„Ich binge, also bin ich“ – Kommet, ihr Streamer!

Königin der Asche: Daenerys (Emilia Clarke) wollte mit ihren Getreuen die „bessere Welt“ erbauen zu können. Doch war sie nur eine weitere Tyrannin, die alle moralische Legitimation verloren hat. Die Fantasyserie "Game of Thrones" verschlang man am liebsten am Stück - in DVD-Boxen oder später auch im Streaming.

Königin der Asche: Daenerys (Emilia Clarke) wollte mit ihren Getreuen die „bessere Welt“ erbauen zu können. Doch war sie nur eine weitere Tyrannin, die alle moralische Legitimation verloren hat. Die Fantasyserie "Game of Thrones" verschlang man am liebsten am Stück - in DVD-Boxen oder später auch im Streaming.

Eigentlich war ich ja Jahrzehnte komplett weg von Fernsehserien. Schuld daran war ein Mann namens Bobby gewesen, der jüngste Sohn von Jock und Ellie Ewing – steinreichen texanischen TV-Öl-Adligen. Der war eigentlich tödlich verunglückt und raus aus der Serie „Dallas“. Und stand doch eines Tages wieder in der Dusche und erklärte seiner Frau Pam, dass sie ebenjene Staffel der Serie. während der er tot gewesen war, Gott sei Dank nur geträumt hatte: „Nichts davon ist passiert, Pam!“

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Wie Pam hatte aber auch ich Zuschauer das 31-mal 48 Minuten lang geglaubt. Bobby, der Auferstandene, wiederbelebt allein aus Quotengründen – hatte mir damals 1488 Minuten Lebenszeit gestohlen. Und das war’s dann mit mir und den Serien! Für immer! Na ja, zumindest bis der CTU-Agent Jack Bauer mich 2004 zurückholte und mich mit seinem Antiterrorkampf in der Serie „24“ das Bingen lehrte.

Bingen war damals – vor dem Zeitalter der Streamingdienste – das An-einem-Wochenende-Wegschrubben einer ganzen „24“-DVD-Box. Bingen machte mich 2004 ultimativ frei. Mit den Silberscheiben-schaffte man die 24 Stunden dieser Echtzeitserie in 18 Stunden, weil ja die Werbepausen wegfielen. Keine Woche Wartezeit mehr auf die nächste Episode, die DVD, später die Blu-Ray erhoben einen zum Herrn seiner Zeit.

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Und dann erst 2012: Ein kleiner Junge wurde aus dem Turmfenster einer Burg gestoßen, womit das „Game of Thrones“ begann. So ausgefeilt und echt war jeder Nebenritter in diesem großen Krieg, dass man die „GoT“-DVD-Boxen Jahr für Jahr zu Weihnachten bingte, wie man früher „Harry und Sally“ zu den Festtagen sah. Man verstieß den alten Röhrenfernseher und wünschte sich vom Weihnachtsmann ein Flachbildmonster. Das man auch bekam. Wow!

Noch immer hatte man damals ein wenig Zeit für Familienmitglieder und Nebeninteressen, für Haustierpflege und Pflanzenhege, für Weihnachtsklöße, Entenbraten und ein wenig Weihnachtsbäckerei. 2014 aber begann bei uns zu Hause mit Amazon Prime Video das Zeitalter des Streamings. Dann kam „Stranger Things“ und damit das als Heiliger Gral des Bingens gepriesene Streamingportal Netflix!!! Wir schenkten uns Netflix zu Weihnachten. Fröhliche Familienfernsehabende waren unsere Vorstellung, eine Gemeinschaft am kleinen Familienlagerfeuer vortrefflicher Serien, dazu tiefschürfende Gespräche über Qualitätsfernsehen.

Das hat nicht funktioniert.

Am Anfang waren alle in der Familie aus dem Häuschen. Einfach weil man jetzt auch netflixte, juchu! Serien ohne Ende! Und die Regale im Haus mussten jetzt auch nicht mehr mit DVD-Boxen vollgestellt werden, schon weil Netflix seine Serien gar nicht auf DVD herausbrachte. Schon bald aber musste man auf halber Serienstrecke warten, weil das eine Familienmitglied am Mittwochabend Fahrstunde hatte, das andere jeden Donnerstag Hockeytraining, man selbst Spätdienst, Abendtermine. Ungeduld wich dem Ärger, keiner hatte mehr Lust, auf die anderen zu warten. So bingte jeder für sich weiter, und schon bald waren alle in allen gemeinschaftlich begonnenen Serien unterschiedlich weit. So wird es auch bei Ihnen werden. Garantiert.

Auch die Geschmäcker schlagen ganz schnell durch. Ihre Tochter wird über kurz oder lang die Teilnahme an Science-Fiction-Serien („Ich mag den ganzen Weltraumscheiß nicht!“) verweigern. Sie und Ihr Sohn beenden dafür die Teilnahme an sämtlichen Krankenhausserien („Zu viel Sex in Besenkammern“). Ein Verdrängungswettbewerb beginnt. Und niemand will in Sachen Bingen der Klügere sein. Ein Zweitfernseher wird angeschafft. Und nicht viel später haben alle einen eigenen Apparat in ihren Zimmern und jeder nutzt einen eigenen Netflix-Kanal des Abos. Es gibt nur noch Ravioli an den Feiertagen und auch sonst. Das Familienlagerfeuer erlischt.

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Als nächste Stufe der Eskalation fragt man dann nicht mal mehr, was sich die anderen angeschaut haben. Man kann ja eh nicht mitreden wie früher beim „Bergdoktor“. Und das Schlimmste, was es gibt, ist jetzt sowieso, wenn man Handlungsfetzen oder besondere Szenen von etwas verraten bekommt, das man sich möglicherweise noch mal selbst anschauen möchte. Spoilern steht im Rang eines Verbrechens – und so verebbt die Kommunikation zu Hause.

Sie werden Ihre Familie irgendwann nur noch zu den Mahlzeiten sehen, wo jeder müde von durchbingten Nächten stumm seine Portion heißer Dosenravioli löffelt. Danach wird jeder rasch wieder zu seinem Fernseher entschwinden, zu „The Terror“, „The Witcher“ und zu „Carnival Row“. Das Geschirr bleibt ungespült, die Garderobe ungebügelt. Lebensmittelmotten fliegen Ihnen um die Nase, täglich werden sie mehr, und der Hund hat sein Geschäft notgedrungen schon wieder im Wohnzimmer verrichtet.

Es ist Weihnachten, das merken Sie nur noch an der Leiste mit belanglosen Weihnachtsfilmen bei Netflix. Ich binge, also bin ich. Fröhliches Bingen überall. Lasst uns froh und bingend sein. Nächstes Jahr starten bei uns auch Streamingdienste von Apple und Disney. Schenken Sie sich die 2020 besser nicht zu Weihnachten.

Sonst gibt’s die Ravioli nur noch kalt.

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