Wie Journalisten mit Zensur umgehen

Der neue Guerilla- und Emigrantenjournalismus in Russland

Der Kreml in Moskau bei Nacht.

Der Kreml in Moskau bei Nacht.

Moskau. Es wäre ungerecht, jene Journalisten als Kriegsgewinnler zu bezeichnen, die gerade dem Krieg ihren beruflichen Erfolg verdanken: Die Fotografen Robert Capa und James Nachtwey etwa gelten als legendäre Reporter, weil sie die Welt mit ihren eindringlichen Bildern über das unfassbar leidvolle Kampfgeschehen unter anderem in Indochina oder in Afghanistan aufklärten. Ernest Hemingway berichtete zunächst aus dem Griechisch-Türkischen Krieg (1919–1922), bevor er schriftstellerischen Weltruhm erlangte.

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Ihren Mythos begründeten Hemingway, Capa und viele andere Kriegsberichterstatter allerdings auch dadurch, dass sie der freien Presse unter Einsatz ihres Lebens dienten, woran am Dienstag am „Welttag der Pressefreiheit“ zu erinnern ist. Vor allem weil vor der Haustür seit mehr als zwei Monaten eine militärische Auseinandersetzung ausgetragen wird, zu deren Todesopfern inzwischen auch Journalisten zählen, die der Welt die Augen in Bezug auf die Vorgänge in der Ukraine öffnen wollten: Oksana Baulina, Korrespondentin des unabhängigen russischen Internetportals „The Insider“, und Vira Hyriych, die aus der Ukraine für „Radio Free Europe“ berichtete, verloren ihr Leben in Kiew im März und April, als die ukrainische Hauptstadt mit Raketen beschossen wurde. Der US-Freelancer Brent Renaud starb Mitte März an den Folgen einer Schussverletzung, während er von Kampfhandlungen in Irpin in der Nähe Kiews berichtete. Insgesamt haben acht Berichterstatterinnen und Berichterstatter ihr Leben in der Ukraine gelassen, seit es dort zu einer militärischen Eskalation kam.

Diese begann am 24. Februar, und zu dem Zeitpunkt waren noch nicht so viele internationale Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine, wie es inzwischen der Fall ist. Als Zeugen des Geschehens waren bei internationalen Medien wie CNN, der BBC, der ARD und auch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) daher zunächst deren Korrespondentinnen und Korrespondenten in Moskau gefragt, die sich zwar nicht im Krisengebiet selbst befanden, aber immer noch näher dran waren als etwa die Zentralredaktionen in Atlanta, London, Berlin oder Hannover.

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Ein Tag, an dem sich einiges änderte

Eine gute Woche lang hatten die internationalen Berichterstattenden in der russischen Hauptstadt alle Hände voll zu tun, um dem gesteigerten Informationsbedarf im Westen und anderen Teilen der Welt in Bezug auf Russland und die Ukraine gerecht zu werden. Doch dann kam der 4. März – ein Tag, an dem sich einiges ändern sollte. Denn an diesem Freitag verabschiedete das russische Parlament ein neues Mediengesetz, das Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für all jene vorsah, die sich öffentlich über das Geschehen in der Ukraine in einer Art und Weise äußern sollten, die die russische Staatsmacht für unzutreffend erklärt. Allein schon das Wort „Krieg“ ist aus deren Sicht im Zusammenhang mit der Ukraine fehl am Platz. Vielmehr gehe es um eine russische „Spezialoperation“.

Die Unsicherheit unter den internationalen Medien, wie sie mit einem solchen Gesetz umgehen sollten, war groß: Der Korrespondent einer deutschen Tageszeitung war sich zunächst sicher, Moskau nach mehr als 20 Jahren verlassen zu müssen: „Ich hab‘ versucht, unter den neuen Bedingungen einen Artikel zu verfassen, aber es macht überhaupt keinen Spaß, mit der Schere im Kopf zu schreiben“, sagte er, „ich werd‘ wohl gehen.“

Die BBC, ARD und viele weitere Vertreter der internationalen Medien stellten ihre Berichterstattung aus Moskau sofort ein. Dass dies in den meisten Fällen allerdings nur eine vorübergehende Maßnahme war, ging in der Berichterstattung darüber oft unter: „BBC, CNN und Bloomberg ziehen ihre Journalisten aus Russland ab“, meldete der „Deutschlandfunk Kultur“ und die „Bild“-Zeitung titelte „ARD und ZDF berichten nicht mehr aus Moskau“. Doch das geschah weniger „Aus Angst vor Putin“, wie das Boulevardblatt in der Dachzeile zur Überschrift schrieb, sondern eher, weil eine Denkpause nötig war, wie mit der neuen Situation umzugehen ist. Schließlich war die freie Presse aus dem Ausland durch das neue Gesetz in Russland in ein Dilemma geraten: Sie konnte sich nicht einfach einer Vorschrift beugen, die die Berichterstattung der staatlichen Aufsicht unterstellt. Das hätte dem Selbstverständnis widersprochen, aber auch die Reputation in Mitleidenschaft gezogen. Die Strafandrohung einfach zu ignorieren hätte andererseits die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort gefährdet.

Die Schere im Kopf bleibt bei der Themenauswahl

Doch die Befreiung aus der Zwangslage erschien schon nach kurzer Zeit in den meisten Fällen auf der Hand zu liegen. Sie lautete: Berichterstattung aus Moskau zu der Situation vor Ort: Ja. Aussagen zu den Vorgängen in der Ukraine vom Standort Russland aus: Nein. Von einer umfassenden Schließung der Moskau-Dependancen internationaler Medien oder vom Abzug derer Korrespondentinnen und Korrespondenten konnte denn auch nur wenige Tage später überhaupt keine Rede mehr sein: „ARD und ZDF wieder in Moskau“, meldete die „Tagesschau“ am 11. März. Die BBC hatte ihre englischsprachige Berichterstattung aus der russischen Hauptstadt schon drei Tage vorher wieder aufgenommen.

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Mit der Schere im Kopf müssen die internationalen Berichterstatterinnen und Berichterstatter in Moskau seither allerdings trotzdem umgehen. Nicht so sehr beim Verfassen der Beiträge selbst, aber bei der Auswahl der Themen. Und das ist schmerzlich genug. Denn Journalistinnen und Journalisten sind darauf trainiert, genau jene Problematiken aufzugreifen, die für die Öffentlichkeit am relevantesten sind. Und zu diesen gehört im Augenblick nun mal der Hergang der Dinge in der Ukraine, und wie er von der russischen Politik bestimmt und der russischen Öffentlichkeit rezipiert wird.

Die internationale Presse berichtet darüber jetzt regelmäßig aus den Heimatredaktionen im Ausland, obwohl sie ja Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, die das direkt von Moskau aus tun könnten – oftmals aber nicht, ohne ihre persönliche Sicherheit zu gefährden. Andererseits bleiben die Entwicklungen in Russland in Bezug auf die Innen- und Außenpolitik, die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft und die Menschenrechte ganz unabhängig von der Ukraine so wichtig, dass internationale Qualitätsmedien auf Stimmen direkt aus dem Land nicht verzichten wollen.

„Die Zerstörung des unabhängigen Journalismus in Russland“

Das neue Mediengesetz gilt in erster Linie auch nicht den fremdsprachigen Berichterstattern. Es wurde vor allem verabschiedet, um die Nachrichten in russischer Sprache auf Linie zu bringen. Das lässt sich allein schon daran festmachen, dass der russische Dienst von Auslandssendern wie der BBC inzwischen in Russland blockiert ist, die BBC in englischer Sprache aber weiterhin aus dem Land berichtet und etwa englische BBC-Nachrichten zur russischen Wirtschaft dort nach wie vor abgerufen werden können.

Allerdings gehört es zu den Eigenheiten der russischen Autokratie, dass sich niemand sicher sein kann, nicht doch in ihr Visier zu geraten. Ihr typisches Vorgehen wird am Fall der Künstlerin Aleksandra Skochilenko deutlich, die im März Anti-Kriegs-Slogans verbreitete und nun in U-Haft sitzt: Erst wird ein repressives Gesetz erlassen, dann bei einzelnen Verstößen dagegen ein Exempel statuiert – mit teils drakonischen Strafen. Dadurch wird ein allgemeines Angstklima mit dem Ziel geschaffen, dass niemand mehr gegen staatliche Anordnungen aufbegehrt. Einzelne internationale Korrespondentinnen oder Korrespondenten könnten also durchaus mit der russischen Strafjustiz konfrontiert werden, wenn sie etwa von einem „Krieg in der Ukraine“ sprechen würden.

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Die Probleme der russischen Presse, die wie die Tageszeitung „Nowaja Gaseta“, der Internet-TV-Kanal „Doschd“ oder der Radiosender „Echo Moskwy“ bis vor Kurzem um eine freie Berichterstattung bemüht waren, sind inzwischen allerdings deutlich gravierender. Nach Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine wurde ihnen allen die Weiterarbeit innerhalb Russlands unmöglich gemacht: „In den ersten Wochen des Krieges hat die russische Staatsmacht das geschafft“, schreibt der Journalist und Medienexperte Ilja Klischin auf „The Insider“, „was ihr ein Jahrzehnt lang nicht gelungen ist – die Zerstörung des unabhängigen Journalismus in Russland.“

Noch gibt es Nischenpublikationen

Klischin legt in seinem Beitrag allerdings Wert auf die Feststellung, dass es das Regime zwar fertiggebracht habe, den Journalismus in Russland weitgehend zu säubern, nicht aber den russischen Journalismus als solchen. Letzterer existiere weiterhin in zwei Formen: Erstens gebe es nach wie vor Medien, die noch nicht im Blickfeld der Behörden seien: Regional-, Branchen- und Nischenpublikationen, auch einzelne Podcasts und Videoblogs hätten überlebt. Zweitens werde die kritische russische Berichterstattung nun zunehmend aus dem Ausland erfolgen.

Beides ist tatsächlich schon zu beobachten: Die frühere „Doschd“-Korrespondentin Maria Borzunowa etwa gibt in Russland jetzt den Newsletter „Masha on Tour“ heraus. Sie sei sich nicht sicher gewesen, was sie nun tun würde, nachdem „Doschd“ eingestellt wurde, sagt sie. Aber zurück an die Arbeit zu gehen habe sie beruhigt. Die Radiojournalistin Tatjana Felgenhauer, vorher „Echo Moskwy“, rief den Youtube-Kanal „Dawaj po faktam“ („Halten Sie sich an die Fakten“) ins Leben, auf dem sie Experten interviewt. „Es ist mir wichtig, den Leuten zu erklären“, sagt sie, „wie sie Nachrichten lesen sollen.“

Klischin erwartet allerdings, dass auch solch freischärlerischen Publikationen in Russland früher oder später ins Visier der Staatsmacht geraten werden. „Sie dürften auf Dauer nur weiter halten können“, prognostiziert er auf „The Insider“, „wenn sie sich entweder der Staatsdoktrin anpassen oder sich einer ‚äsopischen Sprache‘ bedienen.“ Der Begriff, der auf den antiken griechischen Dichter Äsop zurückgeht, beschreibt eine Publikationsmethode, die in der Sowjetdiktatur gebräuchlich war, um die Zensur dadurch zu umgehen, dass die Verhältnisse nicht direkt kritisiert wurden, sondern durch Gleichnisse, die der Staatsmacht harmlos erschienen.

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Ansprache des russischen Publikums aus dem Ausland

Die wirksamere Überlebenstechnik für die freie russische Presse besteht im Gang ins Ausland. Klischins Organ „The Insider“ ist ebenso wie etwa das Portal „Meduza“ schon lange vor der militärischen Eskalation in der Ukraine ausgewandert, nun folgen weitere Medien. Ende April startete etwa die „Nowaja Gaseta“ eine Ausgabe, die im europäischen Ausland produziert wird, sich aber an ein russisches Publikum richtet. Kirill Martinow, Chefredakteur der neuen „Nowaya Gazeta Europe“, sagte dem NDR-Medienmagazin „Zapp“: „Wir haben verstanden, dass Europa der einzige Ort ist, an dem wir in den kommenden Wochen, Monaten oder sogar Jahren unsere Arbeit machen können.“

Guerilla- oder Emigrantenjournalismus, das sind die Möglichkeiten, die den unabhängigen Medien Russlands am Tag der Pressefreiheit des Jahres 2022 noch geblieben sind.

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