„The Guilty“ – Jake Gyllenhaal und die Tücke der Telefonie
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Ein Anruf verändert alles für den Polizisten: Joe Bailor (Jake Gyllenhaal) hört in „The Guilty“ am Telefon der Notrufzentrale die Stimme einer zu Tode verängstigten Frau.
© Quelle: NETFLIX © 2021
Die Regeln der Thrillertelefonie im Kino lauten so: 1. Du kannst nichts sehen, das Telefon kann dich also betrügen. 2. Du kannst alles hören, aber du bist zu weit weg, um jemanden zu retten.
So war das 2018 auch in „The Guilty“ (Originaltitel „Den skyldige“), dem Regiedebüt von Gustav Möller. Der exzellente Jakob Cedergren verkörperte einen Telefonisten in der Notrufzentrale. Plötzlich hatte jener Asger Holm eine Frau in der Leitung, die entführt worden war, die im Auto ihres Kidnappers saß und wimmerte. Vom Entführer erhielt er den Rat: „Halten Sie sich da raus!“ Machte Holm nicht. Berufsehre.
Es war klar: Hollywood würde ein Remake machen
Kleines Setting, riesige Spannung. Alles spielt in der Zentrale. Holm ist ein nach einem „Vorfall“ zum Bürodienst verdonnerter Polizist. Blind vor Tatendrang will er etwas Gutes und Großes tun. Doch Hybris bringt ihn dazu, Kompetenzen zu überschreiten, falsche Entscheidungen zu treffen.
Das Skript von Möller und Emil Nygaard Albertsen war bis zum Ende voller Finessen. Der Film war damals Dänemarks Einreichung für die Oscars 2019. Man wettete zwar, dass so ein kleiner Thriller keine Chance hätte, und behielt recht. Man wettete aber zudem, dass Hollywood binnen fünf Jahren ein Remake machen würde. Das war so sicher wie damals das nächste unheilvolle Telefonklingeln im Kino.
Es hat dann sogar nur drei Jahre gedauert, bis der Streamingdienst Netflix, der übrigens 2019 mit Alfonso Cuaróns Einreichung für Mexiko, „Roma“, den Oscar für den besten fremdsprachigen Film einfuhr, die US-Version von „The Guilty“ online schickte. Das Remake hat starke Macher: Antoine Fuqua („Training Day“, „Southpaw“) führt Regie, das Drehbuch stammt von Nic Pizzolatto, dem „True Detective“-Macher, Produzent und Hauptdarsteller ist Jake Gyllenhaal („Brokeback Mountain“). Und wer das Original noch nicht kennt, der wird die US-Variante des 90-minütigen Echtzeitthrillers durchaus atemlos verfolgen.
Joe Bailor wird mit einigem an Hintergrund ausgestattet
Der zu Stubendienst verdonnerte Joe Bailor wird mit etwas mehr persönlichem Hintergrund ausgestattet als der Polizist im dänischen Original. Wie Holm hat auch Bailor sich beruflich etwas erst am Filmende ausgesprochenes Schweres zuschulden kommen lassen. Deswegen soll er sich anderntags vor Gericht verantworten, deswegen sitzt er überhaupt am 911-Telefon des LAPD und vermittelt Hilfsbedürftige an Polizei- und Rettungskräfte.
Bailor ist einer, der schnell durch die Decke geht. Die Junkies, die sich in ihren Delirien verlieren, oder die Freier, die sich im Auto von Prostituierten beklauen lassen, nerven oder belustigen ihn. Er sagt ihnen ein „selbst schuld“ in den Hörer oder wirft sie ganz aus der Leitung, seine Mitarbeiter im Büro kanzelt er ab. Bailor hat eine kaputte Ehe, die Ex lässt nur kleine Zeitfenster mit der Tochter zu.
Und dann muss der Asthmatiker auch noch gefühlt alle drei Minuten zum Spray greifen, denn beißender Rauch hängt über der Stadt der Engel. Bereits das erste Bild ist das eines Löschhubschraubers, der auf die Wildfires zuknattert. Ganze Berge stehen in Flammen, der Himmel ist in ein rußiges Orangerot gehüllt.
Plötzlich hat er diese total verängstigte Frau am Ohr, die so tut, als unterhalte sie sich statt mit Bailor mit ihrer kleinen Tochter Abby. Und die ihm auf diese Art Hinweise auf ihre Entführung gibt. Bailor ist mit einem Schlag hellwach. Hier ist etwas Wichtiges – eine von ihrem Ex bedrohte Frau, deren sechsjähriges Mädchen und deren Junge, ein Baby, allein zu Hause zurückgelassen wurden. Alle Hebel setzt er in Bewegung, ihnen Hilfe zukommen zu lassen, den weißen Van zu finden, in dem ein Opfer offenbar seiner Tötung entgegenfährt.
Der aufgeregte Bailor vergisst Telefonieregel eins
Alte Bringschulden unter Kollegen holt Bailor ein, sammelt Information um Information und gibt der Gekidnappten Tipps, wie sie sich ihres Peinigers entledigen könnte. Noch nach Ende seiner Schicht steuert er vom Nebenzimmer der Zentrale aus den Fall. Wird zunehmend wütend ob seiner Ohnmacht bezüglich Thriller-Telefonieregel Nummer zwei. Und er vergisst darob glatt Regel Nummer eins. Zur Erinnerung: Du kannst nichts sehen.
Gyllenhaal liefert ein eindrucksvolles Solo
Es ist ein Solo für Gyllenhaal, für die Kamera von Maz Makhani liefert er via Mimik und Gestik eine Tour de Force – in einem Film, der zu 99 Prozent an nur einem einzigen, recht begrenzten Ort spielt. Die Rollen von Christina Vidal und Adrian Martinez sind winzig.
Zu hören sind am 911-Telefon (jedenfalls in der englischsprachigen Version) allerdings noch einige namhafte Schauspieler. Elvis-Enkelin Riley Keough etwa ist die weinende Emily, Peter Sarsgaard ihr Entführer, unter den weiteren Sprechrollen finden sich Paul Dano, Ethan Hawke und David Castañeda.
Der Protagonist steht im Fegfeuer der Schuld
„The Guilty“ – das ist Gyllenhaals Figur, gewiss. Die Flammen um Los Angeles sind eine Metapher, das Fegfeuer eines Schuldigen, der glaubt, vom Schicksal eine Bewährungsprobe zugespielt zu bekommen. Schuldig oder bereit, sich schuldig zu machen, sind aber auch andere in diesem Thriller, sodass der Filmtitel nicht unbedingt als Singular zu lesen ist.
Die Schlusspointe ist die gleiche wie bei Möller – besser: fast die gleiche. Denn die Rabenschwärze, mit der das dänische Original seinem Publikum aufs Gemüt schlug, mildert Fuqua mit einem kleinen Satz entscheidend ab. In der amerikanischen Version wird Reue belohnt. Früher hätte das führende Streaminghaus vor kompletter erzählerischer Finsternis nicht gescheut. Man sollte auch bei zunehmenden Publikumsmassen nicht zum Lieferanten von Mainstreamlösungen werden. Sonst wird aus dem Qualitätsfernsehen bald eines der Beliebigkeit.
„The Guilty“, 91 Minuten, Regie: Antoine Fuqua, mit Jake Gyllenhaal, Christina Vidal, Adrian Martinez und den Stimmen von Riley Keough, Ethan Hawke, Paul Dano, Peter Sarsgaard (bei Netflix)