Warum Nicolette Krebitz den Mauerfall verschlafen hat
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Arbeitet an einem neuen Film als Regisseurin: Nicolette Krebitz.
© Quelle: Filmverleih
Frau Krebitz, vor 30 Jahren fiel die Mauer. Wo waren Sie am 9. November 1989?
Ich bin am 9. November früh ins Bett gegangen und bin nicht zur Mauer gefahren, obwohl Freunde mich angerufen und gesagt haben: „Los, komm mit zur Mauer!“
Warum sind Sie denn nicht mitgefahren?
Am nächsten Tag sollte eigentlich ein Dreh auf dem Kurfüstendamm sein – für einen Film mit Katharina Thalbach, der hieß „Der achte Tag“. Ich sollte am Morgen um 5 Uhr abgeholt werden und habe deshalb gesagt: Ich muss früh ins Bett. Ich hatte großen Respekt vor Katharina Thalbach und vor dem Drehtag. Ich war ja auch noch sehr jung.
Hat es sich denn wenigstens gelohnt, diesen historischen Abend zu verschlafen?
Nein. Ich bin am nächsten Morgen früh aufgestanden, nur um zu einem völlig verwüsteten Kurfürstendamm zu fahren. Ich kam dann in das Hotel, in dem sich Kostüm und Maske befanden. Dort liefen alle total aufgeregt herum, weil fast keiner geschlafen hatte. Das waren natürlich alles erwachsene Menschen, die viel besser einschätzen konnten, um was für einen geschichtsträchtigen Tag es sich handelte oder besser: um was für eine geschichtsträchtige Nacht, die sie sich mitzuerleben erlaubt haben. Und dann wurde gar nicht gedreht.
Warum nicht?
Der Ku’damm war einfach nicht zu gebrauchen, den konnte man so schnell nicht aufräumen. Es war ein so verrückter Tag für alle, das war einfach kein Arbeitstag – ich glaube, für niemanden so richtig in diesem Land.
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Eine Nacht zum Feiern: Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.
© Quelle: Peter Kneffel/dpa
Froh, dass es die Mauer nicht mehr gibt
Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Zeit erlebt?
Mit welchen Gefühlen? Das kann ich nicht mehr sagen, es ist ja schon sehr lange her. Ich kann nur sagen, wie ich mich jetzt fühle: Ich bin froh, dass es die Mauer nicht mehr gibt. Ich erinnere mich noch, wie bedrückend es war, dass diese Mauer existierte. Und dass es einem heute so verrückt erscheint, dass eine Mauer dieses Land teilte. Es herrschte eine große Düsternis um diese Mauer.
Sie sind größtenteils in West-Berlin aufgewachsen.
Ja, und wenn man vor dieser Mauer stand ... Es ist Wahnsinn, was man sich da alles vorgestellt hat. Ich bin als Kind durch diese stillgelegten U-Bahnhöfe in der geteilten Stadt auf dem Weg zur Schule gefahren. Das hatte so etwas Irreales und düster Beklemmendes. Ich habe mich dann immer schuldig gefühlt, obwohl ich ja als Kind nichts dafürkonnte. Und andererseits meinte ich, man müsste etwas tun, aber gleichzeitig haben wir uns auch taub und stumm gefühlt, weil es nicht in unseren Händen lag, etwas zu ändern.
War die Mauer für Sie als West-Berlinerin etwas, das in Ihrer Kindheit und Jugend einfach da war, wie selbstverständlich dazugehörte?
Ich glaube nicht, dass die Mauer für irgendeinen, der in Berlin wohnte, einfach gleichgültig nur dazugehörte. Es war immer eine Schwere, die damit verbunden war. Je älter man war und je mehr man wusste und die Zusammenhänge begreifen konnte, desto mehr entwickelte man eine Haltung zur Mauer. Für mich als Kind war sie immer albtraumhaft, so ist es mir in Erinnerung. Aber natürlich spielte die Teilung jetzt nicht jeden Tag eine Rolle, weil ich ja auch all die anderen Dinge zu erledigen hatte, die man als Kind so macht.
Flirt mit dem Westen
Auch in Ihrem neuen ZDF-Film, dem Dreiteiler „Preis der Freiheit“, geht es um die Vorwende- und Wendezeit. Der Film ist angesiedelt in einer wenig bekannten Behörde namens Kommerzielle Koordinierung, kurz KoKo. Was hat es denn damit auf sich?
Man könnte es so beschreiben, dass es in der DDR eine eigentlich kapitalistisch strukturierte Firma gab, die zum Ziel hatte, Devisen zu besorgen, um beim Erhalt des Landes zu helfen und im Falle eines Bankrotts mit diesen Devisen auszuhelfen. Wir im Westen haben das mitbekommen durch die Intershops, in denen man ja nur mit D-Mark bezahlen konnte. Es gab aber auch zum Beispiel die Gefangenenaustausche, bei denen Geld geflossen ist. Dass die Bundesrepublik Müll an die DDR verkauft hat, kam erst kurz vor der Wende heraus. Hinter alldem steckte eine richtige Firma, das war die KoKo.
In „Preis der Freiheit“ geht es um drei Schwestern, eine ist regimetreu, eine ist eine Oppositionelle, und es gibt Ihre Rolle. Sie spielen Silvia, die vor Langem aus dem Leben der Schwestern verschwunden ist und unter neuem Namen im Westen gegen das DDR-Regime kämpft. Wie würden Sie diese Frau beschreiben?
Ich glaube, sie ist eine sehr gebrochene Frau, die in der Jugend mit der Freiheit und dem Westen geflirtet hat – was mit ihrer Art des Erwachsenwerdens und ihrer Idee von persönlicher Freiheit zusammenhing. Unter dem Vorwand ihrer Schwester, ihr zu helfen – weil sie die Gefahr gesehen hat, dass Silvia mit ihren Fluchtgedanken auffliegt –, verlässt sie über Nacht das Land. Aber sie ist ihrer Schwester auf den Leim gegangen.
Aber man fragt sich natürlich schon: Wie bitte, eine Frau hat ihre Kinder zurückgelassen? Wie so etwas passieren konnte in einem geschlossenen System wie der DDR, wird an ihrem Beispiel sehr gut deutlich.
Nicolette Krebitz
Wie das?
Silvia realisiert erst im Westen, dass der Weg zu ihren Kindern und zurück in den Osten und zu ihrer Familie versperrt ist. Plötzlich stand sie im Westen allein da und sah sich mit den Konsequenzen ihrer leichtsinnigen jugendlichen Ideen konfrontiert. Natürlich hat sie nach so vielen Jahren – also in der Gegenwart, in der der Film spielt – so etwas wie Rachegefühle. Aber sie will auch, dass es vorwärts geht, und sucht den Kontakt zu ihren Kindern. Aber man fragt sich natürlich schon: Wie bitte, eine Frau hat ihre Kinder zurückgelassen? Wie so etwas passieren konnte in einem geschlossenen System wie der DDR, wird an ihrem Beispiel sehr gut deutlich.
Mehr zum Thema 30 Jahre Mauerfall lesen Sie hier: Mein Traum von Deutschland
Ist es das, was Sie an der Rolle interessiert hat?
Mich hat mehr das Ganze interessiert, dass die Wiedervereinigung sozusagen ein schmutziges Geschäft war. In diesem Zusammenhang eine Figur zu spielen, die das miterklärt, das war mir wichtig.
Warum kam die Wiedervereinigung so schnell?
Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass Sie jedes Werk erst dann wirklich interessant finden, wenn Sie etwas mit dem Werk zu tun haben. Was haben Sie denn mit dieser Silvia gemeinsam?
Was man so sagt in Interviews ... Ich würde es eher so ausdrücken: Ich kann nichts spielen, was ich nicht verstehe. Wenn ich als Filmemacherin spreche, dann rede ich über etwas, das mich auch betrifft. Aber als Schauspielerin habe ich eine ganz andere Aufgabe. Da schaue ich mir an, was mir der Regisseur oder das Buch erzählen wollen. Kann ich mir vorstellen, das zu sein? Auch wenn ich es nicht selbst erlebt habe?
Es gibt ja bereits jede Menge Filme über die DDR. Warum noch einen weiteren?
Jetzt ist ja Jubiläum, 30 Jahre Mauerfall. Und das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat einen Kulturauftrag. Ich glaube, das ist schon ein sehr wichtiger Grund. Außerdem herrschen in den Sichtweisen auf die deutsche Geschichte und Gegenwart immer noch große Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Und der Film wirft ja interessante Fragen auf: Warum kam die Wiedervereinigung so schnell? War sie wirklich der Wunsch der Menschen, oder steckte auch ein kapitalistisches Interesse dahinter, das viele Firmen in den Konkurs gehen und viele Menschen in der DDR arbeitslos werden ließ?
Gerade die wirtschaftliche Situation nach der Wiedervereinigung hat ja viele Gräben aufgeworfen.
Eben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Arbeit in der DDR ganz anders verankert war als im Westen. Jede Frau, jeder Mann hatte Arbeit, und egal, wie viel dieses Geschäft oder jene Firma mit dieser Arbeitskraft Umsatz und Gewinn erzielte, gehörte es allein zum Menschsein dazu, dass man Arbeit hatte. Wenn diese Arbeit dann weggenommen wird, entwickelt sich eine ganz andere Art der Depression, die wir aus dem Westen manchmal unterschätzen, wenn wir sagen: Ja, was haben die denn? Warum beschweren die sich jetzt? Und ein Film wie „Preis der Freiheit“, in dem Hintergründe gezeigt werden, wie was gekommen ist und was auf wessen Kosten veranlasst wurde, kann dazu beitragen, dass man mehr Verständnis füreinander entwickelt.
Haben solche Filme also auch einen pädagogischen Nutzen?
Ich würde sagen, eine Verantwortung. Die Verantwortung, dass ARD und ZDF nicht nur eine spannende Geschichte erzählen, sondern helfen, Geschichte zu transportieren und zu verarbeiten, Informationen zu liefern und einen anderen Blick auf die Geschehnisse zu werfen.
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Drei Filmschwestern und eine Filmmutter: Nicolette Krebitz (v. l.), Barbara Auer, Nadja Uhl und Angela Winkler bei den Dreharbeiten zum ZDF-Dreiteiler „Preis der Freiheit“.
© Quelle: Mathias Bothor/ZDF/dpa
Sie haben in „Preis der Freiheit“ das erste Mal zusammen mit Barbara Auer und Nadja Uhl gedreht. Ich dachte immer, in der ja nun nicht gerade riesigen Schauspielszene Deutschlands kann man sich gar nicht so lange aus dem Weg gehen ...
Ja, das ist verrückt. Aber ich habe tatsächlich noch nie mit den beiden zusammen gespielt. Und das war für mich auch ein Argument, die Rolle anzunehmen, weil mich das Arbeiten mit beiden interessiert hat. Weil ich beide auf ihre Art toll finde.
Wie war die Zusammenarbeit?
Mit Barbara hatte ich gar nicht so viele gemeinsame Szenen, mit Nadja schon mehr. Aber besonders mit Nadja habe ich mich privat wahnsinnig gut verstanden, wir hatten uns sehr viel zu erzählen und werden das auch weiterhin tun.
Sprechen Sie mit Nadja Uhl denn auch über Ost und West? Ist das heute noch ein Thema?
Die ganze Zeit. Zum einen, wenn wir privat sprechen. Aber vor allem am Set dieses Dreiteilers war das ständig ein Thema. Wenn Sie sich den ganzen Stab anschauen – von Thomas Tiede über Milan Peschel und Oliver Masucci und Barbara und Nadja und mich –, das war im Verhältnis so 50:50 zwischen Ost und West. Wir haben ständig verglichen: „Bei uns war das so.“ „Echt, nein, bei uns war das aber so und so.“ Sonst haben am Set meistens ja alle nur noch ein Handy in der Hand. Das war bei diesem Dreh nicht so, es gibt da noch ein großes Bedürfnis, einander über das Thema viel zu erzählen und sich auszutauschen. Und meistens sind die Geschichten aus dem Osten immer ein wenig spannender als unsere. Aber vielleicht geht es denen ja andersherum genauso.
Sie haben mit „Wild“ einen wunderbaren und hochgelobten Film als Regisseurin gedreht. Ist es eigentlich einfach, sich danach wieder in die Rolle der Schauspielerin zu begeben?
Wenn es für jemanden schwierig ist, dann eher für die jeweiligen Regisseure – für mich nicht. Als Schauspielerin bin ich sofort mit so vielen Aufgaben konfrontiert, die ich bei den Dreharbeiten bewältigen muss, die das Innere und das Verstehen und das Empfinden betreffen. Da habe ich gar keine Zeit, darüber nachzudenken, wie jetzt diese und jene Szene von außen aussieht und wie ich das gemacht hätte. Aber Regisseure, mit denen ich arbeite, denken dann schon manchmal, dass ich ihnen in die Karten schaue. Oder dass ich mich jetzt bestimmt frage, warum sie diese Szene jetzt so und so drehen.
Können Sie das nachvollziehen?
Ja, ich empfinde das auch als total nervig. Aber je besser der Regisseur ist, desto weniger ist das der Fall. Unsichere Regisseure jedoch empfinden das als eine Bedrohung.
Arbeit an einer Liebesgeschichte
Woran arbeiten Sie als Nächstes?
Ich bin gerade in der Vorbereitung für meinen nächsten Film, der heißt „A E I O U“. Wir sind gerade beim Casting und wollen nächstes Jahr drehen. Das Drehbuch habe ich selbst geschrieben.
Worum geht es?
Es ist eine Liebesgeschichte.
Sie haben mal gesagt, Sie wollen Udo Kier heiraten. Haben Sie immer noch einen guten Kontakt miteinander?
Ja, das haben wir.
Ist irgendwann mal ein gemeinsamer Film denkbar?
Ich würde mir sehr wünschen, dass er in „A E I O U“ mitspielt. Mal sehen, ob wir das hinbekommen.
Es gibt wenige Genres, die ihr fremd sind: Nicolette Krebitz ist Schauspielerin, Regisseurin, Musikerin, Sprecherin für Hörspiele und Hörbücher und ausgebildete Tänzerin. Sie lernte klassischen und modernen Tanz am Berliner Ballett-Centrum und Schauspiel an der Fritz-Kirchhoff-Schule.
Kindheit, Jugend, Ausbildung sind geprägt von der Erfahrung der geteilten Stadt Berlin. Nicolette Krebitz wurde 1972 in West-Berlin geboren, wuchs zunächst in Braunschweig und dann wieder in Berlin auf. Da passt es, dass der erste Filmerfolg für die begabte Zwölfjährige 1984 an der Seite des Ur-Berliners Harald Juhnke in „Sigi, der Straßenfeger“ gelang. Zum Casting hatte ihre Mutter übrigens eigentlich die ältere Schwester schicken wollen.
Krebitz gehört längst zu den vertrauten Gesichtern des deutschen Films. Jetzt ist sie im ZDF-Dreiteiler „Preis der Freiheit“ zu sehen – er läuft vom 4. bis 6. November jeweils um 20.15 Uhr. Sie arbeitet aber auch als Regisseurin und Drehbuchautorin. Ihr Spielfilm „Wild“ erhielt vier Auszeichnungen beim Deutschen Filmpreis 2017 und schaffte es als deutscher Beitrag zum Sundance Film Festival 2016.