. Und weil es immer noch möglich ist, einen frischen Blick auf die Liebe zu werfen. Für meinen neuen Film „AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe“ müsste es allerdings heißen: Woman meets Boy. Ich wollte von Dingen erzählen, die ich selbst gern sehen würde.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel, dass es zwischen den Liebenden Anna und Adrian klappt.
Haben Sie einen Lieblingsliebesfilm?
Ich mag Filme, in denen Liebe nicht unbedingt das Hauptthema ist. Einzelne Szenen sind dann um so einprägsamer. Toll finde ich zum Beispiel „Vier im roten Kreis“ von Jean-Pierre Melville. Alain Delon kommt aus dem Gefängnis und stattet seinem alten Freund mitten in der Nacht einen Besuch ab. Es ist der Mann, der ihn verraten hat und der inzwischen mit seiner ehemaligen Freundin zusammenlebt. Die Frau bleibt während des Besuchs im Schlafzimmer und gibt sich nicht zu erkennen, aber einen Augenblick lehnen sich beide an dieselbe verschlossene Tür – von zwei Seiten, in zwei Zimmern. Und er spürt, dass sie dahinter steht. Und sie spürt ihn auch.
Schön. Bitte gleich noch eine Szene!
„E.T.“! Da hat der Junge Elliott gewissermaßen eine Liebesbeziehung mit E.T. Wissenschaftler haben versucht, ihre Verbindung zu unterbrechen, und beide liegen krank und völlig entkräftet nebeneinander, E.T. in einer Eistruhe, Elliott angeschlossen an lauter Kabeln, als plötzlich die verwelkte Blume, das Zeichen ihrer Liebe, wieder erblüht. Dieses symbolische Aufbäumen lässt beide wieder zu Kräften kommen, und so machen sie sich auf in das große Finale, der Abschied am Raumschiff.
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Knapp die Hälfte aller Paare findet heute über Dating-Apps zueinander: Könnten Sie sich vorstellen, einen Film rund um Tinder zu drehen?
Nee, ich glaube nicht.
Treiben Datingportale der Liebe die Romantik aus?
Für mich kommen Dating-Apps nicht infrage, weil die Leute mein Gesicht kennen. Da würden sich wohl einige melden, die mich einfach mal treffen wollen. Die haben dann schon eine Vorstellung von mir, die ich entweder zerstöre oder erfülle. Für mich wäre das in jedem Fall total anstrengend.
Und wenn Sie nicht bekannt wären?
Ich glaube, dass man bei einer Dating-App auf andere Dinge reagiert als bei einer Begegnung. Die Wirklichkeit interessiert mich mehr.
Mögen Sie keine Datingportale?
In meinem Bekanntenkreis kenne ich ein paar, die sich auf diesen Apps tummeln. Und es entstehen anscheinend auch manchmal Beziehungen daraus. Aber Dating-Apps können auch als Spielwiese für narzisstisch gestörte Menschen dienen.
Dating-Apps können auch als Spielwiese für narzisstisch gestörte Menschen dienen.
Glauben Sie an schicksalhafte Begegnungen?
Vor allem glaube ich, dass einen anspricht, womit man nicht gerechnet hat. Das ist das Tolle am Verlieben. Man wundert sich über sich selbst und genauso über den anderen. Man liebt das Fremde, nicht das, was man schon kennt oder was zu einem zu passen scheint. Das hat wenig mit Sinnhaftigkeit und eher mit Sinnlosigkeit zu tun.
Sie haben ein Faible für Liebesgeschichten der besonderen Art: Was hat Sie in Ihrem vorigen Film „Wild“ dazu getrieben, eine junge Frau und einen Wolf in einer Plattenbauwohnung zusammenzubringen?
Es begann mit einem immer wiederkehrenden Traum. Darin bin ich durch den Wald gejoggt und habe hinter mir Schritte und Atemgeräusche gehört. Dann bin ich aufgewacht und hatte Angst. Jemand riet mir irgendwann: Dreh dich im Traum um. Als mir das tatsächlich eines Morgens gelang, stand ein Wolf vor mir.
Pardon, aber gegen „Wild“ ist Ihr Film „AEIOU“ eher konventionell, oder?
Der Film ist publikumsfreundlicher und scheint erst mal auch ungefährlicher zu sein. Es entspricht mir gar nicht, die ganze Zeit Leute zu erschrecken. Ich will Geschichten erzählen. In diesem Fall sollte sie davon handeln, wie toll sich eine unverhoffte Begegnung entwickeln kann. Aber ich finde „AEIOU“ genauso provokant wie „Wild“.
Wieso?
Ich glaube, dass eine Liebesgeschichte mit so einem großen Altersunterschied, und in diesem Fall ist ja die Frau die Ältere, vielen eigentlich gegen den Strich geht. Deshalb sieht man ältere Frauen in den meisten Filmen und Theaterstücken nur als liebe Omas oder böse Tanten. Dabei haben diese Frauen oft ein wildes Leben, auch in Liebesdingen – jenseits ihres biologischen Fortpflanzungsauftrags, um es mal technisch auszudrücken.
Was stand am Anfang von „AEIOU“?
Ich schrieb an einem Fantasystoff und war erschöpft: Schließlich musste ich eine ganze neue Welt erfinden, mit allem, was dazugehört: Sprache, Gesetze, andere Fähigkeiten et cetera. Zur Erholung habe ich an diesem Film geschrieben, aus Lust und Laune. Mit dem Fantasyfilm bin ich übrigens immer noch nicht fertig.
Die zentrale Figur ist Anna, eine abgehalfterte Schauspielerin, gespielt von Sophie Rois: Wieso ist Anna so offen für diese Begegnung?
Als abgehalftert würde ich Anna nicht beschreiben. Man erfährt, dass sie den Ehrgeiz in ihrem Beruf nicht aufrechterhalten konnte, weil sie sich zu fein dafür war, sich einer Menge Blödsinn auszusetzen. Ihrer Frage würde ich ebenfalls widersprechen. Sie ist alles andere als offen für diese Begegnung. Aber das Schicksal kreiert einen Ausnahmezustand, und so können sie einander erkennen.
Was heißt das?
Beide leben ein Stück außerhalb der Gesellschaft. Deshalb sind sie vielleicht in der Lage, nicht über den jeweils anderen zu richten. Und sie haben Platz, etwas in ihrem Leben stattfinden zu lassen. Sie haben niemanden, der dauernd etwas von ihnen will. Anna wehrt sich lange gegen diese Beziehung – bis sie endlich ihre Koffer packt und in den Zug nach Südfrankreich steigt.
Liegt in dem Altersunterschied womöglich doch eine Provokation?
Mich hat die Beziehung zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seiner Frau Brigitte immer ein bisschen fasziniert. Als ich das erste Mal Bilder von den beiden sah, war ich irgendwie – nun ja – skandalisiert. Die Macrons liefen am Strand entlang. Ich ertappte mich dabei, wie ich nach Zeichen suchte, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmt. Aber sie sahen glücklich aus. Da habe ich gemerkt, dass an meinem eigenen Bild von Liebe und was sie kann etwas nicht stimmt.
Wie hat denn gesellschaftlich akzeptierte Liebe auszusehen?
Die Wirklichkeit sieht anders aus, als sie in den Medien propagiert wird. In der Zeitung geht das so weit, dass selbst ich mich schon erschrocken habe, wenn ein prominenter älterer Mann mit einer ähnlich alten Frau unterwegs war. Mir kam die Frau neben ihrem gleichaltrigen Mann viel älter vor, so degeneriert war mein Blick. Aufgrund all der vielen Bilderbeispiele schien es mir normal zu sein, dass an die Seite eines älteren Mannes eine jüngere Frau gehört. Achten Sie mal darauf, das ist wirklich verrückt. Inzwischen finde ich, ältere Männer mit gleichaltrigen Frauen sind die coolsten.
Ist die Liebe etwas, dem wir hinterherjagen sollten?
Man sollte die Hindernisse überwinden, die es einem schwer machen, sein Begehren zu leben. Sonst kann man nicht glücklich sein.
Die letzte Frage an die Liebesexpertin Nicolette Krebitz: Hat Liebe mit Freiheit oder mit Besitzen zu tun?
Um Gottes willen! Ich bin alles andere als eine Expertin. Auf Ihre Frage antworte ich trotzdem: Manchmal mag man es, wenn jemand besitzergreifend ist, oder ist es selber. Die Freiheit ist aber letztlich eine größere Sache.
Wieso?
Dazu gehört, dass man so sein darf, wie man ist. Sich diese Freiheit zu nehmen und sie anderen zu gestatten finde ich eine Riesenaufgabe. Und sich die Freiheit zu nehmen, eine Liebe nicht zu leben, zum Beispiel auch.
Oh, das ist traurig.
Nicht unbedingt. Im Rückblick habe ich schon oft gedacht, es war besser so.
Sophie Rois scheint die einzig mögliche Besetzung in Ihrem Film: Aber wie haben Sie Ihren jungen Darsteller Milan Herms gefunden?
In der Sauna und im Bademantel! Auf der anderen Seite des Pools lag ein junges Pärchen auf Liegestühlen, Milan und seine Freundin, und ich wusste sofort: So muss Adrian aussehen.
Eine recht ungünstige Situation, um auf einen jungen Mann zuzugehen.
Ja, das stimmt! Ich wollte auf keinen Fall so rüberkommen wie Harvey Weinstein, im Bademantel zu einem Schauspieler sagen: Ich bringe dich ganz groß raus. Aber dann hatte ich Angst, dass er verschwindet und ich danach bei keinem Casting mehr mit den Kandidaten zufrieden bin, und habe ihn angesprochen.
Welche Ideen haben Sie verfolgt, um den Film mit Romantik anzureichern?
Wir haben uns vor allem am französischen Kino aus den Sechziger- und Siebzigerjahren orientiert, „Belle de Jour – Schöne des Tages“ mit Catherine Deneuve zum Beispiel. Sie verkörpert in dem Film feminine Würde, etwas Ikonenhaftes – und macht doch verrückte Sachen. Die Fantasie der Regisseure war damals ganz schön toll.
Inwiefern?
Die Deneuve-Figur verlässt den Herd – und was tut sie, während ihr Mann bei der Arbeit ist? Sie beginnt heimlich in einem Bordell zu arbeiten. Rein äußerlich ist sie aber immer noch diese brave und sehr schicke Ehefrau. Das fand ich einen tollen Trick und wollte der Figur in meinem Film unbedingt dieselben Waffen zur Seite stellen.
Sind Zeiten des Krieges für einen Liebesfilm besonders gut oder besonders schlecht?
Besonders gut. Es ist wichtig, sich den zärtlichen Blick und die Hoffnung zu erhalten. Man sollte die Wirklichkeit nicht verklären. Aber ein schöner, geistreicher, sexy Kinoabend tut auch gut.
Reizt es Sie nach Ihren vielfältigen Regieerfahrungen überhaupt noch, vor die Kamera zu treten?
Das hatte ich ja nicht so geplant. Wenn mir eine tolle Rolle angeboten wird, bin ich dabei. Das Spielen erfüllt mich sehr. Aber solange die Angebote langweilig sind, mache ich lieber selber etwas Aufregendes.
Es gibt von Kurt Tucholsky das schöne Gedicht „Danach“. Darin heißt es: „Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt. / Man sieht bloß noch in ihre Lippen / den Helden seinen / Schnurrbart stippen / da hat sie nu den Schentelmen. / Na, un denn?“. Wie geht es also weiter mit Anna und Adrian?
Ich habe tatsächlich mal einen Anfang für eine Fortsetzung geschrieben – damit man bei Probeaufnahmen nicht immer die wichtigsten Szenen vernudelt und dann die Frische fehlt, wenn wirklich gedreht wird. Und ja, da ging es weiter, Anna und der Kommissar, Adrian und Michel, wie bei „Teorema“.
Und wann sehen wir diese Fortsetzung?
Wenn Netflix den Stoff kauft und jemand anders Regie führt.
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