Männer, die in Kameras starren: Warum die “Quarantäne-WG” bei RTL bestürzender Blödsinn ist
“Die Quarantäne-WG”: Thomas Gottschalk, Oliver Pocher und Günther Jauch testen ihre Grenzen.
Es braucht schon eine echte Weltkrise, damit Menschen anderen Menschen im Fernsehen live beim Skypen zugucken. Nicht auf irgendeinem Daddelsender im Sibirien des Sendersuchlaufs. Nicht wie vor 15 Jahren bei den Giga-TV-Girls. Sondern im März 2020 beim Vollprogramm und Ex-Marktführer RTL. Um 20.15 Uhr. Und so viel muss man sagen: Wenn bisher noch Restzweifel bestanden haben sollten, dass die Corona-Krise auch eine Krise der Kultur ist, dann dürfte spätestens mit der Premierensendung der “Quarantäne-WG” Klarheit herrschen.
Die “Quarantäne-WG”. So nennt RTL das neue, bis Freitag geplante Fernsehexperiment. Schon der Titel klingt, als sei irgendwie doch aus Versehen Europameisterschaft, und Waldemar Hartmann und Reinhold Beckmann sitzen jetzt auf schwerem Leder und mit dickflüssig gewordenen Körpersäften in einer dieser Am-späten-Abend-wird-es-nochmal-locker-Aftersport-Shows und versuchen, aus dem Grottenkick Georgien gegen Israel den letzten Tropfen Comedy-Gold zu pressen. “Beckmanns Sportschule”. Wir erinnern uns lieber nicht.
Die Corona-Krise ist keine Fußball-EM
Aber die Corona-Krise ist eben keine Fußball-EM. Man darf sie auch nicht als solche behandeln. Und da zeigt sich auch schon die ganze Misere dieses TV-Ereignisses, das RTL als besinnliches Beisammensein in schweren Zeiten anbietet, als menschheitsverbindende Sozialmaßnahme, die aber vor allem eines ist: das Übliche.
Natürlich: Du darfst Promis nicht nur über Weihnachten, Urlaubsreisen, neue Teilzeitbeschäler oder süßes Babyglück sprechen lassen, sondern auch über Corona. Viele Menschen hören Promis zu, so ist das eben. Kann nicht schaden, wenn auch Sophia Thomalla mal ab und zu sagt, dass man sich die Hände waschen soll.
Aber eines darfst du nicht als Fernsehmacher: Corona als Event missverstehen. Als irgendein putziges Phänomen, das echt voll viele gerade echt voll wichtig finden, und deshalb lass mal was drüber machen, wa? Vielleicht mit Jauch? So skypemäßig improvisiert?
“Absurde Zeiten, ne?”
Schon klar, was sich die Helden der Ablenkung da gedacht haben: sich mal eine Stunde nicht um Infiziertenzahlen und Ausgangssperre kümmern müssen. Mal ein bisschen durchschnaufen dürfen. Sind ja gerade irgendwie alle in Quarantäne, haha. Aber dass RTL zum Thema Corona wirklich gar nichts einfällt als Schema F (Promis!), ist doch bitter.
Man plaudert also über dies und jenes. Man staunt, dass Günther Jauch im Besitz von todschicken Apple Airpods Pro ist, während Laura “Schriftsteller wie ich” Karasek sich sekundenlang in ihrem Kabel verheddert bis kurz vorm finalen Hockersturz. Und man fragt sich, ob Thomas Gottschalk die alte VGA-Kamera aus seinem Nokia 2690 mit 640 x 480 Pixel ausgebaut hat, weil er aussieht wie das Monster aus Minecraft.
“Absurde Zeiten, ne?”, sagt Max Giesinger, Sänger. Und übersieht dabei, dass er selbst und seine Anwesenheit in einer Sendung zu einer globalen Seuche die Wahrheit seiner Aussage parallel gleich mal auf das Präziseste unter Beweis stellt. Absurde Zeiten. So absurd, absurder geht es kaum.
Die Single kommt dann nächste Woche
Geht es nicht? Geht es doch. Denn nun greift Giesinger zur Gitarre und singt gegen alle Widerstände auch von Oliver Pocher (“Dann tu’s halt ...!”) ein Danke-Lied “für alle Krankenschwestern und Lastwagenfahrer”, die sich gerade – da hat er dann wieder in der Sache Recht – abrackern da draußen.
Und dieses Lied, das in Wahrheit natürlich nichts mit Krankenschwestern zu tun hat, erscheint – gucke an! – kommende Woche als Single, so viel Zeit muss sein, das Geld wird aber gespendet. “Es geht um eine ernste Angelegenheit”, sagt Giesinger. “Das ist meine Meinung dazu.” Ja potzblitz! Ist das so!? Es würde einen ja nicht wundern, wenn Giesingers Lied mit seinem Feelgood-passt-immer-alles-dufte-Text demnächst als offizielle RTL-Corona-Hymne in Dauerschleife vor jedem Werbeblock läuft.
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“Die Quarantäne-WG”: Als wäre Corona eine Fußball-EM.
© Quelle: TVNOW
Corona als lustig bunte Folie
“Die Allermeisten sind gar nicht infiziert”, analysiert anschließend Günther Jauch altersweise. Was einerseits tröstlich ist, andererseits aber auch nicht die bestürzende Tatsache verschleiert, dass Jauch, der einst so brillante Journalist, helle Kopf und Menschenfänger, sich nicht bloß als Teilnehmer zu einem solchen televisionären Unfug hergibt, sondern ihn auch noch von der von ihm gegründeten Firma i+u produzieren lässt, die er zwar vor einem Jahr verkaufte, der er aber “für eine geraume Zeit" weiter beratend zur Verfügung stehen will. Mit anderen Worten: Er ist mit im Boot.
Es ist gewiss aller Ehren wert, eingefahrenes, aalglattes Formatfernsehen mal zu verlassen und etwas zu wagen. Aber die Corona-Krise quasi als lustig-bunte Folie für eine konventionelle Quasselparty voller Schmusetext und Beömmelung zu nehmen, als handle es sich um ein lustig-popustiges Popevent, reißt eine Niveaulatte.
Es war schon schlimm genug, dass Bono ein Lied über die Corona-Krise angekündigt hat. Aber mit der “Quarantäne-WG” zeigt sich sehr klar, dass das sich selbst befeuernde, gut geölte Starkult-System aus Promis, die zu Promis Dinge über Promis sagen, für ein bisschen kuschelige Alltagsdekoration zwar sehr gut taugt, zu einer globalen Krise dieser Dimension aber absolut gar nichts beizutragen hat, außer sie als Kollateralschaden noch zu verschlimmern.
Am Ende bittet Jauch um Nachsicht
Sicher war die “Quarantäne-WG” auch irgendwie herzwärmend gemeint. Das lineare Fernsehen weiß genau, dass seine große (letzte) Chance darin liegt, die Menschen zueinander zu bringen, statt sie aufeinander zu hetzen. Diese Sendung aber bestand überwiegend aus gealterten Narzissten, die in Kameras starren.
Am Ende bittet Jauch – offenbar ahnend, dass die erste Ausgabe der Sause ein Schuss in den Ofen war – geradezu demütig um Nachsicht. Man werde noch nachsteuern. Aber wie willst du nachsteuern, wenn in der nächsten Sendung Toni Kroos und Michelle Hunziker zuschalten?
Das passiert halt, wenn erfahrene Medienmacher, zu denen niemand mehr Nein sagt, in die Midlife-Crisis kommen. Manche gründen Social-Media-Agenturen. Manche mieten Schiffe. Manche machen Skype-Fernsehen. Und alle suchen sie bloß den alten Rock 'n' Roll. Aber, Herrschaften: Der ist tot.
Ein näherer Blick auf das Coronavirus
Die Corona-Krise hält Deutschland, Europa und die Welt in Atem und legt das öffentliche Leben weitgehend lahm. Hier ein näherer Blick auf den Übeltäter.
© Quelle: Reuters