Empörung über EM-Kommentatoren: Sportbericht­erstattung ist kein Wunschkonzert

Die Fußballkommentatoren Tom Bartels (l) und Claudia Neumann müssen viel Kritik einstecken.

Die Fußballkommentatoren Tom Bartels (l) und Claudia Neumann müssen viel Kritik einstecken.

Hannover. Diese Entwicklung allein ist schon unglaublich: Innerhalb nur weniger Wochen sind aus 83 Millionen Virologinnen und Virologen 83 Millionen Fußballtrainerinnen und Fußballtrainer geworden – Europameisterschaft sei dank. Und als wäre all das noch nicht genug, haben sie jetzt alle noch mal auf Medienexpertin und Medienexperte umgeschult. Eine starke Leistung, fast schon europameisterverdächtig.

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Die Folge ist aber unschön: Es wird genörgelt, gejammert und gepöbelt vor deutschen Fernsehgeräten. Der Frust trifft nicht nur diejenigen, die dort auf den Bildschirmen dem Ball hinterher jagen (zuletzt lief‘s aus deutscher Sicht ja ganz okay) – sondern vor allem auch die Stimmen, die aus den Lautsprechern tönen. Die eine ist offenbar nicht neutral genug, so die Kritik – die andere gehört einer Frau. Irgendwas ist also immer.

Wut gegen Bartels und Neumann

Der Volkssport „Fußballkommentatoren beleidigen“ ist kein neuer. Jedoch fand er früher im Privaten an den Stammtischen statt und blieb außerhalb der Blase glücklicherweise ungehört. Heute jedoch tragen sich die Parolen in die sozialen Netzwerke, wo selbst der größte Quatsch eine Stimme bekommt. EM-Kommentator Tom Bartels und EM-Kommentatorin Claudia Neumann bekommen das gerade deutlich zu spüren.

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Es hagelt Kündigungsforderungen, Beleidigungen und immer neue Halbweisheiten zum Job des Fußballkommentators. Sender sehen sich gezwungen, für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Bresche zu springen oder sich für sie zu entschuldigen. Und am Ende pöbelt der Mob trotzdem weiter.

Fangen wir mit dem Fall Neumann an, denn der ist ein bisschen einfacher zu erklären: Nicht zum ersten Mal scheint das männliche Ego massiv darunter zu leiden, wenn der Volkssport Nummer eins von einer weiblichen Stimme kommentiert wird. Er wolle beim Fußball „mit ein paar Kumpels gemütlich ein Bierchen zischen“, merkt beispielsweise ein Nutzer auf Twitter an. Da wolle er nicht ständig „eine Frauenstimme quatschen hören, egal wie fachkundig sie sein mag“. Dutzende andere zeigen mit einem Bild ihres Fernsehers, wie sie bei von Neumann kommentierten Spielen demonstrativ den Ton ausschalten.

Ein Trauerspiel

Diese Kommentare sind vergleichsweise harmlos. Andere fühlen sich offenbar so sehr ihrer Männlichkeit beraubt, dass sie sich zu übelsten Anfeindungen hinreißen lassen.

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Manche verpacken ihre Kritik ein bisschen schlauer und schieben ihre Abneigung gegenüber Neumann auf ihre angeblich fehlende Fußballkompetenz (die in Wirklichkeit wahrscheinlich um einiges höher sein dürfe als die von Heinz und Dieter vor dem Fernseher).

Am Ende läuft aber alles auf dasselbe hinaus: Während wir noch darüber diskutieren, mit einer Regenbogenbeleuchtung am Münchner EM-Stadion ein Zeichen für Diversität zu setzen, scheint die von Testosteron getriebene Fußballmeute nicht einmal fähig, einer Frau am Mikrofon ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen. Ein Trauerspiel.

Wenn der Kommentator mitfiebert

Tom Bartels kann all das nicht passieren. Er hat den Männerbonus, kann sich also glücklich schätzen, für seine Arbeit ausschließlich inhaltlich kritisiert zu werden, nicht wegen seines Aussehens, seiner Stimme oder seines Geschlechts. Auch die Beleidigungen gegen ihn fallen deutlich harmloser aus. Trotzdem hat Bartels es geschafft, dass sogar sein Arbeitgeber, die „Sportschau“, öffentlich auf Twitter für ihn um Entschuldigung bittet. Was ist da vorgefallen?

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Die Antwort ist auch in diesem Fall weitestgehend unspektakulär: Bartels hatte es gewagt, beim Spiel Dänemark–Russland eine gewisse Sympathie für die dänischen Spieler an den Tag zu legen. Schließlich sah es für die, nach der Tragödie um Christian Eriksen, zunächst gar nicht nicht gut aus im Turnier. Am Montag allerdings gelang der Mannschaft ein kleines Fußballmärchen und die Dänen schafften mit einem 4:1 schließlich auch den Sprung ins Achtelfinale.

Bartels zeigte sich davon sichtlich erfreut, fieberte live am Mikrofon mit – sehr zum Unmut einiger Zuschauer. Sie bezeichneten den Kommentator als „parteiisch“ und „nicht neutral“ und richteten böse Tweets an seinen Arbeitgeber, die „Sportschau“ der ARD. Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten, zwölf Minuten, um genau zu sein: „Tom Bartels kommentiert die Spiele mit bestem Wissen und Gewissen aus einer neutralen Perspektive“, heißt es in einem Tweet. „Dass das in manch einer emotionalen Situation gegebenenfalls nicht immer gelingt, bitten wir zu entschuldigen.“

Das Märchen von der Neutralität

Man muss sich wirklich die Frage stellen, warum die Redaktion der „Sportschau“ ihrem Kommentator wegen ein paar kritischer Twitter-Posts so in den Rücken fällt. Sie müsste es eigentlich besser wissen. Sicherlich sollten Fußballkommentatoren ein Spiel weitestgehend ausgewogen kommentieren – die nun geforderte grenzenlose Neutralität ist aber nichts anderes als ein Märchen.

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Man mag das manchmal vergessen, aber auch die Fußballberichterstattung ist ein journalistisches Format. Die Menschen an den Mikrofonen heißen nicht ohne Grund „Kommentatoren“ und nicht „Fußballspielbeschreiber“. Es gehört zu ihrer Aufgabe, Dinge einzuordnen und auch mal mit einer persönlichen Note zu versehen. Und besondere Ereignisse, wie etwa die Tragödie der Dänen, können die Sicht auf die Gesamtlage auch mal verändern.

Bei einem EM-Spiel der Deutschen würde Bartels schließlich auch niemand vorwerfen, wenn er Begeisterung oder Enttäuschung für die deutsche Mannschaft zeigen würde. Schlimmer wäre es für manch einen Fan vermutlich, wenn er das nicht tun würde.

Kein Wunschkonzert

Die Fälle Neumann und Bartels haben etwas gemeinsam: Eine aufgeladene Fan-Community, die offenbar der Ansicht ist, mit lautem Gebrüll in den Netzwerken die Berichterstattung über ihren Lieblingssport diktieren zu können. Manchmal, wie im Fall von Neumann, beißen sie damit auf Granit und pöbeln dann umso lauter – manchmal, wie im Falle von Bartels, bekommen sie vom Sender sogar Gehör.

Das muss aufhören. Fernsehen ist kein Wunschkonzert, Journalismus ist kein Wunschkonzert, und für die Sportberichterstattung gilt das auch. Daran ändert übrigens auch nichts, dass wir die ausstrahlenden Medien mit der Rundfunkgebühr bezahlen. Nein, Heinz und Dieter sind damit nicht Chefredakteur.

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Keiner dieser Menschen da im Fernsehen ist in der Pflicht, dem selbst ernannten Experten vor der Glotze nach dem Mund zu reden. Und kein Sender sollte auch nur annähernd darüber nachdenken, seine Kommentatorinnen auszutauschen, nur weil sich pöbelnde Fußballfans über ihr Geschlecht ärgern.

Das soll übrigens nicht heißen, dass man Menschen in der Sportberichterstattung nicht für ihre Arbeit kritisieren darf. Doch wenn man es tut, dann ohne Kündigungsforderungen, Spott, Anfeindungen und großes Gebrüll. All den Frust sollte man sich besser für den Tag aufbewahren, an dem Deutschland aus dem Turnier fliegt. Dann kann man gerne seinen Fernseher anbrüllen.

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