Wenn die Polizei empfiehlt, unterzutauchen: Reportage zeigt, wie Opfer unter Cyberstalking leiden
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"Exclusiv im Ersten" widmete sich am Montag dem Thema Cyberstalking. Opfer leiden vor allem an der allgegenwärtigen Hilflosigkeit. Die Täter sind nur schwer zu belangen (Symbolbild).
© Quelle: Toronto Star via Getty Images
Der Albtraum nimmt kein Ende und der Täter ist immer in der Tasche dabei: Charlotte verbrachte nur eine Nacht mit einem Mann, den sie im Internet kennengelernt hatte. Nachdem sie zurück in ihrem Heimatort war, ging direkt der Psychoterror los. Während Charlotte mit ihren Freundinnen etwas trinken geht, schreibt ihr Stalker ihr über 200 Nachrichten. Schnell gerät die Sache außer Kontrolle. „Fünf Minuten hatte ich zum Antworten“, erklärt sie. Ihr Cyberstalker stellt ihr schon seit fünf Jahren nach, nun hat sie sich psychologische Hilfe gesucht.
Im Rahmen der ARD-Reportagereihe „Exclusiv im Ersten“ entstand ein erschütternder Film der Autorinnen Simone Horst, Kira Gantner, Lisa Hagen und Patrizia Schlosser über „Cyberstalking“ – so lautet der Fachbegriff dafür, dass Stalker ihre Aktivitäten der Belästigung und Einschüchterung ins Netz verlagern. Die Reportage, die aktuell in der ARD-Mediathek zu sehen ist, ging am Montag der Frage nach, warum es so schwer ist, die Taten nachzuverfolgen und was das für die Opfer bedeutet.
Die Dunkelziffer ist bei allen Formen des Stalkings hoch, offiziell gezählt hat das BKA 2019 28.653 Anzeigen. Im März 2021 wurde der gesetzliche „Stalking Paragraf“ zwar präzisiert, Experten zufolge geht das Gesetz jedoch nicht weit genug. Neben Betroffenen kam in dem Beitrag auch der auf Stalking-Opfer spezialisierte Anwalt Volkmar von Pechstaedt zu Wort.
Für ihn ist die Fehlerliste in Sachen „Cyberstalking“ lang: Es gäbe zu wenig Personal, die Verfahrensdauer sei zu lang, die Vorgehensweise der Täter noch zu unbekannt und die technischen Kenntnisse seien zu wenig ausgeprägt. Zudem würde Stalking teils immer noch beispielsweise als Streitigkeit unter Ex-Partnern verharmlost. „Ich meine, dass hier der Eindruck entstehen kann zumindest, dass der Täterschutz in Deutschland teilweise höher gestellt ist als der Opferschutz.“ Es sei zudem „verdammt schwer, als Opfer in Deutschland zum Recht zu kommen.“ Er selbst wurde vom Stalker einer Klientin niedergeschlagen.
87 Prozent der Täter sind Männer
Dass es sich nicht um harmlose Streitigkeiten handelt, wurde in der knapp 30-minütigen Reportage schnell deutlich. Die bekannten Zahlen zeichnen ein eindeutiges Bild hinsichtlich der Geschlechterverteilung: Frauen machen rund 84 Prozent aller Stalking-Opfer aus, 87 Prozent der Täter sind Männer. Charlotte ist dementsprechend nur ein Opfer unter vielen. Im Film kamen weitere betroffene Frauen zu Wort: Merle erhielt beispielsweise Vergewaltigungsdrohungen, da sie die „Liebe“ des Stalkers nicht erwiderte. Besonders schlimm: Häufig sind die Opfer selbst in der Beweispflicht – zusätzlich zum psychischen Druck.
Anna – ihr Name wurde geändert – lebt in Zürich und musste mitansehen, wie ihr Ex-Mann hunderte negative Google-Bewertungen schrieb, um sie bei ihrem Arbeitgeber anzuschwärzen. Ihr Stalker machte deutlich, dass er das Spiel noch eine ganze Weile spielen kann und sie am liebsten in Richtung Altersarmut schicken würde. Letztlich bekam er, was er wollte: Die Firma knickte angesichts der Rezensions-Flut ein. Und die Polizei? „Es kann nicht sein, dass ein Polizeibeamter mir am Telefon sagt: Das Internet ist ein rechtsfreier Raum und mir empfiehlt, ich solle doch bitte untertauchen.“
„Man hat keine Kontrolle darüber“
Thomas Broy von der Polizei Hamburg schult Polizisten für Stalking-Fälle und merkte an, dass man sich auf technische Neuerungen seitens der Behörden immer erst einmal einstellen müsse. In seiner Behörde ist dies geschehen, landesweit sieht es noch recht mau aus. Dennoch erklärte der Polizist: „Grundsätzlich kann ich jeder von Cyberstalking betroffenen Person raten: Wehren Sie sich juristisch und erstatten Sie auch Anzeige.“
Schließlich nimmt das Phänomen Cyberstalking immer mehr zu. Eine Studie aus dem Jahr 2019 besagt, dass 67.000 mobile Nutzer in Deutschland durch Spy-Software attackiert wurden – in Europa bedeutet dies den traurigen ersten Platz, weltweit den dritten. Die Ungewissheit, wozu der Stalker im Netz noch fähig ist, bleibt eine stetige Belastung. „Man hat keine Kontrolle darüber. Und die Frage, ob der irgendwann selbst vor der Tür steht, die kann man sich ja zu keiner Zeit beantworten“, beschrieb Merle aus Berlin ihr Trauma. Sich um die stetigen Pakete zu kümmern, die ihr Stalker in ihrem Namen bestellte, geriet nahezu zum Fulltime-Job.
RND/Teleschau