Zu viele Experten, zu wenig Distanz: Warum die TV-Berichterstattung zur EM nicht funktioniert hat
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Ein Krisengebiet namens „Deutsche EM-Fernsehberichterstattung“. Thomas Fuhrmann, Sportchef des ZDF, in der „Sportstudio-Arena“ auf dem ZDF-Gelände in Mainz-Lerchenberg.
© Quelle: Arne Dedert/dpa
Der Tiefpunkt war erreicht, als Bastian Schweinsteiger den Arm hob. Es war Halbzeit beim EM-Viertelfinalspiel zwischen England und der Ukraine in Rom. An diesem Abend trug der ARD-Experte sein Mikrofon merkwürdig ungelenk in der linken Hand, nicht in der rechten wie sonst. Warum? Der Grund baumelte dekorativ an seinem Handgelenk: eine 1700-Euro-Uhr eines schweizerisch-amerikanischen Markenherstellers. „Time for the 2nd half“ („Zeit für die zweite Halbzeit“), twitterte der 35-Jährige dazu – und versorgte seine 4,9 Millionen Follower mit einem Foto der Uhr, dessen Perfektion die Marketingprofis des Unternehmens erfreut aufjauchzen gelassen haben dürfte.
Schleichwerbung. Kein Zweifel. Seit 2019 ist Schweinsteiger für den Uhrenhersteller als Mietprofi tätig. Die ARD-Verantwortlichen schäumten. Intern soll es stundenlange wütende Gespräche gegeben haben. Ergebnis: keine Rote Karte für den teuer eingekauften Neuzugang, aber eine Dunkelgelbe. Man habe Schweinsteiger und seinem Management „sehr deutlich gemacht, dass die ARD gemäß ihrer Richtlinien keine Form von Schleichwerbung duldet“. Sein ARD-Vertrag läuft noch bis 2022 – inklusive der WM in Katar. Er löschte den Tweet. Doch der Schaden war angerichtet.
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Da trug er sein Mikrofon noch in der rechten Hand: ARD-Experte Bastian Schweinsteiger mit Moderatorin Jessy Wellmer am Rande des EM-Achtelfinalspiels England gegen Deutschland am 29. Juni 2021 im Wembley-Stadion in London.
© Quelle: imago images/ULMER Pressebildagentur
Die Uhrenaffäre war die Talsohle in einem größeren Krisengebiet namens „Deutsche EM-Fernsehberichterstattung“. Kurz vor dem Finale fällt neben der sportlichen auch die mediale Bilanz der paneuropäischen Sportsause düster aus. Viel zu viele „Experten“, die zerdehnte Offensichtlichkeiten herunterbeteten. Viel zu redselige TV-Kommentatoren, die im Rausch der eigenen Satzbildung den wichtigsten Vorteil von Fernsehbildern ignorierten: Zuschauer können selbst sehen, was passiert. Viel zu viele Sponsorentrailer, die Sekunden nach dem Abpfiff die sehenswerten Gefühlswallungen des Siegers zerhackten – etwa beim Halbfinale zwischen Spanien und Italien. Viel zu karg möblierte Vor- und Nachberichterstattung, die fast vollständig auf clevere Einspielfilme und liebevolle Porträts verzichtete. Stattdessen: Talk ohne Gnade.
Der Fußball hat an Relevanz und Nähe verloren.
Jana Wiske, Medienwissenschaftlerin
„Der Fußball hat an Relevanz und Nähe verloren“
Am Ende gibt es erstaunliche Parallelen zwischen dem Zustand der deutschen Nationalmannschaft und dem öffentlich-rechtlichen Sportjournalismus: Beide halten Erfolg für ein Naturgesetz, zehren zu sehr von altem Ruhm und erwecken mit altbackenen Konzepten den Eindruck, nicht mehr mit letzter Leidenschaft bei der Sache zu sein. Auch die Quoten waren weit entfernt von früheren Marken: Im Schnitt 8,8 Millionen Zuschauer schauten etwa die EM-Gruppenspiele bei ARD und ZDF – im Vergleich zu 10,8 Millionen bei der EM 2016. „Der Fußball hat an Relevanz und Nähe verloren“, sagt die Medienwissenschaftlerin Jana Wiske. Sie kritisierte, dass „der Profifußball seine Sonderrolle in der Pandemie nicht immer mit der nötigen Demut angenommen und Werte ignoriert“ habe. All das zeichne „ein entrücktes Bild“. Begeisterung? Keine. Der Fußball hat sich selbst beschädigt.
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Sie gehörten zu den Gewinnern der EM-Berichterstattung: Per Mertesacker, Christoph Kramer und ZDF-Moderator Jochen Breyer (v. l.).
© Quelle: ZDF und Torsten Silz
Fußball ist Entertainment. Und Entertainment lebt von Lust. Stattdessen schleppte sich Tom Bartels durch seine Sätze wie ein mittelalterlicher Treidler am Tau eines Transportschiffes. Als strenge es ihn körperlich an, sich Worte abzuringen. Stattdessen war Alexander Bommes erneut in seiner Rolle „Lockerer ARD-Sportmoderator“ zu sehen. Und nebenan im ZDF wertet Béla Réthy Leerlaufphasen oder Ideenlosigkeit auf dem Platz zunehmend als persönlichen Affront. Einzig Oliver Schmidt (der im ZDF auch das Finale kommentieren wird) und die von Sky ausgeliehene Magenta-TV-Spruchmaschine Wolff Fuss („Der Ball flattert so stark – bei jedem Schuss denkst du: Da drin wohnt einer“) erweckten den Eindruck, ihre Berufswahl nicht zu bedauern.
Der Ball flattert so stark – bei jedem Schuss denkst du: Da drin wohnt einer.
Wolff Fuss, EM-Kommentator bei Magenta TV
Und Magenta TV? Der Neuling auf dem Feld der flächendeckenden Turnierbegleitung? Mit Johannes B. Kerner, Michael Ballack und Fredi Bobic hatte man sich reichlich Prominenz eingekauft. Doch auch Magenta TV ertrank zwischen den Spielen in endlosen Taktikerwägungen – samt eines etwas verzopften XL-Touchscreens – und kam überdies viel zu offensiv im grellen Magenta-Look des Konzerns daher. Von einer Blamage freilich war das „Unternehmen EM“ der Telekom weit entfernt. ARD und ZDF müssen sich auf erstarkende Konkurrenz einstellen.
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Allgegenwärtige Konzernfarbe: das EM-Studio von Magenta TV in Ismaning bei München.
© Quelle: imago images/Thomas Vonier
Das größte Ärgernis war der Mangel an Distanz
Gewiss ist ein vierwöchiges Turnier ein Brett von einer Aufgabe, erst recht in Corona-Zeiten. Doch es genügt einfach nicht, allein auf die Ausstrahlung stillgelegter Ex-Profis zu setzen, die sich mit Wortunglücken wie „Ballhaltephase“, „Spielanteilsverteilung“, „Mentalitätsspieler“ oder „Restverteidigung“ über die Zeit retten. „Analyse“ ist im Eventsportjournalismus nur eine Schönwettervokabel für „Geschwätz“. Zur Klartextfraktion zählten allenfalls Christoph Kramer und Per Mertesacker im ZDF und U21-Europameistertrainer Stefan Kuntz und Neuentdeckung Almuth Schult in der ARD.
Das größte Ärgernis aber war der Mangel an Distanz. Im Bemühen, das eigene Produkt nicht zu beschädigen, fehlte jede Ironie. Schweinsteiger wirkte phasenweise wie der Pressesprecher des DFB-Teams. Wer will schon die alten Kumpels kritisieren? Der Einzige, der es mit ironisch-lakonischem Parlando rauszureißen bemüht war, war Micky Beisenherz im „Sportschau Club“. Das war weit entfernt vom Grauen früherer Experimente („Waldis EM-Club“). Aber auch er konnte im Verbund mit Esther Sedlacek nicht die Defizite des Systems kaschieren. Was Ton und Farbe des Sports bei ARD und ZDF guttäte: mehr „11 Freunde“ wagen. Und weniger „Sport Bild“.