Kleiner Löwe ganz groß: die Benelli Leoncino 800 Trail im Test
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Gerade auf verwinkelten Landsträßchen ist der „kleine Löwe“ in seinem Element.
© Quelle: Benelli
Was beim Auto das SUV ist, das ist beim Motorrad der Scrambler – das, was vielleicht nicht gleich alle wollen, was aber eben doch für die Mehrzahl der Autokäufer und -käuferinnen das Objekt der Begierde ist. Ähnlich wie das SUV ist der Scrambler ein attraktives Versprechen von beinahe buchstäblich grenzenloser Freiheit. Ein Versprechen, das beide aber nicht halten können. Wie sein vierrädriges Pendant gaukelt der Scrambler seinen Besitzern zwar ein Vorankommen auch abseits jeglicher Straße vor, hier wie dort aber endet das in aller Regel spätestens dort, wo Feldwege aufhören.
Nichtsdestotrotz ist der Haben-wollen-Impuls, der von dieser Motorradgattung im Allgemeinen und der Benelli Leoncino 800 Trail im Besonderen ausgeht, so groß, dass beinahe jeder Hersteller mindestens ein Modell als Scrambler deklariert. Der Ursprung des Scramblers (to scramble, englisch für klettern) liegt in den USA, wo in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts findige Bastler ihre Straßenmotorräder mit simpelsten Mitteln – Stollen- statt Straßenreifen, hochgelegtem Auspuff – auf (eher theoretische) Geländetauglichkeit trimmten. Schon bald folgte auch die Industrie diesem Trend und löste mit Scrambler-Modellen ab Werk einen kleinen, wenn auch nur kurz währenden Boom aus. Heute aber sind Scrambler im Zuge der Nostalgiewelle, die wohl nirgends so hoch schwappt wie auf dem Motorradmarkt, wieder das ganz heiße Ding. Benelli etwa bietet mittlerweile in gleich vier Hubraumklassen, 125, 250, 500 und eben 800 ccm ein Modell mit dem Namen Leoncino an, was so viel bedeutet wie „kleiner Löwe“.
Retro- und zeitgemäße Elemente
Zwar gehört die klassisch italienische Marke mit ihrer wechselvollen Geschichte – unvergessen ist die Benelli 750 Sei, das erste in Serie produzierte Motorrad mit Sechszylindermotor –, mittlerweile zur Qianjiang-Gruppe, einem der größten chinesischen Zweirad- und Motorenhersteller. Entworfen aber werden alle Modelle weiterhin im eigenen Forschungs- und Entwicklungszentrum am Stammsitz von Benelli, im italienischen Pesaro. Und das italienische Gespür für Formen und Farben sieht man der Leoncino 800 Trail auch deutlich an. So zeichnet sich diese, wenn auch sehr frei ausgelegte Verbeugung vor einem Benelli-Klassiker der 1950er-Jahre durch eine ganz eigene Interpretation des klassischen Scrambler-Looks aus. Retro- und zeitgemäße Elemente, etwa der von der Ducati Monster bekannte, offen liegende Stahlrohr-Gitterrahmen, werden hier zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt.
So ist die 800 Trail schon im Stand ein kraftvoll auftretendes Motorrad, nach dem man sich gerne auch zwei- oder dreimal umdreht. Vor allem im wieder sehr modernen British Racing Green wirkt die 800 Trail wie aus einem Guss mit ihrem markanten Tank, der durchaus bequemen Sitzbank, dem sehr schönen, zweiflutigen Auspuff und der stilisierten Nummerntafel, die an eine Wettbewerbsmaschine erinnern soll. Liebenswerte Details wie der kleine, stilisierte Löwe auf dem vorderen Fender runden dieses Bild noch ab.
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© Quelle: Mhoch4
Mit ihrem 76 PS starken Motor steht die Leoncino auch technisch gut im Futter und stellt in jeder Lebenslage respektive Fahrsituation genügend Kraft zur Verfügung. Zwar ist der Reihenzweizylinder eher der Typ „hemdsärmeliger Geselle“, das aber passt ja gut zu einem Scrambler, der ohnehin eher Naturbursche denn Gentleman ist. Die respektable Höchstgeschwindigkeit von mehr als 190 km/h bleibt allerdings besser theoretischer Natur. Spätestens ab 140 km/h ist es nämlich mit dem ganz großen Spaß vorbei. Angesichts der aufrechten und grundsätzlich angenehmen Position hinter dem weit gespreizten Lenker sitzt man dann doch so im tosenden Wind, dass es schon eine sehr starke Nackenmuskulatur braucht, um nicht den Kopf zu verlieren. Beruhigend zu wissen aber, dass die Leoncino auch bei hohen Geschwindigkeiten mit stoischem Geradeauslauf beeindruckt.
Feldwege ja, Geländeambitionen nein
Wie ernst die 800 Trail ihren Anspruch nimmt, zunächst auch dort weiterzufahren, wo die Straße aufhört, zeigt sich daran, dass sie fahrwerksseitig gegenüber ihrer schlicht Leoncino 800 betitelten Standardversion mehr Federweg (148 mm vorne, 140 mm hinten), das für geländegängige Motorräder typische, 19 Zoll große Vorderrad sowie mit dem Pirelli Scorpion Rally STR die dazu passende Serienbereifung aufweist. Und auch die schon erwähnte hochgelegte und formschöne Auspuffanlage sorgt dafür, dass unbefestigte Straßen nicht zum unüberwindbaren Hindernis werden. Mehr allerdings auch nicht. Die mehr als 230 Kilogramm, die man der Benelli zwar nicht ansieht, wollen über Stock und Stein aber doch erst einmal im Zaum gehalten werden, und auch die fehlenden Motor- und Wasserkühler-Schutzvorrichtungen sowie das nicht abschaltbare ABS weisen darauf hin, dass die 800 Trail für größere Geländeambitionen gewiss nicht gemacht ist.
Ihrer Attraktivität aber tut das überhaupt keinen Abbruch. Gerade auf verwinkelten Landsträßchen ist der „kleine Löwe“ in seinem Element. Das liegt zum einen an der bereits erwähnten, aufrechten Sitzposition, die es zum Vergnügen macht, das Bike beinahe spielerisch zu dirigieren. Einmal in Fahrt, spürt man das Gewicht kaum noch, sodass flottes Unterwegssein nie in harte Arbeit ausartet. Ein weiterer Grund für den hohen Wohlfühlfaktor ist die geglückte Ergonomie: Nichts kneift, alles passt und liegt hervorragend zur Hand. Dass die von Brembo beigesteuerte Bremsanlage etwas mehr Handkraft benötigt, als manch einer gewohnt sein mag, macht sie mit ihren feinen Manieren, einem sauberen, nie giftigen Ansprechverhalten wieder wett. Einzig und allein die beim Anfahren im ersten Gang etwas plötzlich agierende Kupplung könnte anfangs zu einer kurzen Schrecksekunde führen.
Verwöhnt werden der Pilot oder die Pilotin mit einer gediegenen, wertigen Ausstattung. So ist neben etwa der Brembo-Bremse mit der 50mm dicken Upside-Down-Gabel von Marzocchi eine weitere Komponente verbaut, die für hohe Fertigungsqualität steht. Ebenso gefällt die LED-Beleuchtung sowie das farbige TFT-Display, das allerdings bei direkter Sonneneinstrahlung damit zu kämpfen hat, gewünschte Informationen an den Mann respektive die Frau zu bringen. Das allerdings kennt man durchaus von anderen Herstellern und wäre Klagen auf hohem Niveau.
Kein Schnäppchen, aber günstiger als die Konkurrenz
Apropos hohes Niveau: Ein Sonderangebot sind Motorräder aus chinesischer Produktion längst nicht mehr. Knapp 9000 Euro sind kein Schnäppchenpreis mehr, aber immer noch deutlich weniger als das, was die Konkurrenz aufruft. So verlangt Triumph für die Scrambler 900 rund 11.500 Euro und Ducati für die Scrambler Icon betitelte und wie die Leoncino 800 Kubik bietende Einstiegsversion 10.600 Euro. Ob dieser jeweilige Mehrpreis nicht nur den traditionsreichen Namen Triumph und Ducati geschuldet ist, sondern auch einer höheren Qualität – darüber lässt sich noch nicht allzu viel sagen, weil die Leoncino noch zu neu am Markt ist. Allerdings läuft aktuell ein 50.000-Kilometer-Dauertest der Zeitschrift „Motorrad“, und nach mittlerweile 10.000 Kilometern scheinen die Kollegen und Kolleginnen bisher kaum einen Grund zur Klage zu haben.
So ist es letztlich wohl eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob sich man sich für eine Ducati, eine Triumph oder eben die Benelli entscheidet, die in Sachen Attraktivität nach Meinung des Autors auf jeden Fall mithalten kann. Dass sie ansonsten vielleicht im einen oder anderen Punkt etwas weniger perfekt ist als ihre Konkurrenten, tut dem Charme des charakterstarken Motorrads aber überhaupt keinen Abbruch. Dieser gar nicht so „kleine Löwe“ ist nun mal alles andere als eine langweilige Schmusekatze.