Selbstversuch: Unser Autor schaut zum ersten Mal „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“
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Der Prinz (Pavel Travnicek) mit Aschenbrödel (Libuse Safrankova) im Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“.
© Quelle: WDR/DRA/ARD/dpa
Hannover. Seit ich in der Medienbranche arbeite, befasse ich mich jedes Jahr mindestens einmal mit dem Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Und zwar immer dann, wenn endlich die Sendetermine der Fernsehsender bekannt gegeben werden. Texte wie dieser gehören bei nahezu allen Nachrichtenseiten zu den meistgelesenen in der Vorweihnachtszeit. Verstanden habe ich das nie. Und der Grund dafür ist einfach: Ich habe den tschechisch-deutschen Filmklassiker in meinem ganzen Leben noch nicht einmal gesehen.
Ja, das ist wohl eine Bildungslücke. Der wohl größte Weihnachtsfilm aller Zeiten ist in den vergangenen 34 Jahren komplett an mir vorbeigegangen. Stattdessen habe ich mir in der Kindheit mit modernem Privatfernsehekram wie „Kevin allein zu Hause“ oder „Santa Clause – Eine schöne Bescherung“ die Vorweihnachtszeit vertrieben. Und dann habe ich irgendwie den Einstieg verpasst. Wie konnte das passieren?
Woher der Hype um ein olles Märchen?
Natürlich weiß ich ungefähr, worum es bei Aschenbrödel geht. Der Film dürfte auf dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm basieren. Da ist dieses Aschenbrödel (was aus unerklärlichen Gründen manchmal auch Aschenputtel heißt), das zu Hause die größten Drecksarbeiten erledigen muss und am Ende findet ein Prinz ihren Schuh und heiratet sie. Aber ehrlicherweise ist mir dieses Märchen überhaupt nicht als Weihnachtsmärchen in Erinnerung.
Zudem ist mir völlig unbegreiflich, wie so ein olles Kitschmärchen bei Millionen Fernsehzuschauern jedes Jahr aufs Neue einen solchen Hype auslösen kann. Rituale wie der alljährliche Wham-Hit „Last Christmas“, klar, das kann ich noch irgendwie nachvollziehen. Da hatte man wenigstens George Michael. Mit Geländewagen. In den Schweizer Alpen. Und Weihnachtsglöckchen auf Achtzigerjahrebeat. Auch die vielen Weihnachtsklassiker im Fernsehen verstehe ich durchaus. Aber woher kommt der Hype um ein altes Prinzessinnenmärchen?
Es gibt nur eine Möglichkeit, meine Bildungslücke zu schließen: Ich werde mir wohl oder übel den Filmklassiker anschauen müssen. Bringen wir es hinter uns.
Aschenbrödel im Selbstversuch
Schon die ersten drei Sekunden von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ lassen mich das Allerschlimmste befürchten: Was, wenn mir dieser unglaubliche Kitsch am Ende auch noch gefällt? Meine Panik ist nicht unbegründet: Schon der Vorspann des legendärsten Weihnachtsfilms aller Zeiten lässt die volle Dröhnung Weihnachtsstimmug in mir aufkommen. Auf dem Hof eines mittelalterlichen Anwesens liegt Schnee, Familien dekorieren einen Tannenkranz mit Schleifen, ein Typ läuft mit Plätzchen vorbei, im Hintergrund plätschert wohlig-warme Flötenmusik. Ich will Lametta.
Diese Musik ist tatsächlich der Hauptgrund für die aufkommende Weihnachtsromantik. Sie zieht sich penetrant durch den ganzen Film. Und ihre Harmonien sind so wohlig-warm, dass ich sofort einen Tannenbaum anzünden möchte.
Der im Film abgespielte Song heißt „Believe in Three Hazelnuts“ und stammt vom Komponisten Karel Svoboda – gespielt hat ihn mit all seiner warmen Wohligkeit das Symphonieorchester Prag. Funfact: In der tschechischen Version singt auch noch Karel Gott mit – in der deutschen Version hat man sich auf eine Instrumentalversion beschränkt.
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Die übersteuerte Tante
Der romantische Schein trügt allerdings – denn von hier an geht es nur noch bergab. Auf dem Anwesen irgendwo in Tschechien lebt nämlich eine aufgeplusterte Frau, die permanent so laut schreit, dass die Tontechniker Anfang der Siebzigerjahre offenbar große Mühe hatten, das Gebrüll korrekt einzufangen. Geholfen haben die Bemühungen nichts. Der Ton in „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ist chronisch übersteuert und lässt allein schon deshalb alle positiven Weihnachtsgefühle wieder verfliegen. Die kreischende Frau erinnert eher an die die unbeliebte Tante, die jedes Jahr zu Besuch kommt, und deren Anwesenheit man nur deshalb duldet, weil sie Süßigkeiten mitbringt.
Neben der kreischenden Frau leben auf dem Anwesen jede Menge Diener, die Tochter der kreischenden Frau sowie, klar, die Hauptdarstellerin des Weihnachtsklassikers: Das Aschenbrödel. Ein leicht wundersames Pferdemädchen, das sich für seine Mitmenschen einsetzt (unglaubwürdig, ich weiß – aber der Film ist ja schon älter) und offenbar mit Tieren sprechen kann, oder das zumindest glaubt (okay, das passt schon etwas besser ins Jahr 2020).
Das zeigt sich zum Beispiel in gleich mehreren Szenen, in denen die kreischende Frau Aschenbrödel mit einer Sonderaufgabe betreut (Erbsen und Linsen aus der Asche pulen), wobei ihm schließlich ein ganzer Familienclan weißer Tauben weiterhilft. Auch zu einer Zauber-Eule pflegt Aschenbrödel engeren Kontakt. Sie zaubert der Hauptdarstellerin immer wieder teure Klamotten aus Haselnüssen.
Sexuelle Belästigung im Wald
Und als wäre all das noch nicht kitschig genug, so braucht ein echter Romantik-Klassiker natürlich auch noch einen männlichen Protagonisten, auf den alle Frauen abfahren. Bei diesem handelt es sich um einen Prinzen, der nicht weit entfernt vom Anwesen wohnt. Er ist sowas wie der RTL-Bachelor des Mittelalters, sucht sich seine Frauen auf pompösen Bällen aus, und seine Einstellung ist auch nicht minder frauenfeindlich. Gleichzeitig trägt er aber auch im tiefsten Winter Leggings, was das veraltete Männlichkeitsbild zumindest in Teilen etwas aufbricht.
Die erste Begegnung zwischen Prinz und Brödel findet im finstren Walde statt, als die Protagonistin den holden Prinzen mit einem Schneeball abwirft. Kurz darauf folgt eine Szene, in der Aschenbrödel als Jäger verkleidet, trotz übertriebener Tierliebe für den Prinzen einen Vogel vom Himmel schießt. Die Frage, ob die Protagonistin eigentlich Veganerin ist, dürfte hiermit wohl beantwortet sein.
Es folgt ein neunzigminütiges Paarungsspiel, was heutzutage in dieser Form wohl nur noch auf Oktoberfesten und in AfD-Ortsvereinen als angemessen durchgehen dürfte. Zunächst wird Aschenbrödel von dem Prinzen einer unangenehmen Männerrunde durch den Wald verfolgt und schließlich gestellt. Einer der drei Lustmolche schlägt tatsächlich vor, man möge der jungen Frau doch den Hintern versohlen – und dürfte damit endgültig den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt haben.
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Hochzeit und Hausfriedensbruch
Doch damit nicht genug. Im Laufe des Films entwickelt sich der hotte Bachelorprinz zum unangenehmen Stalker, der für seine geliebte Zukunftsgattin nach einer ganz besonderen „Nacht der Rosen“ sogar mit Gewalt in ein Anwesen eindringt und sämtliche dort lebenden Frauen dazu nötigt, einen glitzernden Schuh anzuprobieren. Und selbstverständlich erteilt das Aschenbrödel dem aufdringlichen Prinzen am Ende keine Abfuhr, sondern heiratet ihn auch noch.
Es ist nicht der einzige fragwürdige Handlungsstrang in diesem Film. Dass praktisch die gesamte Handlung auf der Unterwürfigkeit der Frau basiert, kann man so gerade noch entschuldigen – schließlich basiert die Storyline auf einem alten Märchen. Doch auch die Zeichnung der Figuren ist unter aller Kanone und stellenweise arg diskriminierend. Auffällig ist beispielsweise, dass alle bösen und dummen Charaktere in diesem „Meisterwerk“ grundsätzlich dick oder mindestens pummelig sind (Stiefmutter, Tochter, Tanzgefährtin beim Ball) – während die Helden Prinz und Brödel offenbar eine Dauerkarte bei McFit besitzen. Nur wer strahlend schön ist, hat also die Chance auf einen Bachelorprinzen, klar.
Doch am Ende bleiben noch viele weitere Fragen: Wann kommen Männerleggings endlich in Mode? Was halten eigentlich Aschenbrödels Zauber-Eule und die Tauben davon, dass sie für den Prinzen einen Artgenossen vom Himmel geschossen hat? Ich glaube, die Story ist an der Stelle nicht ganz durchdacht. Welchen Kurs von Bastian Yotta hat der Prinz eigentlich besucht, damit ihm wirklich alle Frauen zu Füßen liegen? Und: Warum zum Teufel ist diese unerträgliche Geschichte so unglaublich beliebt?
Zeitreise in eine perfekte Welt
Ganz objektiv betrachtet hat der Film – bis auf seine weihnachtliche Kulisse – mit dem Weihnachtsfest nämlich überhaupt nichts zu tun. Das Fest wird in dem Klassiker gar nicht erwähnt, man sieht dort nicht mal Tannenbäume mit Lichterketten.
Allerdings vermittelt das Stück etwas, das auch fürs Weihnachtsfest gilt: Eine gewisse Beständigkeit, eine Nostalgie. Eine Reise in eine Vergangenheit, in der alles noch nicht so kompliziert war wie heute. Da konnten Männer noch ungestört Burgtore aufbrechen, um eine Frau fürs Leben mitzunehmen, und niemand auf Twitter hat sich drüber aufgeregt. Da konnte man noch Füchse schießen als Sport verkaufen und wurde dafür gefeiert – heute ist es ja sogar schon tabu, mit dem Diesel-SUV durch den Wald zu brettern.
Und wenn man mal ganz ehrlich ist, dann ist die Handlung dieses Märchens auch nicht so viel bizarrer als unsere echt Welt in der wir gerade leben. Vielleicht stellenweise sogar ein Stück weit erträglicher. Und so schlimm es auch war: Mich hat das „Aschenbrödel“ auf jeden Fall unterhalten. Und vielleicht gucke ich es auch noch mal. Im nächsten Jahr dann, wie sich das gehört.