„Spiegel“ macht eigenen Betrugsfall publik

Drama beim „Spiegel“: Gefälschte Reportagen wurden nicht erkannt

Drama beim „Spiegel“: Gefälschte Reportagen wurden nicht erkannt

Hamburg. Kurz vor Weihnachten hat der "Spiegel" einen handfesten Skandal aufgedeckt. Betroffen ist das Hamburger Nachrichtenmagazin selbst. Der preisgekrönte Reporter Claas Relotius hat anscheinend über Jahre Protagonisten und Dialoge seiner Reportagen frei erfunden. Das teilte der "Spiegel" in einer umfangreichen internen Dokumentation mit. Nach den ersten Verdachtsfällen hatten Kollegen mehrere Monate lang recherchiert und angebliche Gesprächspartner interviewt. Nach anfänglichem Leugnen gab Relotius die Vorwürfe zu. "Claas Relotius hat mit Vorsatz, methodisch und mit hoher krimineller Energie getäuscht", schreibt der "Spiegel" auf seiner Homepage. Relotius (Jahrgang 1985) ist seit 2017 beim "Spiegel" fest angestellt, zuvor war er freier Autor. Erst kürzlich erhielt er den Reporterpreis des "Reporter-Forums" für einen Text über einen syrischen Jugendlichen, der mit einem Graffito den Bürgerkrieg in dem arabischen Land auslöste. Die Jury schrieb in ihrer Begründung, der Autor habe einen Text geschrieben Text geschrieben "von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offen lässt, auf welchen Quellen er basiert".

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Genau diese Frage scheint nun bei mindestens 14 Texten im „Spiegel“ offen zu sein. Sie seien in Teilen gefälscht, hat der Autor eingeräumt.

Ein Kollege hatte den ersten Verdacht

Erste Verdachtsmomente ergaben sich nach Veröffentlichung des Textes „Jaegers Grenze“ über eine US-Bürgerwehr an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, der im November 2018 erschien. Der „Spiegel“-Reporter Juan Moreno, der diese Geschichte zusammen mit Relotius recherchierte, wurde misstrauisch und begann die Angaben seines Kollegen zu überprüfen. Sehr offen schreibt der „Spiegel“ über die Schwierigkeiten, mit denen Moreno konfrontiert war: „Anfangs rannte er gegen Wände wie ein Whistleblower, dem nicht geglaubt wird. Aber er ließ nicht locker und nutzte eine Recherchereise in anderer Sache in die USA, um Material gegen Relotius zu sammeln - und um sich selbst zu schützen. Denn auch sein Name steht über der zweifelhaften Geschichte.“ Dabei kam heraus: Die Hauptfigur „Jaeger“ gibt es gar nicht. Schließlich räumte Relotius die Fälschungen ein. Der „Spiegel“ hat nun eine Kommission eingesetzt, um alle Texte des Reporters zu überprüfen. Ihr wird unter anderem der neue Nachrichtenchef Clemens Hoeges angehören.

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Die Mailadresse ist abgeschaltet

Auch andere Medien sind in heller Aufregung. Relotius schrieb als freier Journalist auch für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, den „Guardian“ und das Magazin „Cicero“. Dessen Chefredakteur Christoph Schwennicke sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), er werde seinen früheren Autor jetzt auffordern, ihm mitzuteilen, ob Texte oder Zitate gefälscht seien. Für „Cicero“ interviewte Relotius vor allem Regisseure und Schauspieler wie Joaquin Phoenix, Steve McQueen und Aki Kaurismäki. „Wir haben nie eine Beschwerde erhalten“, beruhigt sich Schwennicke. Seine E-Mail an Relotius aber kam als unzustellbar zurück. Auch sein Twitter-Profil hat der Reporter bereits gelöscht.

In den sozialen Netzwerken zeigen sich Kollegen schockiert über den aufgeflogenen Betrug – und mahnen mehr Aufmerksamkeit in der Branche an.

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Der „Spiegel“ hat die größte Dokumentationsabteilung der deutschen Medienhäuser, die akribisch Fakten geplanter Geschichten überprüfen. Bei Relotius waren auch die Dokumentare machtlos. „Reportagen kann man nur auf Plausibilität überprüfen“, sagt „Cicero“-Chef Schwennicke. Soll heißen: Die Details der Wahrnehmung des Reporters sind Treu und Glauben unterworfen. „Seine Arbeit basiert auf einem Grundvertrauen, das ihm die Redaktion zu Hause schenkt“, schreibt „Spiegel“-Chefredakteur Ullrich Fichtner. Niemand kann hinterher nachprüfen, welche Musik gespielt wurde. Bei Relotius wurde sehr oft Musik gespielt. Und immer passte sie. Aufgefallen ist das erst jetzt.

Einhelliges Lob bekommt das Magazin für seinen Umgang mit dem Skandal im eigenen Haus. Chefredakteur Fichtner verspricht Aufarbeitung und findet sehr selbstkritische Worte: „Der Fall Relotius legt offen, dass wir unseren Ansprüchen nicht gerecht geworden sind. Der Fall konfrontiert uns mit unseren eigenen Schwächen. Er ist für das gesamte Haus eine Zäsur.“

Von Jan Sternberg/RND

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