Schluss nach 25 Einsätzen

ESC-Legende Peter Urban im Abschiedsgespräch: „Ich finde es schön, diese Stimme zu haben“

„Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich 75 bin“: ESC-Kommentator und NDR-Popexperte Peter Urban verabschiedet sich vom Song Contest.

„Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich 75 bin“: ESC-Kommentator und NDR-Popexperte Peter Urban verabschiedet sich vom Song Contest.

Herr Urban, Ihre Ära als Kommentator beim Eurovision Song Contest ist zu Ende. Warum hören Sie auf?

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Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich 75 bin. Und nach 25 Einsätzen dachte ich mir: Das ist ein guter Zeitpunkt. Irgendwann gibt es immer Stimmen, die fragen „Wann hört der alte Sack endlich auf?“ – und darauf wollte ich nicht warten. Natürlich tut es auch ein bisschen weh. Aber ich bin nach zehn Hüftoperationen auch nicht mehr so mobil.

Hat der ESC heute noch etwas zu tun mit Ihrem ersten Contest im Jahr 1997?

Nur noch ansatzweise. Es gab damals nur 18 Delegationen, nicht mehr als 40 wie heute. Mein erster ESC ging in Dublin im Point Theatre über die Bühne, als die englisch-irischen Troubles noch in vollem Gange waren. Es gab eine Bombendrohung, und mitten in meiner Live­moderation kamen zwei Polizisten mit Spürhund in meine Sprecherkabine. Dummerweise hatte der Toningenieur meinen Regler nicht hochgezogen, deshalb ist die ganze Aufregung akustisch nicht erhalten.

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„Die Empfindlichkeiten sind extrem unterschiedlich“: Seit 1997 kommentierte Peter Urban den Eurovision Song Contest im deutschen Fernsehen.

„Die Empfindlichkeiten sind extrem unterschiedlich“: Seit 1997 kommentierte Peter Urban den Eurovision Song Contest im deutschen Fernsehen.

Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe?

1996 durfte Deutschland ja nicht am ESC teilnehmen, weil die Vorabjury den singenden Münchner Friseur Leon mit „Planet Of Blue“ abgewählt hatte. Deutschland war sauer, und die Show kommentierte dann mein NDR-Kollege Ulf Ansorge – aber so satirisch und knallig, dass die Fans entsetzt waren. Da kam ich ins Spiel. Und dann kam auch bald Guildo Horn und mit ihm der Riesenwirbel um die Neuausrichtung des ESC.

Mehr Trash, mehr Aufreger, grellere Acts. Und es wurde ein gigantisches Event.

Das hing auch mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs zusammen. Der Ostblock kam dazu, der Balkan. Deshalb gab es dann ab 2004 die Halbfinals. Gleichzeitig fand ich die Sache auch musikalisch immer interessanter, weil es vielseitiger wurde.

Die Empfindlichkeiten sind extrem unterschiedlich. Man darf niemals pauschalisieren – was Terry Wogan für Großbritannien ja immer getan hat. Bei ihm ging es beim deutschen Beitrag immer um Panzer und Blitzkrieg.

Peter Urban,

ESC-Kommentator seit 1997

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Waren Sie früher strenger und lästerwütiger?

Es gibt da verschiedene Gesichtspunkte: Erstens ist im Laufe der Jahre die Qualität der Acts immer professioneller geworden – weniger skurril und abgefahren. Zweitens scheiden in den Halbfinals die seltsamsten Beiträge aus. Drittens wird viel weniger falsch gesungen wegen des In-Ear-Monitorings. Da fällt manches weg, was ich früher ironisch betrachtet habe. Die Empfindlichkeiten sind extrem unterschiedlich. Man darf niemals pauschalisieren – was Terry Wogan für Großbritannien ja immer getan hat. Bei ihm ging es beim deutschen Beitrag immer um Panzer und Blitzkrieg. So etwas wollte ich nie tun. Habe ich auch nicht.

2005 haben Sie den Beitrag der fülligeren Sängerin aus Malta als „rund“ bezeichnet. Prompt protestierten die Dickleibigen.

So etwas würde man heute nicht mehr sagen – einfach, weil es mit Äußerlichkeiten und Körperlichkeit zu tun hat. Man traut sich ja kaum noch, eine Sängerin aus Serbien „höchst attraktiv“ zu nennen. Manchmal ist das auch traurig, weil es dadurch langweiliger wird. Aber für vieles habe ich großes Verständnis. Künstler haben sich nie beschwert. Aber in Düsseldorf 2011 ist die Tonleitung zusammengebrochen, und alle Kommentatoren mussten über Telefon moderieren. Ich rief gut hörbar: „Ja, sind wir denn in Kasachstan?“, und die kasachische Botschaft bedankte sich dafür schriftlich für die Erwähnung: „Unsere technischen Möglichkeiten sind tatsächlich Weltspitze. Kasachstan würde gerne den ESC organisieren, Sie sind herzlich eingeladen.“

Ich verstehe den ESC auch als kulturellen Spiegel des europäischen Einigungsprozesses. Es geht um viel mehr als Musik. Wie sehen Sie das?

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Absolut. Die Ursprungsidee war ja, Harmonie und Verständigung im Nachkriegseuropa mittels Unterhaltung zu fördern. Und das ist, ehrlich gesagt, ziemlich gut gelungen. Beim ESC ist immer ein großer Respekt zu spüren, keine Missgunst. Wenn nicht gerade Russland die Ukraine überfällt.

„Beim ESC ist immer ein großer Respekt zu spüren, keine Missgunst“: Peter Urban am 2012 im Pressezentrum des Eurovision Song Contest (ESC) in Baku in Aserbaidschan.

„Beim ESC ist immer ein großer Respekt zu spüren, keine Missgunst“: Peter Urban am 2012 im Pressezentrum des Eurovision Song Contest (ESC) in Baku in Aserbaidschan.

Ich glaube, das liegt auch an der Arroganz der Feuilletonschreiber, die oft gar nicht wahrnehmen, was da eigentlich abläuft. Manche sprechen immer noch vom „oberflächlichen Schlagerwettbewerb“. Es ist Wahnsinn. Ich habe in 25 Jahren kaum einen einzigen Schlager gehört.

Peter Urban,

ESC-Kommentator seit 1997, zu der Frage, warum der ESC in Deutschland noch immer als „Schlager-Grand-Prix“ verschrien ist.

In Deutschland hält man den ESC seit Jahrzehnten für ein harmloses Schlagerfestival. Warum hält sich dieses Fehlurteil so hartnäckig?

Es ist unfassbar. Ich glaube, das liegt auch an der Arroganz der Feuilletonschreiber, die oft gar nicht wahrnehmen, was da eigentlich abläuft. Manche sprechen immer noch vom „oberflächlichen Schlagerwettbewerb“. Es ist Wahnsinn. Ich habe in 25 Jahren kaum einen einzigen Schlager gehört. Insofern ist das, finde ich, auch tragisch. Ich höre auch immer: „Niemand mag Deutschland.“ Das ist doch Blödsinn. Wenn wir gut sind, dann mag uns Europa. Wenn wir einen vernünftigen, souveränen Beitrag liefern, dann kriegen wir auch Stimmen.

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Ihnen war der Erfolg nicht in die Wiege gelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten Ihre Eltern wie mehr als drei Millionen weitere Deutschsprachige die Tschechoslowakei verlassen, Ziel Niedersachsen. Sie sind bei Osnabrück groß geworden – was war das für eine Kindheit?

Behütet. Wir wohnten in der Schule. Mein Vater war der Schulleiter. Ich musste nur die Treppe runtergehen in die Klasse. Und wir haben viel Musik gemacht, auch später in Quakenbrück. Meine Mutter spielte Klavier, mein Vater und mein Bruder Klaus Geige, ich Blockflöte und dann auch Klavier.

Und dann kam eine lebensverändernde Klassenfahrt nach London

Da war ich knapp 18. Das war sehr aufregend. Ich war schon lange Beatles-Fan, ich habe sie 1966 in Essen live gesehen. In London sah ich dann im Manor House die Spencer Davis Group und Steve Winwood, der war auch gerade 18, wie ich. Es war wahnsinnig. Zwei Tage später spielte John Mayall mit Mick Taylor, und im Vorprogramm sahen wir Ten Years After. Ich bin dann viel nach London gefahren. Bei einem Cream-Konzert mit Eric Clapton kam ein Typ auf die Bühne, nahm die Gitarre in den Mund und spielte spontan mit. Das war Jimi Hendrix. Das war sein erster Auftritt in Europa. Hat mir Clapton später erzählt.

Stimmt es, dass Sie Radio heimlich hörten mit einem kleinen Empfänger unter dem Pullover?

Ja. Ich hörte BFBS, den Sender der britischen Armee, die übertrugen BBC-Sendungen wie den „Saturday Club“. Ich hörte auch John Peel auf Radio London, dem Piratensender auf Mittelwelle, außerdem deutsche Sender wie Radio Bremen und NDR 2 mit Klaus Wellershaus. Ich hatte einen kleinen Empfänger ständig im Ohr, sogar beim Essen. Bis meine Eltern das merkten, trotz meiner längeren Haare. Mit 15 stieg ich dann in eine Jazzband ein, die Quaktown Rhythm Kings.

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Wie kamen Sie nach Hamburg?

Ich wollte unbedingt nach Hamburg, weil die Stadt so anglophil war und musikalisch so interessant. Aber meine Eltern sagten: Nein, du studierst in Münster. Der Kompromiss war dann, dass ich in einem katholischen Studentenheim wohnen musste. Schon in der ersten Woche trat dort im Speisesaal aber Inga Rumpf mit den City Preachers auf, das war 1966. In den Semesterferien arbeitete ich beim Finanzamt.

„Eine solche Stimme zu haben ist natürlich gut und praktisch“: Peter Urban und seine Ehefrau Laura bei der Premiere des Musicals „Wicked“ im Stage Theater Neue Flora in Hamburg.

„Eine solche Stimme zu haben ist natürlich gut und praktisch“: Peter Urban und seine Ehefrau Laura bei der Premiere des Musicals „Wicked“ im Stage Theater Neue Flora in Hamburg.

Seit den Siebzigern spielten Sie dann Keyboard mit Abi Wallenstein.

Unsere Band trug den eigentümlichen Namen Pussy. Das würde man heute wohl nicht mehr so machen. Wir spielten als Hausband im Onkel Pö, das war unser Stammlokal. Die Truppe zerbrach dann, weil die Plattenfirma die Sängerin solo herausbringen wollte.

Dann folgte die Band Bad News Reunion. Woran ist der große Durchbruch gescheitert?

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Nun ja. Auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle spielten wir amerikanische Singer/Songwriter-Musik, gepaart mit Soul und Blueseinflüssen und wunderbaren Texten von Michael Schlüter. West Coast. Das war so ungefähr das Gegenteil. Das passte einfach nicht in die Zeit. Und ich arbeitete nach der Doktorarbeit auch schon als Radio‑DJ und Journalist.

Sie haben damals NDR-2-Moderator Klaus Wellershaus einen Hörerbrief geschrieben. Er antwortete und lud Sie in seine Sendung ein, so ging es los. Waren Sie ein Pop-Pedant? Ein Nerd?

Absolut! Wir freundeten uns an, und nach ein paar Jahren stieg ich in der Musikredaktion ein.

Ihre erste Sendung beim NDR hieß dann 1974 „Musik für junge Leute“. Was für ein sachgerechter, pragmatischer Titel.

Den Titel gab es schon seit den Sechzigern. Genau wie „Musik vor der Schule“ und „Musik nach der Schule“. So hieß das. Und wir spielten dann anderthalb Stunden die neueste Musik. Einfach, was uns gefiel. In meiner ersten Sendung spielte ich Bob Marley, Bobby Womack und die Staple Singers. Die könnte ich heute auch noch spielen. Wir hatten alle Freiheiten. Es war das Paradies.

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Sind Sie dankbar für Ihre Stimme?

Ich kann ja nichts dafür. Insofern: Ja, ich finde es schön, sie zu haben. Ich habe nie eine Ausbildung als Sprecher gemacht. Aber eine solche Stimme zu haben ist natürlich gut und praktisch.

Wo kommt dieses Geschenk her? Glauben Sie an Gott?

Eine schwierige Frage. Ich bin katholisch erzogen, aber der Kirche entfremdet. Ich glaube an etwas Gutes, aber nicht unbedingt an Gott als eine Art Person. Ich glaube an bestimmte menschliche Werte und Qualitäten, aber ich bin nicht gläubig im religiösen Sinne.

Das Radio muss eine viel größere Repertoirebreite bieten, sonst verliert es seine Hörer. Es muss aufhören, so dekadenhörig zu sein: „Die größten Hits der Achtziger und Neunziger“ – was soll das?

Peter Urban,

Radiolegende und ESC-Kommentator seit 1997

Wie geht es aus Ihrer Sicht dem deutschen Musikradio? Ist die ärgste Zeit der Formatierung überstanden?

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Es ist höchste Zeit. Denn sonst wird das Musikradio gegen die Musikstreamingdienste nicht bestehen. Das Radio muss eine viel größere Repertoirebreite bieten, sonst verliert es seine Hörer. Es muss aufhören, so dekadenhörig zu sein: „Die größten Hits der Achtziger und Neunziger“ – was soll das? Das Radio muss sich öffnen und weg von diesem schlimmen Schubladendenken. Hörer stellen sich ihre Playlist nicht nach Dekaden zusammen. Das interessiert sie nicht. Manche Radiosender sagen: „Wir machen keine Hits, wir spielen welche.“ Wie bitte? Das finde ich katastrophal. Diese Philosophie ist einfach falsch.

Sie sind jetzt 75. Viele denken, mit 75 verteidigt man Status Quo und ist raus, was frische Musik angeht. Wie bleibt man musikalisch neugierig?

Status Quo habe ich nie gemocht. Und ich finde es schlimm, wenn ältere Leute sagen: „Früher war alles besser, das war noch richtige Musik.“ Oder umgekehrt – wenn Jüngere sagen: „Früher? Das kenne ich nicht, da war ich noch nicht geboren.“ Ich muss doch alles wissen! Ich kenne auch Beethoven, Bach, Shakespeare und Abraham Lincoln. Ich muss wach bleiben und akzeptieren, dass heutzutage großartige Musik gemacht wird. Bei Musik gibt es keine Altersgrenzen.

Wer sollte Sie als ESC-Kommentator ersetzen?

Ich mache mir darüber keine Gedanken. Aber ich fände es schlimm, wenn es einer dieser marktschreierischen Radiomoderatoren würde, mit dieser grässlichen Zwangsfröhlichkeit, die so viele haben. Das wäre ein Fehler. Es sollte auch kein detailversessener ESC-Statistiker sein. Und er oder sie sollte den Wettbewerb mögen. Es nützt nichts, als ESC-Kommentator nur sarkastisch und zynisch zu sein. Es darf gern lustig oder ironisch sein, na klar, aber eine Grundsympathie für den ESC wäre schon wichtig.

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Herr Urban, vielen Dank für dieses Gespräch.

Mehr als die Stimme des Pop: Peter Urban

Es wäre ein Fehler, Peter Urban auf seine markante Stimme zu reduzieren: Der 1948 in Bramsche geborene Musikjournalist und Radiomacher gehört zu den profiliertesten Kennern der Popszene in den letzten sechs Jahrzehnten. Aufgewachsen ist er bei Osnabrück, er studierte in Hamburg Englisch und Geschichte mit Nebenfach Pädagogik und schrieb seine Doktorarbeit über die Lyrik von Poptexten. Seit 1974 ist er für den Norddeutschen Rundfunk tätig und moderierte beim NDR zahlreiche Musiksendungen. Seit 1997 war er Kommentator beim Eurovision Song Contest und musste nur einmal wegen einer Operation aussetzen. Seine aktuelle Sendung heißt „NDR 2 Soundcheck – Die Peter-Urban-Show“, zudem ist er im „Nachtclub“ bei NDR Blue zu hören. Außerdem erzählt er im erfolgreichen Podcast „Urban Pop – Musiktalk mit Peter Urban“ über die Großen der Musikgeschichte. Gerade erschien seine Autobiografie „On Air: Erinnerungen an mein Leben mit der Musiker“ (Rowohlt, 544 Seiten, 25 Euro), ein pralles und anekdotenreiches Kompendium, das das Herz jedes Popfans erfreut.



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