Corona in Serien und Filmen: Wo die Pandemie nie stattgefunden hat
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Reese Witherspoon und Jennifer Aniston in Apples „The Morning Show“.
© Quelle: Getty Images for Apple TV+
Hannover. Eine Drohne fliegt durch New York – die Straßen sind menschenleer, die Musik bedrückend. Was vor einigen Jahren eine fiktive Szene aus einem typischen Endzeitfilm gewesen wäre, war im Frühjahr 2020 Realität – und ist nun der Beginn der zweiten Staffel von „The Morning Show“.
Die Apple-Serie ist eine der wenigen, die in ihrer aktuellen Staffel die Corona-Pandemie offensiv zum Thema machen. Suggerieren viele Produktionen bis heute eine pandemiefreie Welt, so zeigt „The Morning Show“ hustende Menschen, Intensivstationen, Masken und Lockdowns.
Der Schauplatz der Serie, New York, war im Frühjahr 2020 ganz besonders von der Pandemie betroffen: Am 1. März galt eine 39-Jährige Frau hier als die erste Covid-Patientin überhaupt – Ende April verzeichnete die Stadt 11.460 Tote. „The Morning Show“ greift all das auf – nicht als Haupthandlungsstrang, aber als übergeordnetes Ereignis.
Eine völlig andere Welt
In der Serie ist Fernsehmoderatorin Alex Levy (Jennifer Aniston) „Patient Zero“ – zumindest in ihrem Sender. Sie reist im Lockdown nach Italien und kommt mit einer Corona-Infektion wieder zurück. Sie moderiert aus dem Homeoffice, durchlebt für den Zuschauer Atemnot und Hitzewellen und realisiert im Interview mit einem Arzt wie schlimm die Lage eigentlich ist. Covid sei zehnmal so schlimm wie eine Grippe, viele würden sterben, prognostiziert der Arzt. Levy entgegnet: „Haben Sie Angst zu sterben?“
Andere Szenen der Serie thematisieren die Naivität, mit der die Gesellschaft anfangs an die Pandemie herangegangen war. In einer Szene etwa schleicht sich Moderatorin Bradley Jackson (Reese Witherspoon) ohne Maske in ein Krankenhaus, nur um dort ihren Bruder zu finden und zu umarmen. Bei so viel Superspreader-Potenzial dürfte der ein oder andere Zuschauer vor dem Fernseher die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Gezeigt werden zudem die letzten sorglosen Tage vor der Pandemie – etwa die Neujahrsfeier. Mitunter ist zu sehen, wie ein Mann einem anderen aus Spaß am Kopf herumleckt, in anderen Szenen werden immer mal wieder zufällige Huster und Nieser eingebaut. Eine völlig andere Welt.
Eine komplette Staffel für die Tonne
Für die Produzentinnen und Produzenten der Serie war es keine einfache Entscheidung, die Pandemie so offensiv darzustellen. Tatsächlich war die zweite Staffel von „The Morning Show“ bereits komplett fertiggeschrieben und die Produktion bereits im Gange, als Covid-19 über die Welt und auch die Produktionsfirma hereinbrach. Auswirkungen hatte das nicht nur auf die Arbeiten am Set, die fortan unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen stattfanden – sondern auch auf die Handlung der Serie.
Ein Mitarbeiter von Apple TV habe irgendwann bei Executive Producerin Kerry Erhin angerufen und darum gebeten, die Pandemie auch in der Serie zu thematisieren. Erhin selbst habe sich „einen Tag lang dagegen gewehrt“, erzählt sie dem US-Radiosender NPR. „Und dann, nach einem weiteren Tag, machte es einfach Sinn. Es ist kein Thema, das du vermeiden könntest, besonders, wenn du eine Show über Leute machst, die über die Nachrichten berichten“, so die Produzentin weiter.
Das Problem: Die bisher gedrehte Staffel von „The Morning Show“ war schlichtweg unbrauchbar geworden – und die gesamte Arbeit eines Jahres im Eimer. Gelohnt hat sich der Neustart aber allemal: Staffel zwei der Apple-Serie zeichnet ziemlich authentisch nach, wie unvorbereitet die Welt in dieses Jahrhundertereignis hineingestolpert ist.
Neujahrsfeier im Studio gedreht
Es sei „surreal“ gewesen, „zurückzugehen und die Arroganz zu sehen, die wir alle im Dezember 2019 hatten″, sagt beispielsweise Darsteller Hasan Minhaj, der in der Serie den Moderator Eric Nomani verkörpert, in einem „Behind the scenes“-Interview zur Serie. Schauspieler Mark Duplass erklärt, man habe extra „die kleinen Dinge gezeigt, denen wir uns gar nicht bewusst waren. Das Teilen des Essens, die kleinen Nieser.“
Die Präpandemieszenen musste die Crew teilweise mit hohem Aufwand drehen. Die große Neujahrsparty in New York etwa wurde in einem Studio nachgestellt, da sich die Stadt zur Zeit der Produktion mitten in der ersten Corona-Welle befand und die Straßen wie leergefegt waren. Das Publikum am Time Square wurde schließlich mit Greensceens in die Handlung eingebaut.
Mehrere Corona-Serien mit wenig Erfolg
Doch „The Morning Show“ ist nicht die einzige Produktion, die Corona in ihre Handlung integriert hat. Einer der ersten Filme, der sich mit Covid-19 auseinandergesetzt hatte, war Jay Roachs „Coastal Elites“, der im September auf HBO Premiere feierte. Der ausschließlich über Zoom gedrehte Film porträtiert fünf Menschen, die in New York City und Los Angeles leben und Monologe über das Leben vor und während der Quarantäne führen.
In Deutschland gab es ein ähnliches Projekt von der „Bildundtonfabrik“. Schon im April 2020 zeigte das ZDF das Projekt „Drinnen – Im Internet sind wir alle gleich“. Hier sitzt Hauptfigur Charlotte im Homeoffice fest und löst die großen und kleinen Probleme des Lockdownalltags über Videokonferenzen und Chats. „Drinnen“ wurde innerhalb von nur drei Wochen realisiert – eine Serie aus dem Homeoffice fürs Homeoffice.
Dann gibt es noch „Liebe in Zeiten von Corona“, eine Serie, die sich in vier Folgen mit Geschichten von besten Freunden und einer komplizierten Ehe und einem Paar befasst, das durch die Pandemie getrennt ist. „Connecting“ zeigt das Leben einer Gruppe von Freunden, die versucht, während Corona in Kontakt zu bleiben. Und „Social Distance“ zeigt in seiner Handlung die ersten Tage der Pandemie und die Herausforderungen für Familien, Freunde und Paare. Sonderlich erfolgreich war keine dieser Produktionen – „Connecting“ etwa wurde schon nach vier Folgen wieder abgesetzt.
Andere Serien wiederum lassen die Pandemie eher hintergründig einfließen, etwa die NBC-Serie „This is us“. Der Schöpfer der Showtime-Serie „Shameless“ gab bekannt, dass er die letzte Staffel seiner Show neu schreiben werde, um die Krise und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen zu zeigen. Und auch in „Grey‘s Anatomy“ wird die Pandemie thematisiert.
Warum Binge-Watching ungesund ist
Binge-Watching gehört zur Lieblingsbeschäftigung vieler Serienfans. Das Problem: Das exzessive Seriengucken macht Spaß, kann aber ziemlich ungesund sein.
Kollektives Verdrängen
In vielen Serien allerdings herrscht weiterhin kollektives Verdrängen. „Gossip Girl“ beispielsweise wurde vergangenen November in New York gedreht, zur Hochphase der Pandemie. In der Serie ist das Virus kein Thema. Gleiches gilt für die Apple-Erfolgsserie „Ted Lasso“.
In „Sex Education“ (Netflix) geht zwar in Staffel zwei eine Chlamydien-Seuche um, und Schülerinnen und Schüler tragen sogar Masken – in Staffel drei, die während der Pandemie gedreht wurde, geht der Schulalltag aber ganz regulär weiter. Corona hat die Moordale Highschool nie erreicht.
Und in Deutschland? Hier macht sich die Pandemie eher unterschwellig bemerkbar – etwa, wenn in Soaps wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ weniger Liebesszenen zu sehen sind, weil die Darsteller Abstand halten müssen. In Handlungen des „Tatorts“ oder „Polizeirufs“ oder „Großstadtreviers“ hat es die Pandemie auch nur selten gegeben – als etwa in einem Berliner „Tatort“ die Ermittler Masken trugen, irritierte das so einige Zuschauerinnen und Zuschauer. Und in der dritten und letzten Staffel „How to sell drugs online (fast)“ (Netflix) reisen die Start-up-Drogen-Dealer ganz ohne PCR-Test nach Holland, um dort ihre krummen Geschäfte zu machen.
Die Hoffnung von einer anderen Zukunft
Es gibt gute Gründe, in Serien und Filmen an der alten Realität festzuhalten. Eine Befragung des Marktforschungsunternehmens Phaydon für das ZDF hat im Mai ergeben, dass Zuschauerinnen und Zuschauer in fiktionalen Produktionen lieber nicht an die Pandemie erinnert werden möchten. Fast drei Viertel (74 Prozent) der Befragten stimmten der Aussage zu, froh zu sein, wenn man beim Schauen von Serien und Filmen nicht an die alltäglichen Einschränkungen durch Corona erinnert wird.
RTL-Sprecher Claus Richter erklärt auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), dass man in fiktionalen Produktionen des Senders die Pandemie in der Regel nicht aufgreife. „Implizit durchaus mal, wenn es um veränderte Gewohnheiten geht“, so Richter.
„In der Regel haben wir keine Masken im Bild. Verschwiegen haben wir es aber auch nie. Unsere Serien und Filme sollen einen eskapistischen Ausgleich zum coronagenervten Alltag bieten. Und wir wollen auch vermeiden, dass Filme und Serien konkret an eine spezifische Zeit gekoppelt sind in einer hoffentlich maßnahmenärmeren Zukunft.“
Was, wenn Corona keine Phase ist?
Genau da allerdings könnte langfristig der Knackpunkt liegen. Denn ist Corona überhaupt eine „spezifische Zeit“? Oder ist es nicht vielmehr ein Ereignis, das viele Details unseres Alltags für immer grundlegend verändert hat? Etwas, das auf lange Zeit bleiben wird – und damit auch in fiktionalen Produktionen abgebildet werden müsste?
Die Ereignisse der vergangenen Tage haben gezeigt, wie schnell der Traum von der alten Normalität ohne Masken, Tests und Abstand platzen kann. Galt die Impfung zunächst als Weg aus der Pandemie, wird nun erneut über Lockdowns debattiert. Intensivstationen klagen über Vollauslastung – und als wäre alles noch nicht schlimm genug, wanzt sich mit Omikron die nächste Virusvariante heran.
Aus der derzeitigen Pandemie wird beizeiten eine Endemie werden, erklären Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – das heißt aber nicht, dass das Virus dadurch harmlos wird. Und völlig unklar ist bislang, welche Maßnahmen uns auch in Zukunft langfristig begleiten werden.
HIV ist omnipräsent
Das HI-Virus beispielsweise hat seit seiner Entdeckung die Handlung zahlreicher Filme und Serien nachhaltig verändert. Ganz direkt etwa in einschlägigen Filmen wie „Philadelphia“ aus dem Jahre 1993 – und selbst heute werden HIV und Aids noch in zahlreichen Produktionen thematisiert. Zuletzt geschah das etwa in der letzten Staffel „Tote Mädchen lügen nicht“ (Netflix) – hier stirbt einer der Hauptdarsteller nach seiner HIV-Infektion an Aids.
Aber auch ganz unterschwellig ist HIV in Filmen und Serien ein Thema, etwa, wenn ein Paar beim One-Night-Stand zum Kondom greift. Da wird das Virus zwar nicht explizit erwähnt, aber mitgedacht. Könnte das so oder so ähnlich langfristig auch mit Corona passieren?
Die Maske bleibt
Es ist denkbar, dass wir auch künftig in den Wintermonaten oder in vollen Räumen Masken tragen – selbst, wenn das nicht mehr angeordnet wird. Es ist durchaus möglich, dass das Händeschütteln nie mehr zurückkommt oder seltener praktiziert wird. Und es kann auch sein, dass sich die Corona-Faust langfristig etabliert, selbst als professionelle Begrüßung im Job.
Nicht abwegig wäre auch, dass Spender mit Infektionsspray die Pandemie überleben und auch langfristig die Räume von Supermärkten, Behörden und Büros zieren. Und vielleicht bleiben sogar die Plexiglasscheiben an Tankstellen und Supermarkkassen, weil sie sich als ziemlich effektiv erwiesen haben.
Die Frage ist, wann fiktionale Produktionen damit beginnen, diese neue Realität auch abzubilden. Für immer ignorieren kann man sie jedenfalls nicht.