Denn sie wissen nicht, was sie tun: Ben Stillers Serie „Severance“ bei Apple TV+
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/F4RTZIV3VFCKPMPSE65PUTGGZU.jpg)
Kurz vor dem Erwachen: Helly (Britt Lower) hat ihr Arbeitsleben vom Rest ihrer Person abgetrennt – Szene aus der AppleTV+-Serie „Severance“.
© Quelle: Apple TV+
Ich lebe, also arbeite ich. Schleppe jeden Tag die Sorgen meines Privatlebens mit zum Arbeitsplatz, wo sie meine Effizienz behindern. Und ziehe mit den Lasten meiner Arbeit in den Feierabend, wo mein Selbstbewusstsein begraben wird. „Hast du deinem Chef jetzt endlich mal gesagt, dass das so nicht geht mit den Überstunden, Schatz!“ Und das „Schatz!“ wie ein Messer. Wie gerne würde man sich abends nicht mehr verfolgen lassen von den Schreibtischmalaisen des Tages und morgens, wenn man das Unternehmen betritt, nichts mehr von dem Nachbarn mit der ewig kreischenden Schlagbohrmaschine wissen, von den zu vielen Krediten und der hörbar ihrem letzten Trommelwirbel entgegenwaschenden Waschmaschine. So wie das bei Mark läuft.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.
Mark (Adam Scott, „Parks & Recreation“, „Big Little Lies“) arbeitet bei Lumon Industries und hat beschlossen, sich einem „Trennschnitt“ zu unterziehen – dem Projekt „Severance“ – so heißt denn auch die seit Freitag (18. Februar) streambare Serie bei Apple TV+. Durch ein Nahzukunftssimsalabimimplantat werden bei ihm die Erinnerungsspeicher „Privates“ und „Job“ voneinander getrennt. Mark weiß tagsüber nicht, wer er jenseits der Arbeit ist. Alles ist für diese Zeit gelöscht, er kennt nur die Leute von der Firma und ist ihnen ein im Prinzip wohlmeinender, freundlicher Kollege, der möchte, dass der Arbeitgeber mit ihm zufrieden ist und tut, was man ihm aufträgt.
Mark wollte seine Trauer für acht Stunden loswerden
Worüber soll man auch reden, wenn keiner mehr weiß, was er am Abend zuvor bei Netflix (oder auch Apple TV+) gesehen hat, auf welchem Konzert er war (ach ja, Corona – Konzerte gehen ja gar nicht) oder auch nur, was es zum Abendessen gab. Einen Messer-„Schatz!“ gibt es allerdings nicht in Marks Leben. Der ehemalige Geschichtsprofessor hat sich dieser ultimativen, unheimlichen Work-Life-Balance unterworfen, weil seine Frau gestorben ist. Er weint im Auto und weint in seiner leer wirkenden Wohnung und kann seine Trübsal per Severance täglich für eine Weile hinter sich lassen. Bis er abends auf dem Parkplatz wieder er selbst wird – minus Wissen über das, was er gerade gearbeitet hat.
Die Severance-Prozedur ist nicht Pflicht, um bei Lumon Arbeit zu bekommen, aber von Anfang an hat man die Firma mit ihren aseptischen Büros im Verdacht, nicht nur die Wohlfahrt der Severancer unter ihren Angestellten zu fördern, sondern auf diese Weise sicherzustellen, dass über gewisse der Geheimhaltung unterworfenen Arbeitsprozesse auch wirklich nichts nach draußen dringt. Auf den ersten Blick ist die Serie ein bisschen wie „Stromberg“ in utopisch, hat ihre komischen Momente, wenn die „Innies“ der Abteilung Micro-Data Refinery (MDR) darüber philosophieren, wie sie wohl draußen als „Outies“ so drauf sein mögen.
Der moppelige Severancer Dylan (Zach Cherry) ist ein stiller Streber und kassiert dafür Sonderzuwendungen, mit denen er dann vor den Kollegen protzt. Der Severancer Irving (John Turturro) ist ein Pedant und legt Wert auf Reglements, und wenn er wieder mal Passagen aus dem Mitarbeiterhandbuch aufsagt, weiß man, die Erinnerung an diesen Typen würde man auch gern an den Firmentoren abgeben. Dann kommt die rothaarige Helly (Britt Lower), die einzige Severancerin im Team und Schlüsselfigur der Serie. Die frustrierte Frau mit dem höllischen Namen hat Fragen, die zu so etwas wachsen wie dem Baum der Erkenntnis im Garten Eden.
Helly ist neu und hält sich für Schlachtvieh
Helly liegt in der allerersten Szene auf einem Konferenztisch, sie weiß nicht, wer sie ist, welche Farben die Augen ihrer Mutter hatten, wie sie hierher gekommen ist. Sie hält sich einmal für Stück Vieh, ohne Erinnerung gezüchtet, um anderen Wesen als Nahrung zu dienen. Dann wieder glaubt sie, gestorben zu sein und das Büro sei eine Version der Hölle, worüber Mark sie beide Male zu beschwichtigen versucht. Aber der Glaube daran, irgendetwas Furchtbares sei ihr zugestoßen, sendet Wellen aus.
Der von der Firmenleitung erzeugte, paradiesische Arbeitszustand des ausgeblendeten Restlebens wird von Unruhe durchdrungen, auch die anderen wollen jetzt wissen: Für was steht Lumous eigentlich? Was hat es mit den Codierungen auf den Bildschirmen der Apple-artigen Computer auf sich, mit denen man sich tagein, tagaus beschäftigt? Zweifel kommen im MDR-Team auf. Und von der Schlange zum Apfel gelockt – steht nun eine Befreiung oder Verdammnis bevor?
Komödiant Ben Stiller versteht sich auf starke Serienstoffe
Ben Stiller, vor allem bekannt durch Komödien wie „Verrückt nach Mary“ (1998) oder die „Meine Braut ... und ich“-Filmreihe (ab 2000), hat sechs der neun Episoden von „Severance“ gedreht, die drei anderen entstanden unter Regie der Irin Aoife McArdle, die außer zwei Folgen für die inhaltlich durchaus verwandte Sci-Fi-Serie „Schöne neue Welt“ (2020) nach Aldous Huxleys Roman bisher vor allem als Kurzfilm- und Musikvideomacherin bekannt ist.
Stiller, schon seit 2010 im Seriengeschäft („Stiller & Meara“) und derzeit als ausführender Produzent bei der Krimiserie „High Desert“ mit Patricia Arquette tätig, hat mit Kamerafrau Jessica Lee Gagné, mit der er schon bei „Escape at Dannemora“ (2018) zusammenarbeitete, eine umwerfend stylische Kulisse und Optik geschaffen (vor allem für die Lumon-Welt mit ihren elysisch weißen Korridoren, den weißen Büros, den Konferenzräumen, die aussehen als hätten sie Gummiwände). Showrunner und Hauptautor ist Dan Erickson, ein bislang noch unbeschriebenes Blatt, von dem, das sei prophezeit, noch viel zu hören sein wird.
Ein mysteriöser Freund und eine viel versprechende Karte
Ein verschwundener Arbeitskollege namens Petey (Yul Vazquez) taucht wieder auf, er findet Mark in dessen Privatsphäre, stellt sich als guter Freund vor, ist diesem aber zunächst völlig unbekannt und weiß Erstaunliches über die angebliche Irreversibilität der Severance-Operation zu berichten. „Wenn du wissen willst, was dir geschieht, geh weiter und finde den Anfang einer sehr langen Antwort“, steht auf einer Karte, die er in seinem Auto findet. Mysteriös. Und unwiderstehlich. Natürlich will Mark Antworten.
Immer mehr wird das klaustrophobisch-labyrinthische Sci-Fi-Scenario zum Thriller, was verstärkt wird durch Gagnés Konzept, die Einsamkeit der Figuren durch viel Leere um sie herum weidlich auszustellen. Was wird passieren: Umsturz am Arbeitsplatz? Ein Streben der abgespaltenen „Innies“, die von den „Outies“ schon mal Videobotschaften bekommen – „Ich bin eine Person. Du nicht.“ – zum Ganzen zu werden?
Die gestrenge Lumon-Führungskraft Harmony Cobel (Patricia Arquette) ist jedenfalls von Hellys Wissensdrang und dessen Auswirkungen wenig erbaut und hat für derlei Zwecke ihren loyalen schwarzen Sidekick Mr. Milchick (Tramell Tillman), dessen Mienenspiel und Körperhaltung im Handumdrehen von unbeteiligtem Beobachter zu ernst zu nehmender Bedrohung wechseln können.
Nur so viel. Wer eine Serie mit Suchtpotenzial sucht, der ist hier bestens bedient. Mit „Severance“ hat AppleTV+ nach der phänomenalen Isaac-Asimov-Adaption „Foundation“ weiter Terrain gewonnen. Die letzte Folge mit ihrem überraschenden Ende will man gleich nochmal sehen. Wann gibt es schon mal überraschende Enden?
„Severance“, neun Episoden, von Dan Erickson, Regie: Ben Stiller, Aoife McArdle, mit Adam Scott, John Turturro, Britt Lower, Zach Cherry, Patricia Arquette, Christopher Walken (ab 18. Februar bei Apple TV+)