Das Unglück der kleinen Dinge: Die Serie „Scenes from a Marriage“ bei Sky
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Sie will gehen, er sie festhalten: Mira (Jessica Chastain) und Jonathan (Oscar Isaac) in einer der späteren Szenen ihrer Ehe.
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Das Einreißen der vierten Wand, das Öffnen eines Films dahingehend, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin mit der Nase darauf gestoßen wird, dass er es nicht mit dem wahren Leben, sondern einem Kunstwerk zu tun hat, führt nicht notwendigerweise dazu, dass sein Interesse schwindet. Man erinnert sich an das Geschehen in Lars von Triers „Dogville“, mit Nicole Kidman, das auf einer Bühne ohne Kulissen stattfand, auf der Häuser und Straßen mit Kreide auf den Boden gemalt waren. Rechtecke. Und dennoch fesselte einen die Geschichte der Demütigung und Rache einer Geflüchteten bis zum letzten Schuss. Realität ist, was man daraus macht.
Bei Hagar Levis Update von Ingmar Bergmans Beziehungskistenklassiker „Szenen einer Ehe“ sieht man die Darsteller und Darstellerinnen der Hauptcharaktere zu Episodenbeginn, wie sie sich auf den Dreh, auf ihre Rollen vorbereiten. Es sind „scenes from a marriage“, das Filmische, Künstliche, Zuschauer und Zuschauerinnen Einbeziehende steckt schon im Titel. „Hier lang“, sagt eine Assistentin mit Corona-Maske zu Chastain, die Schauspielerin nimmt vor einem Spiegel Platz, bekommt (wichtig!) den Ehering angesteckt, die „Klappe“ kündigt den Drehbeginn an, jemand schreit „Action!“ aus dem Off, und augenblicklich wird aus Chastain jene Mira, die ihr Smartphone checkt, dabei traurig dreinschaut, während Musik dem Zuschauer und der Zuschauerin suggeriert, dass er oder sie jetzt nicht dem Dreh, sondern dem fertigen Film zuschaut. Schließlich spielen während der Entstehung eines Films keine Kammermusiker mit Klavier und Geige den Soundtrack live.
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Das Glück scheint nicht mehr allumarmend zu sein in Miras zwölfjähriger Beziehung zu Jonathan (Isaac), wobei der Gatte einen anderen Eindruck vermittelt. Anders als Liv Ullmanns und Erland Josephsons Figuren, die in Ingmar Bergmans Originalserie „Szenen einer Ehe“ (1973) von einem Journalisten interviewt wurden, legen Chastain und Isaac die Beziehung der Charaktere vor einer Studentin bloß, die für eine Arbeit in Genderstudien Stoff sammelt.
Die Ehe ist für Jonathan selbstverständlich, die Elternschaft für Mira schuldbeladen
Schon in der „Selbstdefinition“ vergisst Jonathan, sich als Ehemann vorzustellen, während Mira erst ganz zum Schluss, quasi als Postdictum, die Mutterschaft erwähnt. Während für Ersteren die Ehe so selbstverständlich ist, dass er sie nicht für bekundenswert empfindet, nagt an der Karrierefrau sichtlich die Schuld, dem arbeitszeitbezogen flexibleren Unimann Jonathan unter der Woche den aktiven Elternpart für die vierjährige Tochter Ava überlassen zu müssen.
Jonathan sitzt behaglich auf dem Sofa, Mira nervös. „Kein großes Opfer“, sagt er. „Akademiker verdienen nicht so viel.“ Ihr ist das alles unangenehm. Sie dachte, das sei „multiple choice oder so“, nicht, dass sie haarklein erzählen müsste, wie – beispielsweise – alles anfing.
Damals, als Jonathan noch ein orthodoxer Jude war, der nie zuvor eine Frau berührt hatte und an der Uni plötzlich umgeben war von Studentinnen in Tanktops. „Besonders Mira, die damals noch mit einem großen Rockstar zusammen war“, sei weiter von seiner damaligen Welt entfernt gewesen als jede andere. Dann erzählt Mira von ihren Studien über orthodoxes Judentum für ein Theaterstück. Sie habe zuvor in Beziehungen gesteckt, die missbräuchlich gewesen seien, Jonathan sei das komplette Gegenteil gewesen.
Zwei Szenen weiter fliegt dem Zuschauer und der Zuschauerin die Ehe um die Ohren
Merke: Es gibt keine Rückblenden mit Jonathan im Kaftan an der Uni oder dem ersten Kuss der beiden. Zunächst sind da nur die Interviewten auf dem Sofa und ihre gelegentlich überraschten Reaktionen auf die Antworten des anderen, gelegentliche Gegenschüsse auf die freundliche Interviewerin.
Auch hier checkt Mira heimlich ihr Smartphone und der „Alles vorbei“-Blick schleicht sich in ihre Augen. Nach elf Minuten und 37 Sekunden hat der Zuschauende vergessen, dass er ein Schauspiel betrachtet. Alles wirkt echt, wenn Jonathan sich über das „Business“ beschwert, wenn Mira schweigt, ausweicht, als „Monogamie“ das Thema der Interviewerin wird.
Mira gesteht die Affäre mit dem CEO eines kleinen Start-ups
Zwei „Aufzüge“ und Zeitsprünge weiter – ein auch bei Bergman zu findender Abend mit einem gescheiterten Paar (Nicole Beharie, Corey Stoll) und danach die zögerliche „Anerkennung“ einer zweiten Schwangerschaft – fliegt dem Zuschauenden die Ehe der Protagonisten auch schon um die Ohren. Mira gesteht die Affäre mit dem CEO eines kleinen Start-ups aus Israel, dem sie nach Tel Aviv folgen will. Nie hätten sie und Jonathan ernsthaft über „die Abtreibung“ gesprochen. Beklemmend ist das Abschiedsgespräch im Bett, unverblümt, quälerisch, selbstquälerisch. Er will ein Bild von dem Nebenbuhler sehen.
Sie zeigt ihm eins auf ihrem Smartphone. 29 ist er, Single, und „ich bin in ihn verliebt, er ist gut für mich“. „Krank“ sei sie, befindet er am Ende all seines Verstehensversuchs. Und: „Du musst mir eine Chance geben!“
Der Grund, nach dieser frühen „Explosion“ noch am Ball zu bleiben, ist (für Leute, die das Original kennen) nicht die Story. Die Biografien, die Levi seinen Charakteren verpasst, sind nicht so bedeutsam anders. Die vorgeführte Ehe ist auch 48 Jahre nach Bergmans Serie klassisch weiß und heterosexuell, da hätte man origineller sein können und etwa das Scheitern einer ethnisch diversen oder homosexuellen Ehe thematisieren können. Levi, erfahren im Erzählen von Beziehungsnuancen in Serien seit „The Affair“, klebt an seinem Bergman (und damit an den großen Vorgängern Tschechow, Strindberg, Edward Albee) und ist handwerklich gut im Übertragen nach 2021.
Chastain und Isaac machen jede Sekunde sehenswert
Sehenswert ist das zögerliche Update vor allem für viele der heute 40‑jährigen Altersgenossen und -genossinnen und potenziellen Problemteilenden von Jonathan und Mira. Nur eine verschwindend große Zahl dürfte den schwedischen Klassiker gesehen haben. Alte Erzählweisen, altmodische Bilder führen heutzutage ja leider fast immer zum Weiterzappen oder Was-anderes-Streamen. Die modernen Bilder ziehen ein heutiges Publikum. Und Chastain und Isaac machen jeden Moment dieser fünf Stunden großartig, bewegend, deprimierend. Großes Schauspiel im wahrsten Wortsinn.
Dass man Miras Motivation nicht versteht, war in ersten US-Kritiken zu lesen. Was treibt sie um, ihre Familie aufzugeben? Das Beschweigen von Wichtigem mag es sein. Und es wird möglicherweise übersehen, dass man durchaus unglücklich sein kann im Glücke. Dass man genervt sein kann von der Zufriedenheit und Behaglichkeit des Partners. Dass kleine Marotten des Gegenübers sich zu Unerträglichkeiten auswachsen können. Etwa, wie Jonathan abends im Badezimmer vor dem Zubettgehen sämtliche Tuben und Fläschchen auf dem Waschbecken in Reih und Glied stellt.
„Warum sagst du mir das ausgerechnet heute?“, will Jonathan wissen. Und Mira hat keine rechte Antwort darauf. Aber wir wetten, dass der konkrete Auslöser war, ansehen zu müssen, wie er die Spaghetti einfach so vom Teller über die Gabel in den Mund zieht.
„Scenes from a Marriage“, fünf Episoden, von Hagar Levi, mit Jessica Chastain, Oscar Isaac (ab 13. September, bei Sky)