Die Unerhörte
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Anwältin des Notentextes: Dinorah Varsis Personalstil konnte beinahe jede Musik tragen.
© Quelle: Genuin
Irgendwie hatte man sie immer auf dem Zettel – die 1939 in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, geborene und 2013 in Berlin gestorbene Dinorah Varsi. Durch die einschlägige Literatur irrlichtert der Name dieser Musikerin, die bis weit in die Sechzigerjahre auf Augenhöhe mit der zwei Jahre jüngeren Martha Argerich gehandelt wurde.
Immer wieder fällt er raunend vor mystischer Verehrung in Gesprächen mit Klavier-Maniacs vornehmlich älteren Baujahrs. Doch präsent war das Wirken dieser Künstlerin, die sich immer wieder und zum Teil für viele Jahre aus dem Klassik-Zirkus zurückzog, nicht mehr.
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Bis jetzt. Denn nun hat das Leipziger Label Genuin, das sich auch schon verdienstvoll um das pianistische Lebenswerk etwa Paul Badura-Skodas kümmerte, auf 35 CDs und fünf DVDs zusammengetragen, was es aus den Fingern Dinorah Varsis zusammenzutragen gab, und das Ganze mit einem 112-seitigen Booklet in eine schicke Box im LP-Format gesteckt.
"Dinorah Varsi Legacy". "Vermächtnis" – das klingt nach Unsterblichkeit, und es drängt sich die Frage auf, womit Varsi ihn verdient haben soll, ihren Platz auf dem Tonträger-Olymp der Pianisten, wo es ziemlich eng geworden ist, seit viele Labels im wohlfeilen Remastern ihr Heil suchen statt beim Aufbau neuer Interpreten.
Tatsächlich fällt die Antwort nach dem ersten Durchhören der 13 Live- und 22 Studio-CDs nicht leicht. Gewiss: Es geht ein Zauber aus von diesem Klavierspiel. Aber immer wieder drängen sich Gedanken daran auf, dass es dieses oder jenes noch brillanter, poetischer, eleganter, subtiler, präziser, verblüffender gibt. Beethovens Sonaten etwa von Friedrich Gulda, Bachs Goldberg-Variationen von Glenn Gould ...
Blick hinter die Noten
Doch bei drei Chopin-Alben rastet die Wahrnehmung sein: Wenn Dinorah Varsi seine Préludes spielt, seine Nocturnes oder seine Balladen, erwischt sich der Hörer immer wieder bei der Frage, wann oder ob er dies jemals so wahrhaftig, so tiefsinnig, so schön gehört hat. Das mörderische Finale etwa der f-Moll-Ballade, das mit seinen technischen Anforderungen zur Chiffre unnahbar virtuoser Romantik geworden ist, hat unter Varsis Fingern nichts Angeberisches, nichts Heuchlerisches, nichts Rauschhaftes.
Diese Pianistin schaut hinter und zwischen die Noten, macht noch im Tumult Unerhörtes hörbar, fördert Mittelstimmen zutage, die sonst allenfalls zu lesen sind, verliert in keinem Ton die Kontrolle. Nicht die technische – natürlich nicht. Aber auch nicht die emotionale. Und wer sich nach dieser Erfahrung den Varsi-Kosmos ein zweites Mal vornimmt, ahnt, dass diese uneitle Lauterkeit das Geheimnis dieses Klavierspiels ist – und der Grund dafür, dass Dinorah Varsi unbedingt auf den Olymp gehört.
Von dem französischen Komponisten Jean-Philippe Rameau bis zur russischen Künstlerin Galina Iwanowna Ustwolskaja spannt sich das Repertoire der Luxusbox. Das Lebenswerk beginnt mit der ersten Schallplatte, die das sechsjährige Wunderkind daheim aufnahm, und endet mit den letzten Annäherungen an Chopin, Beethoven und Bach von 2004, die auf Video gebannt sind. Dieser gewaltige stilistische Bogen, den Varsi über sechs Jahrzehnte spannte, ist vielleicht das Bemerkenswerteste ihrer Kunst.
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Dieser Interpretin gelang das seltene Kunststück, einen Personalstil zu entwickeln, der beinahe jede Musik zu tragen vermochte. Weil Varsi jedes Werk einzig und allein aus dem Notentext, aus sich selbst heraus entwickelte. Sie beherrschte mit ihrem ungeheuer vielfarbigen und nuancierten Anschlag die hohe Kunst des sinfonischen Klavierspiels, der Instrumentation mit den Fingern. Sie entwickelte Musik aus der Linie heraus, dachte grundsätzlich polyfon, sang auch aus Akkorden, Passagen und Arabesken heraus.
Dazu kommt, was sie selbst ein wenig kryptisch als "rhythmische Kadenz" bezeichnete. Damit meinte sie eine rhythmische Zielstrebigkeit, die der harmonischen Dur-Moll-Tonalität entspricht. Bei Chopin ist dies deutlich nachzuvollziehen. Viel ist geschrieben worden über dessen Rubato, über die metrischen Spielräume, die seine Musik braucht. Varsis Antwort auf diese Frage fällt eindeutig aus: Die Begleitung, meist liegt sie in der Linken, hält das Tempo, während sich die Rechte Freiheiten erlaubt.
Staunenswert vielseitig
Und vielleicht ist dieses Kadenz-Denken im Rhythmus wie in der Harmonik der wichtigste Grund dafür, dass Neue Musik keine nennenswerte Rolle spielte für die sonst so staunenswert vielseitige Dinorah Varsi. Was sie sich für den großen Rest an Erkenntnissen und Wahrheiten erarbeitete, reichte sie in Meisterkursen und als Gastprofessorin in Karlsruhe weiter.
Davon legen die beigefügten DVDs und die Interviews im Booklet beredt Zeugnis ab, ebenso wie die Faksimiles ihrer Noten mit zahlreichen Eintragungen und bisweilen recht eigenwilligen Fingersätzen einen tiefen Blick in die Kanzlei dieser Anwältin des Notentextes erlauben – die vor allem aus diesem Grunde nie zum Star wurde, nie zum Star werden wollte: Das hätte sich zwischen sie und die Musik geschoben.
Der Rest des Booklets indes kann nicht befriedigen. Monica Steegmanns Essay "Die Musikerin und Pianistin Dinorah Varsi" navigiert unsortiert an der Oberfläche entlang. Und Juan F. Pérez Jaglins ausufernder Aufsatz über ihre Zeit in Uruguay lässt zwar kaum eine Zeitungsnotiz unzitiert, bleibt aber zahlreiche Informationen schuldig.
Überreicher Kosmos
Zum Beispiel die nach dem Hintergrund der Familie Varsi. Denn es war gewiss auch für ein Wunderkind nicht selbstverständlich, das eigene Spiel auf Schallplatte verewigt zu hören. Und dass ein dirigierender Weltstar wie Erich Kleiber bei Varsis vorbeischaute, um der kleinen Dinorah ermutigende Worte ins Poesiebuch zu schreiben, scheint auch mindestens ungewöhnlich.
Ebenso scheint auch das uruguayische Musikschulsystem gewesen zu sein, das Dinorah durchlief – ungewöhnlich gut. Auch darüber würde man gern mehr erfahren. Aber es geht ja um das pianistische Vermächtnis der Dinorah Varsi. Das hat Genuin für die Nachwelt bewahrt. Und wer Antennen hat für große Klaviermusik, wird sich beseelt verlieren in diesem überreichen Kosmos.
Von Peter Korfmacher