Sexy war gestern: Wie Kate Winslet, Julie Delpy und Sandra Bullock das TV-Frauenbild revolutionieren

„Mare sollte nicht wirken wie eine dieser unrealistischen Superfrauen“: Kate Winslet als Kleinstadtpolizistin Mare Sheehan in einer Szene aus „Mare of Easttown“.

„Mare sollte nicht wirken wie eine dieser unrealistischen Superfrauen“: Kate Winslet als Kleinstadtpolizistin Mare Sheehan in einer Szene aus „Mare of Easttown“.

Nein, sagte Kate Winslet, so bitte nicht. Sie war nicht einverstanden mit dem Werbeposter für ihre neue HBO-Serie „Mare of Easttown“. Viel zu glattgebügelt erschien ihr das eigene Gesicht, bearbeitet und geschönt bis zur Unkenntlichkeit. Zweimal musste die Grafikabteilung das Motiv korrigieren, bis Winslet (46) zufrieden war. So sollte ihre Figur aussehen, die schratig-schroffe Kleinstadtpolizistin Mare Sheehan aus Pennsylvania: ungeschminkt, mit tiefen Augenringen und zerzausten Haaren, abgekämpft, müde, zerschossen. Kein Glamour, nirgends. Wie ein ganz normaler Mensch eben. „Mare sollte nicht wirken wie eine dieser unrealistischen Superfrauen“, sagte Winslet der „New York Times“. „Denn die meisten Frauen sind nicht so. Mare hat gar keine Zeit, in den Spiegel zu gucken.“

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„Mare of Easttown“ erzählt die düstere und vielschichtig verwobene Geschichte einer tief traumatisierten Ermittlerin, die vor dem Schmerz über den Suizid ihres Sohnes in eine Mordermittlung flieht, selbst tief verheddert in das Beziehungsgeflecht ihrer maroden Gemeinde im Nirgendwo. Es ist eine der großartigsten Serien der vergangenen Jahre. „Ich liebe Mares Narben, ihre Fehler, ihre Makel und die Tatsache, dass sie keinen Ausschalter, keinen Stoppknopf hat“, sagt Winslet. Die von Brad Ingelsbys entwickelte Serie ist ein Meilenstein. Einerseits wegen der brillanten Story. Andererseits, weil die Oscarpreisträgerin alle optischen Tricks ablehnte, jedes digitale Lifting. Sie bestand darauf, Krähenfüße, Falten und schlaffe Haut zu zeigen. Warum? Weil Menschen nun mal Krähenfüße, Falten und schlaffe Haut haben.

Als Regisseur Craig Zobel Winslet anbot, in einer Liebesszene ihren winzigen Bauchansatz zu retuschieren, war ihre Antwort sehr deutlich: „Wage es nicht!“

„Ich bin 46, nicht 96!“: Julie Delpy ist Autorin, Regisseurin und Schauspielerin – und kämpft für mehr Filme von Frauen.

„Ich bin 46, nicht 96!“: Julie Delpy ist Autorin, Regisseurin und Schauspielerin – und kämpft für mehr Filme von Frauen.

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Lange waren starke, realistische Rollen für Frauen jenseits der 40, die auch mal grantig, zornig, schwierig und verschusselt sein durften, Mangelware in der Traumfabrik. Ausnahmen wie Frances McDermond in „Olive Kitteridge“ oder Jane Fonda und Lily Tomlin in „Grace und Frankie“ waren rar gesät. Im Kern galt stets das alte Hollywoodmotto: Jugend ist Macht. So sehr, dass die Schauspielerin Junie Hoang vor einigen Jahren die Filmdatenbank IMDB.com (erfolglos) verklagte, weil diese ihr wahres Geburtsdatum angab. Hoang fürchtete, keine Jobs mehr zu bekommen.

Ältere Schauspielerinnen früher: bestaunte Exotinnen in einer jugendlichen Scheinwelt

Gewiss gab es schon früher immer auch TV-Serien über Frauen jenseits der Jugend, wie „Mord ist ihr Hobby“ oder die unvergessenen „Golden Girls“. Doch sie waren meist bestaunte Exotinnen inmitten einer jugendlichen Scheinwelt. Es fehlte jede Selbstverständlichkeit. Und noch immer sind Frauen insgesamt in der Medienwelt massiv unterrepräsentiert: Nur 24 Prozent aller Hauptrollen in Film und Fernsehen werden von weiblichen Heldinnen gespielt. Und das ist schon eine Verbesserung: 2017 lag dieser Wert noch bei 17 Prozent. Auch Tina Feys brillante Sitcom „30 Rock“ mokiert sich mehrfach über den Mangel („Weinst du etwa, weil es keine Rollen für Frauen über 40 gibt?“, fragt Comedian Tracy Jordan seine Kollegin Jenna Maroney). Von drei Menschen im deutschen Fernsehen sind zwei Männer.

Sobald du nicht mehr im gebärfähigen Alter bist, bist du raus.

Julie Delpy (51)

Die überwältigende Mehrzahl der TV-Frauen ist zudem entweder ziemlich jung oder ziemlich alt. Teenager, Sexbombe, junge Mutter oder Großmutter – so will es das Klischee. Dazwischen liegt der blinde Fleck der Traumfabrik. Niemandsland. Schauspielerin Julie Delpy (51) nennt die Altersphase zwischen 45 und 70 „die Todeszone“. Es gibt einfach keine Rollen. „Sobald du nicht mehr im gebärfähigen Alter bist, bist du raus.“

"Nichts an meiner Figur ist sexy oder attraktiv": Sandra Bullock als Ruth Slater im Netflix-Film "The Unforgivable".

"Nichts an meiner Figur ist sexy oder attraktiv": Sandra Bullock als Ruth Slater im Netflix-Film "The Unforgivable".

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Wie Winslet verweigert sich auch Delpy in ihrer neuen Serie „On The Verge“ jedem beschönigenden Filter. Sie spielt die chaotische Köchin Justine in der präpandemischen Midlifecrisis. In einer Szene eröffnet eine halb so alte Frau Justine, sie sei für den Job zu alt. Justine bekommt Panik, fasst sich an die Brust. Und die junge Frau fragt: „Haben Sie einen Herzinfarkt?“ – Justines empörte Antwort: „Ich bin 46, nicht 96!“

„Nein, 50 ist nicht das neue 30″

„Nein, 50 ist nicht das neue 30″, sagt Delpy. 50 ist eben 50. „Es geht darum, über sein Alter nicht lügen zu müssen.“ So sieht das auch Sandra Bullock , die in Nora Fingscheidts Netflix-Drama „The Unforgivable“ eine Straftäterin spielt, die nach 20 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. „Nichts an meiner Figur ist sexy oder attraktiv“, sagt Bullock. „Ich weiß, dass die Leute sagen werden: „Aber das ist nicht die Sandra Bullock, die wir kennen und lieben!“ Aber so ist es eben. Nichts an mir ist falsch.“ Auch die BBC-Hitserie „Call the Midwife“ über Hebammen in der Nachkriegszeit erzählt realistische Geschichten über das Alltagsleben, ebenso „This is Us“. Und auch „The Morning Show“ mit Jennifer Aniston (52) und Reese Witherspoon (45) ist kein Drama über künstlich verjüngte Fernsehroboter, sondern zeigt beide als „richtige“ Menschen.

Mehr Beispiele: In „Big Little Lies“ kämpfen sich Reese Witherspoon, Nicole Kidman, Zoë Kravitz, Shailene Woodley und Laura Dern durch den Alltag. Und auch die drei übriggebliebenen Freundinnen Carrie (Sarah Jessica Parker), Miranda (Cynthia Nixon) und Charlotte (Kristin Davis) im „Sex and the City“-Sequel „And just like that...“ beschönigen das Altern nicht. Sechs Staffeln und zwei zwei Kinofilme lang begeisterte „Sex and the City“ seit 1998 Fans und Kritiker – und definierte damals ein neues weibliches Selbstverständnis: schillernd, selbst bestimmt und unabhängig. Nun sind die Freundinnen eben jenseits der 50.

Nichts an meiner Figur ist sexy oder attraktiv. Ich weiß, dass das die Leute sagen werden. Aber das ist nicht die Sandra Bullock, die wir kennen und lieben! Aber so ist es eben. Nichts an mir ist falsch.

Sandra Bullock

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Nur 8 Prozent aller Frauen im Fernsehen sind älter als 50

Über alle Genres hinweg gilt dennoch: Nur acht Prozent aller TV-Frauen sind älter als 50. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt aber 20 Prozent. Es ist eine massive kulturelle Unwucht. Vor zehn Jahren galt Doris Dörries Versuch, Frauen in der Menopause mit der Serie „Klimawandel“ ein humoristisches Denkmal zu setzen, noch als „Wagnis“ und „schamloser Bruch mit dem letzten Fernsehtabu“ („Die Welt“). Der „Stern“ schrieb gar von „Psychowracks in den Wechseljahren“. Das Alter war im Entertainmentmainstream kein Wert an sich, sondern stets ein zu bekämpfender Makel oder eine Schrulligkeit. Keine Sitcom ohne den putzigen Alten, keine romantische Komödie ohne die garstige Schwiegermutter.

Zuckersüß, zauberhaft und jung - das war das prototypische Rollenangebot Hollywoods für Frauen: Anne Hathaway im Film "Der Teufel trägt Prada".

Zuckersüß, zauberhaft und jung - das war das prototypische Rollenangebot Hollywoods für Frauen: Anne Hathaway im Film "Der Teufel trägt Prada".

„Jahrzehnte lang haben die Medien nichts anderes getan, als Frauen dafür zu verurteilen, dass sie altern“, sagt die renommierte Medienprofessorin Naeemah Clark von der Elon University in North Carolina. Und warum? Weil die Fernsehmacher, meist männlich, Angst vor dem eigenen Altern hätten. Die wenigen Ausnahmen bestätigten die Regel. „Die Kernaussage dieser Shows war immer: Diese Frauen sind großartig, obwohl sie schon älter sind. Dabei müsste die Storyline eigentlich lauten: Sie sind großartig, weil sie schon älter sind.“ Inzwischen hat sich bei Fernsehmachern aber herumgesprochen, dass die Hälfte der Weltbevölkerung weiblich ist, nicht alle Frauen Kleidergröße 32 haben, die wenigsten Frauen jung sind und das Interesse an Geschichten, die das wahre Leben und kein bonbonbuntes Abziehbild zeigen, in allen Altersgruppen gewaltig ist.

Die Kernaussage früherer Shows war immer: Diese Frauen sind großartig, obwohl sie schon älter sind. Dabei müsste die Storyline eigentlich lauten: Sie sind großartig, weil sie schon älter sind.

Naeemah Clark, Medienprofessorin an der Elon University in North Carolina

Ist es Zufall, dass es die Coming-of-Age-Ikonen der Neunziger sind – Bullock, Winslet, Delpy –, die nun das Zepter übernehmen und Hollywoods Frauenbild aktualisieren? Wohl kaum. Sie sind aufgewachsen in einer Branche, in der, was Frauenbilder angeht, die Stereotype regierten. Die durchgeknallte Braut („Bridezilla“). Die asexuelle Karrieristin. Die fröhlich-vorlaute Busenfreundin. Die zuckersüße Träumerin (wie Anne Hathaway in „Der Teufel trägt Prada“ oder Audrey Tautou in „Die fabelhafte Welt der Amélie“). Oder das „Manic Pixie Dream Girl“ (wie Zooey Deschanel in „500 Days of Summer“ oder Jennifer Aniston in „Und dann kam Polly“). Nun sind sie den Teenagerrollen entwachsen, branchenerfahren und mächtig genug, das Ruder umzulegen.

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„Fernsehen schafft eine Realität dessen, was möglich ist“

„Man sagt, dass die Hand, die die Wiege schaukelt, die Welt regiert“, sagt Sandra Sims-Williams vom US-Marktforschungskonzern Nielsen. „Aber die Hand, die die Wiege schaukelt, ist eben nicht immer die einer frischgebackenen Mutter.“ Während die Lebensthemen jüngerer Frauen in zahllosen TV-Produktionen verhandelt würden, fehlen wichtige Rollenvorbilder aus der Generation „Ü 50″. Fernsehen aber verrate etwas darüber, „wer wir sein können und welche Rolle wir einnehmen in der Gesellschaft“, sagt Clark. „Fernsehen schafft eine Realität dessen, was möglich ist.“ Insofern war es überfällig, das Frauenbild im fiktionalen Fernsehen einem Update zu unterziehen.

Ich bin jetzt 25 und kann keine Serie über irgendwelche Highschoolkids mehr sehen.

Bloggerin und Journalistin Elizabeth Djinis

„Ich möchte, dass meine TV-Shows als coole Tante dienen, die den Vorhang vor dem Mysterium des Erwachsenseins zurückziehen": Bloggerin Elizabeth Djinis wünscht sich als jüngere Zuschauerin mehr Filme und Serie über ältere Frauen.

„Ich möchte, dass meine TV-Shows als coole Tante dienen, die den Vorhang vor dem Mysterium des Erwachsenseins zurückziehen": Bloggerin Elizabeth Djinis wünscht sich als jüngere Zuschauerin mehr Filme und Serie über ältere Frauen.

Denn es sind längst nicht nur ältere Frauen, die ältere Frauen im Fernsehen sehen wollen. „Ich bin jetzt 25 und kann keine Serie über irgendwelche Highschoolkids mehr sehen“, schreibt die Bloggerin Elizabeth Djinis („Warum ich Shows über Frauen in ihren 40ern und 50ern liebe“). „Wenn ich fernsehe, will ich nach vorne schauen. Ich möchte meine Zukunft so sehen, wie sie sein könnte, und nicht meine Vergangenheit, wie sie hätte sein können.“ Sie wolle „die nuancierten Emotionen echter Frauen erleben“, wünscht sich die 25-Jährige. „Ich möchte, dass meine TV-Shows als coole Tante dienen, die den Vorhang vor dem Mysterium des Erwachsenseins zurückziehen.“

„Was ist belebender als das Gefühl, dass das Leben mit 40 nicht endet?“

„Die Übergangszeit von der Jugend und Fruchtbarkeit hin zu einer älteren Frau hat in unserem Storytelling etwas gefehlt“, sagt Lisa Edelstein (48), Darstellerin der Lisa Cuddy in „Dr. House“ und der Abby McCarthy in „Girlfriends‘ Guide to Divorce“. „Aber das ist die stärkste Zeit im Leben einer Frau.“ Allmählich lüftet sich der Vorhang. Zum Vorschein kommen Geschichten aus einer hochspannenden, dramatischen, intensiven, wunderschönen und zutiefst menschlichen Lebensphase, die Fernseherzähler nicht länger ignorieren können, ohne eine kreative Sünde zu begehen.

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„Ich hoffe, Hollywood erkennt, dass auch wir Zuschauerinnen in den 20ern und einen realistischen Blick auf das wünschen, was die Zukunft bereithält“, schreibt Djinis. Denn: „Was ist belebender als das Gefühl, dass das Leben mit 40 nicht endet?“

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