Colonia-Dignidad-Doku: Aus dem Herzen der Finsternis
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Die Aufnahme aus den 1980er-Jahren zeigt den Eingangsbereich der "Colonia Dignidad".
© Quelle: Ceibo Produccionest/dpa-File/dpa
Santiago de Chile. Von einem Moment wie diesem träumt jeder Dokumentarfilmer: Vor einigen Jahren fuhr beim Büro des chilenischen Filmemachers Christián Leighton ein Kleintransporter vor. Der Minivan war voller Filmrollen und Kassetten. Sie enthielten insgesamt 400 Stunden Film und über 100 Stunden Tonmaterial. Die Lieferung war eine Sensation, denn das Material stammte direkt aus dem Herzen der Finsternis: Es dokumentierte die Geschichte der berüchtigten deutschen Sektensiedlung in Chile, Colonia Dignidad, aufgenommen von den Mitarbeitern der Kolonie. Allein die Restaurierung der zum Teil verschimmelten Ton- und Bilddokumente, die die Zeit irgendwo in einem Kellerloch überdauert hatten, muss enorm viel Arbeit gewesen sein.
Die Filmaufnahmen und die Mitschnitte von Reden und Predigten des Koloniegründers Paul Schäfer sind die perfekte Ergänzung für die Interviews, die das eigentliche Herzstück der Dokumentation bilden. Opfer, aber auch Vertraute sowie politische Partner Schäfers, der sich zur Stimme Gottes erklärte, schildern ausführlich, wie sie den Mann erlebt haben: die einen als unerbittlichen Despoten, der sich allabendlich nach Herzenslust bei seinen jungen Schutzbefohlenen bediente, die anderen zum Teil voller Bewunderung.
Jahrzehntelang wurden unter dem Deckmantel religiöser Motive Kinder missbraucht
Jahrzehntelang hat Schäfer unter dem Deckmantel religiöser Motive Kinder missbraucht, erst in Deutschland, dann in Chile. Den dortigen Faschisten hat er zudem geholfen, mit einem Militärputsch die demokratische Regierung zu stürzen. Seine von der Außenwelt hermetisch abgeschottete Kolonie, in der 40 Jahre lang die Zeit stillstand, zumal es keine Zeitungen, kein Radio und kein Fernsehen gab, diente als Folterzentrum. Außerdem ließ er, als Hilfslieferungen kaschiert, deutsche Waffen ins Land schmuggeln, um den rechten Terror zu unterstützen.
Mit der vorab auf Arte ausgestrahlten ARD-Dokumentation des dreifachen Grimmepreisträgers Wilfried Huismann und Regisseurin Annette Baumeister beschäftigt sich bereits die dritte Großproduktion innerhalb weniger Jahre mit der Colonia Dignidad. Den Auftakt machte 2015 Florian Gallenbergers Film “Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück” mit Daniel Brühl, im letzten Jahr folgte die Serie “Dignity”; die chilenisch-deutsche Koproduktion lief auf der Pro7-Streamingplattform Joyn.
Unangemessen reißerisch als „Dokuthriller“ bezeichnet
Die insgesamt drei Stunden lange Dokumentation, von Baumeister trotz der filmischen Musik eher unangemessen reißerisch als “Dokuthriller” bezeichnet, reicht nicht nur authentisches Anschauungsmaterial nach, sondern zeigt auch, dass die Wirklichkeit zumindest für die Opfer Schäfers noch schlimmer war, als es Film und Serie zeigen konnten. Dabei geht es nicht nur um Missbrauch und Schläge, es wird auch das krankhafte Verhältnis des 2010 in einem chilenischen Gefängniskrankenhaus verstorbenen Sektengründers zu Frauen deutlich.
Gemeinsam mit seiner Kollegin liefert Huismann eine detaillierte Chronik von Schäfers Werdegang. Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang die Rückblende ins Nachkriegsdeutschland, als viele Kriegswitwen nicht wussten, wie sie die hungrigen Mäuler ihrer Kinder stopfen sollten, und froh waren, dass sie den Nachwuchs Schäfers Obhut überlassen konnten; in seinem 1960 bei Siegburg eröffneten Jugendheim fanden die Jungen und Mädchen ein scheinbar perfektes Refugium. Kriegsheimkehrer, die nach Halt und Orientierung suchten, gingen dem Menschenfänger ebenfalls auf den Leim. Als es Vorwürfe wegen Unzucht mit Abhängigen gab, wanderte Schäfer mit seinen Getreuen nach Chile aus, um dort ein Paradies zu gründen. Für die Kinder, die er kurzerhand mitnahm, wurde es zur Hölle auf Erden.
“Colonia Dignidad” ist am Dienstag, 10. März, um 20.15 Uhr auf Arte zu sehen und am 16. und 23. März im Ersten.