Ärger um einen Hörfunkklassiker: Darum steigt der NDR beim “Zeitzeichen” aus
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Thema des ersten “Zeitzeichens” im WDR am 4. April 1972: In der Premierenausgabe des historischen Formats ging es unter anderem um eine Rede der FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher (hier 1982 im Deutschen Bundestag) aus dem Jahre 1967.
© Quelle: dpa
Der einzige Zeitzeichensender im deutschsprachigen Raum trägt den Namen DCF77 und steht in Mainflingen bei Frankfurt am Main. Der Langwellensender versorgt die meisten Funkuhren im Westen Europas mit einem präzisen Zeitsignal. Sein Zeitzeichen ist so genau, dass es in 30.000 Jahren nur eine Sekunde abweicht. Präzision und Verlässlichkeit – das sind in der Welt der Zeitmessung die wichtigsten Tugenden.
Das gilt kaum minder für den Namensvetter des Zeitzeichens: Die Sendung “Zeitzeichen” des WDR in Köln. Seit dem 4. April 1972 stellt das “Zeitzeichen” in jeweils 15-minütigen Features historische Jahrestage vor – präzise und verlässlich. Es geht um große Heurekamomente der Forschung, kulturelle Meilensteine, wichtige Expeditionen, epochale Bücher, saftige Skandale, blutige Kriege und folgenreiche Katastrophen. Das reicht von Schratigem aus den Untiefen der Geschichtsschreibung (“Der 465. Todestag der spanischen Infantin ‘Johanna die Wahnsinnige’”) über sportliche Großtaten (“Erstes Ruderrennen zwischen Oxford und Cambridge vor 190 Jahren”) bis zu längst vergessenen Wohltätern der Menschheit (“Erfindung der Kartoffelchips 1965”).
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Muss 300 Millionen Euro sparen: Der neue NDR-Intendant Joachim Knuth in seinem Büro in Hamburg.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
Das “Zeitzeichen” passt formidabel ins Profil eines öffentlich-rechtlichen Senders. Es beleuchtet Staatengründer und Aschenputtel, Kriegstreiber und Friedensengel mit einer tiefen Liebe zum Detail und erstaunlichem Variantenreichtum, wenn es darum geht, einen mittelalterlichen Medicus zu rühmen, zu dem es kaum mehr Informationen gibt als den Namen und das ungefähre Todesjahrzehnt.
145.000 Euro pro Jahr für den WDR
Auch der Saarländische Rundfunk und der NDR übernahmen die profilierte Sendung. Auf NDR Info war das “Zeitzeichen” montags bis freitags um 20.15 Uhr und am Wochenende um 19.05 Uhr zu hören. Doch damit ist Schluss. 300 Millionen Euro will der NDR in den kommenden Jahren sparen. NDR-Intendant Joachim Knuth hatte jüngst erstmals Details bekannt gegeben. Die Zahl der NDR-“Tatorte“ und -“Polizeirufe“ wird reduziert, das Festival stars@ndr2 und das “NDR Klassik Open Air” in Hannover, Bettina Tietjens Sonntagstalksendung “Tietjen talkt“ bei NDR 2, der “NDR Comedy Contest“, die “Inselreportagen“, die Sendung “Lieb und teuer“ und das drei Jahrzehnte alte “Bücherjournal“ – alles gestrichen.
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“Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht”: Die neue NDR-Hörfunkdirektorin verteidigt die Entscheidung, das “Zeitzeichen” nicht mehr im linearen Programm des NDR zu senden.
© Quelle: NDR Norddeutscher Rundfunk
Auch das “Zeitzeichen” wird aus dem linearen Programm des NDR verschwinden. Warum? “Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht”, sagt die neue NDR-Hörfunkdirektorin Katja Marx, Nachfolgerin von Joachim Knuth. Entscheidend seien die Kosten gewesen. Der NDR zahle dem WDR für die Übernahme des “Zeitzeichens” 145.000 Euro pro Jahr – “um eine Sendung im Abendprogramm zu wiederholen, die schon seit dem jeweiligen Morgen als Podcast in der ARD-Audiothek für alle frei verfügbar ist”. Das sei, sagt Marx, “nicht mehr zeitgemäß”, auch wenn es “natürlich schmerzt”.
Ist das nicht das alte Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel? Könnte der WDR dem NDR die Sendung nicht kostenfrei überlassen? Wer so denkt, verkennt die öffentlich-rechtlichen Strukturen. Die ARD feiert sich allenthalben als Familie, aber beim Geld kann man biestiger werden als Dagobert Duck.
“Die Vereinbarung stammt aus analogen Zeiten”
Die Vereinbarung zur Wiederholung der Sendung stamme noch aus “rein analogen Zeiten”, sagt Marx. “Da war sie sinnvoll. Heute, im digitalen Zeitalter, ist das völlig anders.” Das “Zeitzeichen” erreiche über die ARD-Audiothek jeden Monat Hunderttausende Menschen. “Diesen Verbreitungsweg halten wir für einen modernen und angemessenen. Die Audiothek ist eine Schatzkiste.” An Produktion und Redaktion der Sendung sei der NDR nie beteiligt gewesen. Marx verweist auf die NDR-eigene “weiterhin engagierte Fachredaktion für zeitgeschichtliche Themen”.
Der NDR will das Radioprogramm NDR Info schrittweise zum 24/7-Nachrichtenkanal umbauen. Auch die randständigeren Special-Interest-Musiksendungen zu Jazz oder Pop am späten Abend sind dann Geschichte – sie bleiben aber wenigstens im linearen Radio hörbar: Die Nische soll bei NDR Kultur eine neue Heimat finden. Das “Zeitzeichen” hingegen wandert für NDR-Hörer vollständig ins Netz.
Das “Zeitzeichen” gehört zu den profiliertesten Radiomarken der ARD
Ist das zeitgemäß? Gewiss. Ist das sinnvoll? Gewiss nicht. Das “Zeitzeichen” gehört zu den profiliertesten Radiomarken des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es passt blendend ins Profil. Der Verweis auf die Audiothek schließt Hunderttausende aus, die dem Tagestakt des Radios noch immer massenhaft bereitwillig folgen und den Podcast-Kosmos kaum je für sich entdecken werden. Aber da wird sich das Schicksal aller ARD-Sender in den kommenden Monaten gleichen: Wenn sie nicht sparen, sind die Proteste laut. Wenn sie geliebte Formate streichen, sind sie noch lauter. Mit dem Verzicht auf das “Zeitzeichen” freilich schneidet sich der NDR ins eigene Fleisch.