Gil Ofarim und der Bärendienst: Was uns dieser Fall lehren sollte

Der Sänger Gil Ofarim.

Der Sänger Gil Ofarim.

Leipzig. Was genau am 5. Oktober im Leipziger Westin-Hotel geschah, ist immer noch nicht abschließend geklärt. Dass sich die Vorfälle allerdings so zugetragen haben, wie zunächst vom Sänger Gil Ofarim behauptet, scheint inzwischen zumindest fraglich.

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Schon kurz nach dem angeblichen Antisemitismusvorfall veröffentlichten Medien Bilder der Hotel-Überwachungskamera. Der Davidstern, wegen dessen Ofarim von einem Mitarbeiter angeblich diskriminiert worden war, ist auf diesen Bildern gar nicht zu sehen. Am Mittwoch veröffentlichte nun die „Zeit“ neue Recherchen und beruft sich dabei auf einen 118 Seiten langen Ermittlungsbericht der Anwaltskanzlei Pauka & Link, die von der Betreibergesellschaft des Leipziger Westin-Hotels beauftragt worden war. Demnach bestätigt keiner der in der Hotellobby anwesenden Zeugen die Vorwürfe Ofarims.

Auf den Überwachungskameras sei die Kette nicht zu sehen. Die Bilder lieferten dafür aber einen Eindruck davon, wie sich der Sänger verhalten habe. So soll der 39-Jährige beispielsweise in der Lobby von einem „Scheißhotel“ oder „Scheißladen“ gesprochen haben, wie mehrere Zeuginnen und Zeugen sagen – und nicht nur das: Der Musiker habe sogar angekündigt, dass er, sobald er auf dem Zimmer sei, ein Video für Instagram aufnehmen werde. Das werde „viral gehen“.

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Ein Bärendienst im Kampf gegen Antisemitismus

All das spielt nun denjenigen in die Hände, die ohnehin schon immer den Antisemitismus in Deutschland kleingeredet haben. Schon kurz nach Veröffentlichung der Überwachungskamera-Aufnahmen frohlockten die ersten von ihnen in den sozialen Netzwerken. Da wollte sich mal wieder ein B-Promi wichtig machen, so der Tenor. Viele der Posts und Kommentare sind im Kern selbst antisemitisch. Da wird das Märchen vom „hinterlistigen“ oder „heimtückischen Juden“ reproduziert, von einem „Opferkult“ oder der „Antisemitismuskeule“ gesprochen – als gäbe es das Problem gar nicht.

Nichts könnte falscher sein als das: Allein 2020 war die Anzahl der gemeldeten antisemitischen Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 15,7 Prozent auf 2351 Fälle gestiegen. Etwa 95 Prozent der Taten wurden als rechtsmotiviert eingestuft. Ein ähnlicher Trend zeigt sich bereits für 2021. Kurz vor Bekanntwerden des Leipziger Falls war ein 60-jähriger Jude am Rande einer Israel-Demonstration so stark verletzt worden, dass dieser ins Krankenhaus musste und beinahe sein Augenlicht verlor. Zwei Jahre zuvor wurde ein Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt, tagtäglich ist in Polizeimeldungen von antisemitischen Übergriffen im Land zu lesen.

Im Fall Ofarim hat die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Offiziell ist derzeit noch unklar, wer hier eigentlich Opfer und wer Täter ist. Dem Kampf gegen Antisemitismus, Hass und Hetze hat der Leipziger Vorfall aber dennoch einen echten Bärendienst erwiesen. Und: Er rückt zugleich auch eine ganz andere Frage in den Fokus. Wie wollen wir als Gesellschaft oder zumindest als Internetnutzerinnen und -Nutzer künftig damit umgehen, dass potenzielle Opfer von Übergriffen theoretisch auch lügen können? Und wie lassen sich diese Erkenntnisse mit der Solidarität vereinbaren, die diese Opfer eigentlich zwingend brauchen?

Nicht der erste Fall

In den vergangenen Jahren hat sich in Netzdebatten eine Art Konsens entwickelt, der in solchen Momenten tragisch in sich zusammenfällt. Er lautet, grob heruntergebrochen: Volle Solidarität mit Opfern – es gibt keine Gründe, ihnen nicht zu glauben.

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Mehrere Fälle in der Vergangenheit haben jedoch gezeigt, dass das nicht stimmt. 2012 beispielsweise hatte das Model Gina-Lisa Lohfink zwei Männer beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben, was sich im Laufe des Prozesses als Lüge entpuppte. Zuvor war Lohfink als Ikone der der Nein-heißt-Nein-Bewegung erkoren worden. Dem Feminismus erwies das, ähnlich wie im aktuellen Fall, damals einen Bärendienst.

2019 hatte der US-amerikanische Sänger und Schauspieler Jussie Smollett behauptet, von zwei maskierten Trump-Anhängern angegriffen worden zu sein, die ihn rassistisch und homophob beschimpft hätten. Auch er erlebte umgehend eine Welle der Solidarität. Bei Ermittlungen kam später heraus: An den Vorwürfen ist offenbar nichts wahr – Smollett soll den Übergriff inszeniert haben, um seine Karriere voranzubringen. Noch ist der Fall nicht gänzlich abgeschlossen.

Die immer gleichen Mechanismen

Und jetzt also Gil Ofarim. Das selbstgedrehte Instagram-Video des Sängers verbreitete sich Anfang Oktober innerhalb weniger Stunden rasant im Netz, bis heute wurde es 3,8 Millionen mal abgerufen. Es dauerte nur wenige Stunden, da schlugen sich die ersten Promis und Netzpersönlichkeiten auf die Seite des Sängers, nur wenige Stunden später standen die ersten Demonstrierenden vor dem Leipziger Westin. Der beschuldigte Mitarbeiter „Herr W.“ (Zitat Ofarim) wurde vorübergehend suspendiert.

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Bei all diesen Fällen mag es sich um Einzelfälle handeln. Prominente, die ihr Ego nicht im Griff haben, die die Opferkarte ziehen, weil sie wissen, dass sie funktioniert. Aber es gibt diese Fälle nun mal, und es wird sie immer wieder geben.

Dass sie so gut funktionieren hat auch mit der Kompromisslosigkeit zu tun, mit der solche Debatten im Netz geführt werden. Wenn Ofarim an der Hotel-Lobby (mutmaßlich) mit einem „viralen Video“ droht, dann spielt er (mutmaßlich) mit genau diesen Mechanismen. Er weiß, welche Knöpfe er zu drücken hat, um eine Solidaritäts- oder Empörungswelle auszulösen. Parallel dazu ergießt sich dann eine Welle des Hasses über die mutmaßlichen Täter – in diesem Fall den Hotelmitarbeiter „W.“ oder das Leipziger Westin als Ganzes. Es wird gespottet und gescherzt, wie schlecht die Hotelkette auf die Vorwürfe reagiert – und dann holen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch noch ein altes Solidaritätsbanner aus dem Schrank, wie peinlich. Der Ruf ist ruiniert.

„Er wirkt absolut gefestigt“: Reporter gibt Einblick in Gespräch mit Gil Ofarim

Der Fall Gil Ofarim ist komplex. Der Sänger bleibt aber bei den von ihm erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen. Eine Einordnung von Leipzig-Reporter Matthias Puppe.

Der Fall Mockridge und die Nachwirkungen

Auch andere Fälle der vergangenen Wochen zeigen die immer gleichen Mechanismen. Über den Comedian Luke Mockridge beispielsweise machten sich Mitte des Jahres im Netz erste Missbrauchsvorwürfe breit, die zunächst nicht mehr als Gerüchte waren. Aktivistinnen und Aktivisten machten sich das Thema jedoch trotzdem umgehend zu eigen, jagten Mockridge einmal quer durch sämtliche soziale Netzwerke, forderten härteste Konsequenzen und erklärten ihn zur Persona non grata.

Wie bei ähnlichen Fällen dieser Art ging es auch beim Fall Mockridge irgendwann nur noch marginal um das eigentliche Thema, geschweige denn um die Opfer. Man kann einigen Akteuren durchaus vorwerfen, dass sie sichtlich Spaß daran hatten, die Karriere des Komikers zu zerstören. Comedy-Kollegen feierten sich mitunter minutenlang in ihren Podcasts dafür, wie sie nach ihrer Solidaritätsaktion beim Comedypreis im Netz „viral“ gingen, und wieviel Rückgrat sie im Gegensatz zur restlichen Showbranche eigentlich besitzen. Eigentlich völlig unbeteiligte Aktivistinnen bauten sich mit Hilfe des Falls Luke Mockridge ganze Instagram-Karrieren auf, und feiern dort bis heute hämisch das vorläufige Karriere-Ende des Comedians.

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Der Fall Mockridge ist anders als die zuvor genannten: Recherchen des „Spiegel“ verdichteten später die Vorwürfe gegen den 32-Jährigen. Aber es hätte eben auch ganz anders kommen können. Und dann? Was wäre dann?

Empörungsmechanismen hinterfragen

Die Lösung des Problems darf nicht lauten, potenziellen Opfern von Übergriffen gar nicht mehr zu glauben oder jeden Vorwurf anzuzweifeln. Das wäre fatal, und ein Schlag ins Gesicht für alle tatsächlich Betroffenen.

Egal ob im Fall Lohfink, Ofarim oder Smollett: Antisemitismus, Rassismus, Homophobie oder sexuelle Gewalt sind real existierende Probleme, tagtäglich fordern sie Opfer – und es gibt zunächst keinen plausiblen Grund, ihnen nicht zu glauben.

Es lohnt sich aber, Empörungsmechanismen zu erkennen, zu hinterfragen und Debatten anders anzugehen. Eine falsche Beschuldigung, die im Internet hochgejazzt wird, kann im Zweifel nicht nur das Leben des vermeintlichen Täters zerstören – sie schädigt auch tatsächliche Opfer von Antisemitismus, Rassismus oder Missbrauch. Nämlich dann, wenn ihnen nicht mehr geglaubt wird.

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Solidarität mit Opfern, weniger Hass für Täter

Wie eine Debatte auch anders laufen kann, haben im Fall Gil Ofarim ausgerechnet die Medien gezeigt. Selbst sonst so knallige Boulevardblätter berichteten vergleichsweise sachlich und vorsichtig über den Fall. Hier stand in zahlreichen Debattenbeiträgen, Expertengesprächen und Interviews weniger der vermeintliche Täter im Vordergrund – sondern eher das Thema Antisemitismus an sich. Es war eine gute Gelegenheit, das Problem auf die große Bühne zu heben – wenngleich der Anlass im Nachhinein kein besonders guter war.

Die Berichterstattung im Fall Ofarim könnte Vorbild sein für künftige Netzdebatten. Man kann mutmaßlichen Opfern auch volle Solidarität zusprechen, ohne den mutmaßlichen Täter gleich mit Mobbingmethoden durchs Internet zu hetzen. Man kann über Antisemitismus, Rassismus und sexuelle Gewalt sprechen und das Thema auf die Agenda heben, ohne vorzuverurteilen.

Und sollte sich dann, wie in wenigen Einzelfällen, doch alles als große Lüge entpuppen, dann ist die Fallhöhe auch deutlich kleiner. Für die Initiatoren des Entrüstungssturms, für die Täter, die eigentlich keine waren – aber eben auch für Opfer, die darauf angewiesen sind, dass ihnen geglaubt wird.

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