„Seitenwechsel“: Netflix-Film von Rebecca Hall hat Oscarqualitäten

Zwei schwarze Frauen aus Harlem: Clare (Ruth Negga, links) ist als „Weiße“ Ehefrau eines Rassisten geworden, Irene (Tessa Thompson) hat sich einen Tag lang ins Manhattan der Weißen gewagt. Szene aus Rebecca Halls Film „Seitenwechsel“.

Zwei schwarze Frauen aus Harlem: Clare (Ruth Negga, links) ist als „Weiße“ Ehefrau eines Rassisten geworden, Irene (Tessa Thompson) hat sich einen Tag lang ins Manhattan der Weißen gewagt. Szene aus Rebecca Halls Film „Seitenwechsel“.

Das Bild ist weiß, als die ersten Schattierungen von Grau auftauchen, sind sie zunächst kaum zu erkennen. Man hört gedämpfte Töne, so als rührten sie aus einer anderen Sphäre: Schuhe auf Asphalt, undeutliche Worte, in der Ferne das Schnauben und Dampfen eines Zugs. Und mittendrin die Heldin, die einem zu Beginn vorkommt, als lebe sie nahe der Ohnmacht. Denn sie ist tatsächlich in einer anderen Welt, einer, die gerade zu entstehen scheint, die sich mählich zu einem Bild fügt: Da ist ein Trottoir, dann Frauenbeine in Nahtstrümpfen, ein Spielzeuggeschäft. Wir tauchen mit der Protagonistin ein in einen heißen Sommer im Manhattan der Zwanzigerjahre. New York fiebert.

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Irene Redfield schnappt nach Luft, ihr Blick, so sie denn überhaupt einmal unter der Krempe ihres eleganten Hutes hervorzublicken wagt, ist ängstlich, so als fürchte sie, von der Stadt sofort ausgespuckt, von ihren Bewohnern erkannt und vernichtet zu werden. Aber der Verkäufer im Spielzeugladen ist reserviert freundlich zu ihr, der alte Taxifahrer fängt gar einen Schwatz mit ihr an, der schweigsame Livrierte in der Teehalle rückt ihr höflich den Stuhl zurecht. Alles Weiße, die nicht erkennen, dass Irene eine – sehr hellhäutige – Schwarze ist.

Für die „weißere“ Clare ist „Durchgehen“ der Alltag seit Jahren

„Seitenwechsel“ heißt der Film, aber mit dem Originaltitel „Passing“ ist eher „Durchgehen“ gemeint – das „Durchgehen als Weiße(r)“ im Amerika von vor 100 Jahren, in dem Schwarze als minderwertige Rasse gelten und Rassismus bis hin zum im Film erwähnten „Lynchmord in Littletown“ selten Strafverfolgung nach sich zieht. Was für Irene (Tessa Thompson) ein atemloser Selbstversuch für einen Tag ist – sie will in der Stadt Geschenke für ihre Söhne Ted und Junior besorgen – ist für die noch „weißere“ Clare (Ruth Negga) der Alltag seit Jahren. In der Teehalle treffen sich die Frauen, die sich seit Kindertagen kannten, zufällig wieder. „Ich bin glücklich“, sagt Clare, die mit dem wohlhabenden weißen John verheiratet ist. Eine Tochter hat sie, die demnächst auf ein Schweizer Internat soll. „Ich hatte Angst, sie könnte ‚dunkel‘ werden“, gesteht Clare.

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Denn ihr Mann John Bellew (Alexander Skarsgard) ist ein Rassist. „Ich hasse sie“, gesteht er vor Irene. Er kenne Leute, die Schwarze kennen, er lese in der Zeitung von ihren Morden und Überfällen. „Furchtbar.“ Als er Clare geheiratet habe, sei sie „weiß wie eine Lilie“ gewesen. Danach habe ihre Haut sich verändert. „Du kannst schwarz werden, wie du willst“, habe er ihr gesagt, „ich weiß, du bist kein ‚Nigger‘!“ Er lacht, als er erwähnt, dass er sie seither „Nig“ nenne, er erkennt auch Irenes wahre Hautfarbe nicht. Man stößt an „auf alte Freunde“.

Die Autorin Nella Larsen, deren Roman „Seitenwechsel“ (Dörlemann, 192 S., 19,90 Euro) 1929 erschien, erzählte als Tochter einer Dänin und eines Einwanderers von den Westindischen Inseln aus eigener Erfahrung vom „racial passing“. In Amerika reichten die Strafgesetze gegen die „Vermischung der Rassen“ bis zurück ins 17. Jahrhundert, die Vergewaltigung von Sklavinnen durch Weiße indes war legal, um – speziell nach dem Einfuhrverbot für Sklaven – deren Zahl zu vergrößern. Einige der besonders hellhäutigen Nachfahren versuchten durch das „Durchgehen“ den Restriktionen für Schwarze zu entkommen, Arbeit zu erhalten, reisen zu können. Und auch um anderen Schwarzen auf die Beine zu helfen. Nicht selten führte ein solches Leben indes zu Isolation, Entfremdung, Depressionen, Selbstmord.

Clare will ihr Leben im Falschen beenden

Und so ist es auch bei Clare, die ihren Aufstieg einer Lüge verdankt und die zum Schweigen verdammt ist. Sie ist in Wahrheit unglücklich und einsam, und als sie Irene zu Hause in Harlem besucht – in einem Heim mit luxuriösem Mobiliar, Klavier und Hausmädchen – schüttelt sie die Enge ihres Lebens ohne Wahrheit, Freiheit und Vergangenheit ab. „Ich will wieder unter Schwarzen sein“, bekennt sie gegenüber Irene bei einem Wohltätigkeitsball. „Ich will hören wie sie reden, lachen.“ Und dann tanzt sie mit Irenes Ehemann, dem Arzt Brian (André Holland), der von ihrer blonden Exotik fasziniert ist, der zudem einen Dünkel hegt gegen die armen Schwarzen, die überall in Harlem einziehen, die das Viertel herunterziehen. In Irene zieht Eifersucht herauf, die bald zum eigentlichen Motor der Geschichte wird.

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„Seitenwechsel“ ist ein Drama der leisen Töne, der Blicke, der sich verändernden Mundwinkel, der kleinen Gesten. Die Schauspielerin Rebecca Hall („Vicky Cristina Barcelona“), Tochter der afroamerikanischen Opernsängerin Maria Ewing und des britischen Theaterregisseurs Sir Peter Hall, hat für ihr erstaunliches Regiedebüt (sie schrieb auch das Drehbuch) mit Thompson und Negga zwei herausragende Protagonistinnen gewinnen können. Und ihr Kameramann Eduard Grau ist wie Hall selbst begeistert vom Schwarz-Weiß-Kino des alten Hollywood.

Filmmusik und filmimmanente Klänge fusionieren perfekt

„Ich war das Mädchen, das mit den Filmen von Bette Davis aufwuchs“, erzählte Hall einmal in einem Interview. Entsprechend wählt sie das alte, quadratisch wirkende 4:3-Format, auch weil es ablenkungsfrei ist – enge Bilder, perfekt für das Spiegeln von Gefühlen in Gesichtern. Und wenn in Devonté Hynes Filmmusik ein melancholisches Klavier zu hören ist, passt das ferne Saxofonspiel eines Musikers im Harlem des Films perfekt damit zusammen. „Seitenwechsel“ ist hohe Kunst, könnte Netflix 2022 einige Oscars einbringen. Störend ist da allenfalls die deutsche Synchronisation, die so emotionsreduziert klingt wie die Neueinsprechungen uralter Hollywoodfilme, die seit den Siebzigerjahren für Ausstrahlungen im Fernsehen vorgenommen wurden.

Der Film bewegt sich durch die Jahreszeiten. Am Ende ist es Winter in New York, als Irene auf der Straße zufällig John wieder trifft, sich dessen Begrüßung schweigend entzieht und ihr dabei ganz offensichtlich bewusst wird, dass sie damit den ersten Dominostein von Clares Tragödie umgestoßen hat. Wie der Film ungefähr endet, ist dem Betrachter längst klar, was genau passiert, soll dennoch nicht verraten werden, und wer daran persönlich Schuld hat – die Autorin der Vorlage bleibt da weniger klar als die Regisseurin – kann man mit einem Augenblinzeln zur falschen Zeit verpassen. Der Schnee fällt im letzten Bild auf zutiefst erschütterte Menschen, der Rassismus der Weißen hat erneut seinen Blutzoll gefordert. Graus Kamera zieht hoch, bis das Bild im Weiß des Gestöbers ertrunken ist. Das Ende ist der Anfang.

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„Seitenwechsel“, 98 Minuten, Regie und Drehbuch: Rebecca Hall, mit Tessa Thompson, Ruth Negga, André Holland, Alexander Skarsgard, Bill Camp (streambar bei Netflix)

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