Nach Patt bei der Intendantenwahl: HR-Mitarbeiter wünschen sich Doppelspitze
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„Wir brauchen beide“: Florian Hager und Stephanie Weber bewerben sich um das Intendantenamt beim Hessischen Rundfunk – viele Mitarbeiter wünschen sich eine Doppelspitze.
© Quelle: dpa/fotolia/Hessischer Rundfunk/RND/Montage/Thorausch
Das Wort „Unentschieden“ ist ein dreifaches Teekesselchen. Es steht sowohl für sportlichen Gleichstand als auch für den Schwebezustand vor einer Entscheidung. Drittens schwingt eine gewisse emotionale Unschlüssigkeit mit. Selten hat das Wort so gut gepasst wie bei der Wahl zum neuen Intendanten des Hessischen Rundfunks (HR): Der Sender ist unschlüssig darüber, was er sein will, wie genau er sich reformieren soll und wer maßgeblich seine Zukunft gestalten wird.
Es rumort in den Büros und Redaktionen des HR in Frankfurt, Wiesbaden und anderswo. Verstärkt wurde die Unruhe vom Unentschieden beim ersten Versuch des zuständigen Rundfunkrates am 29. Oktober, einen neuen Intendanten zu wählen. Zur Wahl für die Nachfolge des Ende Februar 2022 in den Ruhestand gehenden Intendanten Manfred Krupp standen zwei Kandidaten – zuvor benannt von einer zehnköpfigen Findungskommission: Stephanie Weber (50), seit Januar Betriebsdirektorin des HR, und Florian Hager (45), seit 2015 Gründungsgeschäftsführer von Funk, dem Jugendangebot von ARD und ZDF, und seit 2020 stellvertretender Programmdirektor und Channel-Manager für die ARD-Mediathek.
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Nachfolger oder Nachfolgerin gesucht: Manfred Krupp, Intendant des Hessischen Rundfunks, geht 2022 in den Ruhestand.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Weber oder Hager? Die Intendantin oder der Intendant des HR werden vom Rundfunkrat für fünf bis neun Jahre mit einfacher Mehrheit gewählt. 32 Mitglieder hat der Rundfunkrat. Sie sollen als Aufsichtsgremium die Allgemeinheit repräsentieren und die Interessen der deutschen Durchschnittsbevölkerung vertreten. So sind unter anderem auch der Hessische Bauernverband, der Landesfrauenrat Hessen oder der Hessische Museumsverband personell vertreten. Doch auch nach drei Wahlgängen stand es Ende Oktober 16 zu 16 zwischen Weber und Hager – ein klassisches Patt. Am 3. Dezember wird nun erneut gewählt.
„Leider konnte kein Ergebnis erzielt werden“
„Das Patt unterstreicht, dass sich zwei herausragende Kandidaten präsentiert haben“, sagte etwas zerknirscht der Rundfunkratsvorsitzende Rolf Müller, der mit Unterbrechungen seit 1987 in dem Gremium vertreten ist. „Leider konnte kein Ergebnis erzielt werden. Der Rundfunkrat hat die Findungskommission erneut beauftragt.“
Und jetzt? Zaghaftigkeit in Zukunftsfragen ist schädlich. Es geht um viel. Zwar gehört der Hessische Rundfunk mit seinen 1700 festen und rund 900 ständigen freien Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen neben Radio Bremen (RB) und dem Saarländischen Rundfunk (SR) zu den kleineren der neun ARD-Anstalten und wird immer mal als potenzieller Übernahmekandidat für die großen Schwestern WDR oder NDR gehandelt, aber jede Intendantenwahl in der ARD ist immer auch ein wichtiges Votum über die Zukunft des gesamten Verbundes. Denn die öffentlich-rechtliche Senderfamilie steckt in einem massiven Umbauprozess: Sie muss erstens sparen und zweitens eine Grundsatzreform stemmen – weg vom analogen, linearen Denken, hin zu einer durchdigitalisierten, schlankeren, agileren, crossmedial integrierten und zukunftsfesten Medienmarke. Der Legitimationsdruck ist enorm. Die Zukunft von ARD und ZDF hängt auch davon ab, wie wandlungsfähig und ernsthaft reformbereit beide sind.
Warum nicht eine Doppelspitze?
Nicht wenige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Hessischen Rundfunks fragen sich angesichts dieser Herausforderung, warum der Sender beziehungsweise sein Rundfunkrat nicht die naheliegendste Lösung für seine neue Leitung wählt: eine Doppelspitze. Hager gilt spätestens nach dem Aufbau des erfolgreichen ARD/ZDF-Jugendportals Funk als multimediales Aushängeschild und prominentes Gesicht der digitalen ARD-Zukunft. Weber wiederum war knapp sechs Jahre lang stellvertretende Justiziarin des Saarländischen Rundfunks und verantwortete dann als Verwaltungs- und Betriebsdirektorin die Bereiche Finanzen, Technik, Personal sowie Honorare und Lizenzen, bis sie 2021 nach Frankfurt wechselte. Dem Fachdienst Medienkorrespondenz zufolge soll sie den SR auch verlassen haben, weil sie interne Signale empfangen hatte, wonach ihre Ambitionen auf das Amt der SR-Intendantin in Saarbrücken keine ausreichende Unterstützung finden würden.
Ein Mann fürs Programm und den digitalen Wandel also, eine Frau mit dem Blick fürs Geld und das betriebliche Tagesgeschäft – und beide in Treue fest bestrebt, die Eigenständigkeit des Hessischen Rundfunks zu bewahren. Das klingt wie eine Ideallösung. Oder nicht? Es geht immerhin um einen Sender, der mit Ulrich Tukurs Murot-„Tatorten“ zuletzt stilprägend mutig war und bei dem seit Januar 2020 auch das neue „ARD-Wetterkompetenzzentrum“ angesiedelt ist, wo die gesamte Fernsehwetterberichterstattung für das Erste, Tagesschau 24, den WDR, den HR und andere ARD-Anstalten produziert wird.
Ein Minus von 90 Millionen Euro in einem Jahr
„Nicht nur die vermeintlich jüngeren, digitaler denkenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen würden sich sehr freuen, wenn Florian Hager zum HR kommen würde“, sagt ein Mitarbeiter, der seit Jahren beim Sender arbeitet, aber anonym bleiben möchte. Hager hat sich vor allem unter den jüngeren ARD-Kollegen und -Kolleginnen den Ruf einer digitalen Heilandsgestalt erworben, seit Funk sauber läuft und er dabei ist, die ARD-Mediathek zu einer Streamingplattform umzubauen, die mit den US-Konkurrenten mithalten kann, was Komfort und Inhalte angeht. „Aber die Situation bei uns im HR erfordert im Grunde beide Kompetenzen“, sagt der Mitarbeiter – „sowohl das Programmlich-Visionäre als auch das Finanzielle“.
Tatsächlich beklagen nicht wenige im HR schon seit Längerem eine gewisse Entscheidungsunlust bei ihrem Sender, von einem regelrechten Reformstau ist die Rede. Der Hessische Rundfunk fährt seit Längerem Minusergebnisse ein. Im vergangenen Jahr erzielte er (Beitrags-)Einnahmen von 507 Millionen Euro und gab 597 Millionen Euro aus. Das ergibt unterm Strich ein dickes Minus von 90 Millionen. In nur einem Jahr.
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„Und nun das Wetter für Morgen, Mittwoch, ...“: Sven Plöger, Wetter-Moderator der ARD, im TV-Studio des „ARD-Wetterkompetenzzentrums" beim Hessischen Rundfunk.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Viele Beschlüsse zur Neuausrichtung seien längst gefasst, der digitale Wandel längst eingeleitet – die Umsetzung dauere aber viel zu lange, klagen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Gründe liegen in all jenen Mängeln, die die gesamte ARD-Familie umtreiben: komplizierte Entscheidungsprozesse, viel Bürokratie, ein gewisser Mangel an Mumm und starke Beharrungskräfte. Die Verunsicherung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist groß, Krupp galt nicht gerade als digitaler Reformer, der die Truppe auf die Zukunft einzuschwören imstande gewesen wäre. Manche ARD-Anstalt ist da schon deutlich weiter, der NDR etwa.
„Für neue Wege ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht gerade bekannt“
Eine Intendanz Hager/Weber? Es wäre die erste Doppelspitze einer ARD-Anstalt in 70 Jahren. Das allein ist eine hohe Hürde. „Für neue Wege ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk ja nicht gerade bekannt“, sagt eine langjährige leitende Mitarbeiterin. „Wir müssen uns aber verändern. Und dabei würden sich beide Kandidaten perfekt ergänzen.“ Allein, dass Florian Hager überhaupt bereit sei, zum HR zu wechseln, sei eine gewaltige Chance. „Das ist, als käme Jürgen Klopp bei einem Drittligaverein vorbei und würde sagen: ‚Ich würde gern hier arbeiten und mache euch einen guten Preis.‘ Das darf man sich nicht entgehen lassen – statt zu sagen: „Och nö, der Bernie vom Stammtisch hat das bisher aber gut gemacht.‘“
Was Weber in nur wenigen Monaten im Sender geschafft habe, sei erstaunlich, ist in Frankfurt zu hören. Sie sei kaufmännisch über jeden Zweifel erhaben und werde dringend gebraucht. Gleichzeitig sei Hager als Mann mit digitalen Meriten und einer Vision für die Zukunft der ARD als multimediale Plattform der perfekte Neuzugang. „Sehr viele im Hessischen Rundfunk wünschen sich eine Doppelspitze“, heißt es deshalb allenthalben. Denn es nütze ja nichts, „sich komplett zu digitalisieren, aber die Finanzen nicht im Blick zu haben“, sagt die Mitarbeiterin – „dann sind wir in fünf Jahren tot. Beide würden sich ideal ergänzen.“
„Eine Doppelspitze sieht das HR-Gesetz nicht vor“
Intern ist auch Bedauern bis Unmut darüber zu hören, dass die vielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im HR, die an einer digitalen Zukunft mitzuarbeiten bereit seien, bei den Zukunftsplanungen nicht ausreichend „mitgenommen“ würden. „Wir brauchen eine Perspektive“, sagt eine von ihnen, „denn sonst verabschieden wir uns. Wir sind durchaus hoch motiviert und wollen hier wirklich nicht nur unsere Zeit absitzen. Aber wir sind jetzt eben seit zweieinhalb Jahren in einem großen Transformationsprozess, dem im Moment etwas der Zunder fehlt. Da ist jeder willkommen, der eine Vision mitbringt.“ Der Slogan, den sich der HR selbst gegeben habe und der über allem stehe, laute „Jünger, diverser, digitaler“. Es sei jedem klar, wohin die Reise gehe. „Aber bitte lasst uns das auch tun – und nicht nur davon reden.“
Immerhin: An der Kandidatenauswahl war die Belegschaft beteiligt. Eine Vertreterin der Beschäftigten war Teil der Findungskommission. Und die Senderleitung bietet regelmäßig interne Informationsrunden an, bei denen die Führung Fragen der Mitarbeiter zum Transformationsprozess des Senders beantwortet - und den Sorgen der Kollegen zuhört.
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„Eine Doppelspitze sieht das HR-Gesetz nicht vor“: Rolf Müller, Vorsitzender des HR-Rundfunkrates.
© Quelle: Ben Knabe/HR
Der Rundfunkratsvorsitzende Müller allerdings sieht aus formalen Gründen keine realistischen Chancen für eine gemeinsame Lösung in der Leitung des Hessischen Rundfunks. „Eine Doppelspitze sieht das HR-Gesetz nicht vor“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Zurzeit gebe es freilich „keine weiteren Kandidatenvorschläge seitens der Findungskommission oder des Rundfunkrats“. Er bestätigte, dass Hager und Weber sich am 3. Dezember erneut zur Wahl stellen werden. Das Ende ist offen.