ARD-Historienserie “Oktoberfest 1900”: Blut, Bier und Kannibalen
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Curt Prank (Misel Maticevic) bestaunt den Oktoberfesteinzug vor seiner neuen Bierburg.
© Quelle: Dusan Martincek/BR/ARD Degeto/MD
Wer den geschichtlich überlieferten Punkt sucht, als aus kollektiver Zerstreuung kalkuliertes Entertainment wurde, muss weder nach Kreuzberg noch nach St. Pauli schauen. Es reicht ein Besuch beim “Oktoberfest 1900”. Nicht in echt freilich. Zeitreisen sind immer noch ein Ding der Unmöglichkeit.
“Oktoberfest 1900” heißt die Kulissenschieberei, mit der das Erste historisches Halbwissen fiktional in Blut, Schweiß und Tränen dreier schicksalhaft verbundener Familien badet. Klingt nach der üblichen Mischung aus Kabale und Liebe, Drama und Intrige. Ist aber schon auch ein bisschen mehr.
Nürnberger Emporkömmling will Münchner Kirmes globalisieren
Zu Beginn des als Eventserie getarnten Dreiteilers versucht der Nürnberger Emporkömmling Curt Prank, die provinzielle Kirmes auf Münchens Theresienwiese zu globalisieren, indem er ihr einen Partypalast für 6000 Gäste zwischen kleine Bretterbuden eingeborener Gastronomen rammt und das deutsche Freizeitverhalten damit nachhaltig kommerzialisiert.
“Ihr Oktoberfest wird durch meine Bierburg weltberühmt sein”, verspricht er dem korrupten Stadtrat Urban. Weil dessen Herkunftsstolz sogar noch größer ist als seine Gier, muss der fränkische Saupreiß den bayerischen Politiker allerdings zunächst mal mit einem Kuckuckskind erpressen.
Schon in dieser ersten Szene lernen wir beim Klang folkloristischer Geigen: Der “zu’groaste” Brauer preußischen Ursprungs ist nicht zimperlich, um den Jahrmarkt zum Freizeitpark aufzublähen und somit eine frühkapitalistische Version dessen zu schaffen, was 100 Jahre später von Kreuzberg bis St. Pauli “Gentrifizierung” heißt.
Es fließt fast mehr Blut als Bier
Wo immer die Filmversion des realen “Krokodil-Wirts” Georg Lang alias Curt Prank auftaucht, fließt beinahe noch mehr Blut als Bier. Aber für 270 Minuten Historytainment reicht es beileibe nicht aus, wie sich ein Paria mit Schlagring und Schmiergeld unter die eingeborenen Patrizier gaunert.
Nach Büchern des fünfköpfigen, rein männlichen Writer’s Room um Ronny Schalk (“Dark”) inszeniert Hannu Salonen den Wandel der Kleinstadt zum Weltdorf als “Romeo und Julia” im Stil von Marvin Krens psychedelischem Meisterwerk “Freud” mit einer Prise “Game of Thrones”. Denn für sein Ziel muss der Neuling Prank (Misel Maticevic) noch den Platzhirsch Hoflinger (Francis Fulton-Smith) von der Wies’n verdrängen. Dummerweise vergnügt sich dessen Sohn (Klaus Steinbacher) mit Pranks Tochter (Mercedes Müller) im Heu, während sein Vater vom Handlanger des Konkurrenten niedergemetzelt wird, was die Rachsucht der Witwe (Martina Gedeck) entfesselt.
Als für den Mord ein Kannibale verhaftet wird, dessen Stamm als Teil einer zeitgenössischen Völkerschau am Isarufer campt, dreht “Oktoberfest 1900” dem Erbauungsgenre endgültig das Sonnenlicht ab. Anders als in Geschichtsunterhaltung üblich ist dieses Fin de Siècle ja nicht nur menschlich verwahrlost, sondern auch noch stockdunkel, verregnet oder beides. Sogar im Freien spielt sich das Geschehen gern im Zwielicht ab.
Misogynie jener Tage wird problematisiert
Am Beispiel der misshandelten Kämpfernatur Colina (Brigitte Hobmeier) wird die Misogynie jener Tage ebenso problematisiert wie die Klassengesellschaft oder der Kolonialismus. Und weil der Alltag abseits großbürgerlicher Fassaden angemessen dreckig sein darf, setzt sich die Serie angenehm vom pseudoauthentischen Einerlei öffentlich-rechtlichen Reenactments ab. Zumindest optisch.
Der Inhalt dagegen gibt Rätsel auf, warum so großartige Darsteller ihr Talent bei aller Ästhetik an dieses bessere Bauerntheater vergeuden. Nicht nur wegen des seltsam flachen Dialekts, bleiben sie wie die meisten Charaktere schließlich so klischeehaft wie Schwabings Bohème oder Giesings Oberschicht.
Als Ersatz des wegen der Corona-Pandemie abgesagten Originals anno 2020 taugt das “Oktoberfest 1900” also nur für jene, die noch gar nicht wussten, wann aus der lokalen Kirmes ein globales Event wurde. Das ist ein bisschen wenig für ein Historienevent.
“Oktoberfest 1900” läuft am 15., 16. und 23. September ab jeweils 20.15 Uhr im Ersten.