Horrorfilm „Antlers“: Das Böse trägt bei Disney+ Geweih

In Deckung: Lucas (Jeremy T. Thomas) und seine Englischlehrerin Julia (Keri Russell) verstecken sich vor dem Wendigo.

In Deckung: Lucas (Jeremy T. Thomas) und seine Englischlehrerin Julia (Keri Russell) verstecken sich vor dem Wendigo.

Lucas mit den Stachelhaaren hält den Kopf knapp über seinen Schultisch gebeugt, so als könne er dadurch ausweichen, weniger auffallen, sich unsichtbar machen. Der Zwölfjährige (Jeremy T. Thomas) ist der stillste seiner Klasse, unangenehm still, weit jenseits von schüchtern. Und so kommt seiner Englischlehrerin Julia Meadows (Keri Russell) unweigerlich der Verdacht, zu Hause könne etwas nicht stimmen, zu Hause könne ihrem Schützling vielleicht Gewalt angetan werden. Schläge? Missbrauch?

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Alles möglich. Denn viel Zorn hat sich angesammelt in der Bergarbeiterstadt in Oregon. Und der braucht Ventile. Früher herrschte hier ein kleines, gemütliches, wiewohl brüchiges Glück. Schlechte Politik und Rezession haben es verdorben. Eine Generation zuvor florierte noch alles, eine Generation später, so mutmaßt der Zuschauer oder die Zuschauerin, wird dies eine Geisterstadt sein. Alle Versprechen sind gebrochen, alles Vertrauen ist dahin. Die Kohlemine ist nie mehr eröffnet worden. Ihre verlassenen Schächte nutzt Lucas‘ Vater Frank (Scott Haze) zum Methkochen. Cispus Falls ist auch das Reich der Schmerzbetäubung, wo die Opioidkrise, die jüngst schon in Serien wie „Dopesick“ (bei Disney+) und „American Dust“ (bei Sky) thematisiert wurde, besonders viele Opfer fordert.

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Das Gefühl, gespeist aus eigenen schlimmen Kindheitserfahrungen, trügt Julia nicht, die aus einem guten Leben im sonnigen Kalifornien in die düstere Heimat zurückgekehrt ist, um eine familiäre Schuld bei ihrem Bruder Paul (Jesse Plemons) abzutragen. Aber Lucas‘ düstere Zeichnungen in Schwarz und Rot, auf der ein gefräßiges Monstrum zu sehen ist, sind nicht etwa Metaphern für die Gewaltausbrüche seines Vaters, der zu früh Witwer wurde und mit der Erziehung seiner beiden Söhne nicht klarkommt.

Eine unheimliche Kreatur überfällt Methkoch Frank in der alten Mine

Vielmehr wurden Frank, ein Kumpel und Lucas‘ Brüderchen Aiden (Sawyer Jones) bei der Mine von einer unheimlichen Kreatur angefallen und verletzt. Der Grund, warum Frank sich nicht zeigt, warum Aiden schon länger nicht mehr in der Schule war, ist, dass sie - vor allem aber Daddy - seit der Attacke nicht mehr dieselben sind. Eine Verwandlung geht vor sich, und die beiden sich Verwandelnden leben im Versteck unterm Dach, wo Lucas sie mit den Kadavern überfahrener Tiere füttert. In einem Raum, der mit Schloss und Riegel gesichert ist, das, so wissen versierte Horrorfilmfans, nicht für immer verschlossen bleiben wird. Denn das Böse ist stark.

Regisseur Scott Cooper, der das Countrydrama „Crazy Heart“ (2009) mit Jeff Bridges und Maggie Gyllenhaal drehte, und der mit „Feinde“ (2017) einen der eindrucksvollsten Indianerwestern der vorigen Dekade inszenierte, hat zusammen mit Produzent Guillermo del Toro, einem Meister des Fantastischen, einer filmisch eher selten auf den Plan gerufenen Horrorfilmgestalt Ehre erwiesen. Der Wendigo ist ein Wesen aus den Legenden der Anishinabe-Kultur, ein Rachegeist, von dem indigene Völker wie die Cree erzählen. Äußerlich ist er von knochiger Gestalt – mit Geweih, schwärzlicher Haut und Eulenaugen, mit einem Herz aus Eis und mörderischen Klauen.

Ein Wendigo ging auch bei Stephen King um

Der Wendigo lebt der Mythologie zufolge in Wäldern und auf vergessenen Friedhöfen, er verfolgt Wanderer und Jäger und überfällt und frisst sie bei Nacht. Er kann überdies Verstorbene aus dem Grab holen und zu Wiedergängern machen. Literarisch ist er mit Algernon Blackwoods Geschichte „The Wendigo“ (1910) geworden, auf Stephen Kings „Friedhof der Kuscheltiere“ (1983) erweckte er nicht nur den toten Familienkater Churchill zu unseligem Leben und im Computerspiel „Until Dawn“ (2015) finden sich gleich mehrere der Ungeheuer, die sich einer Gruppe Jugendlicher an die Fersen heften.

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Man kann Coopers sechste Regiearbeit als Allegorie auf das Generationentrauma des Niedergangs lesen. Man kann, dafür gibt es anfänglich Anzeichen, dem Film eine grüne, antikapitalistische Ideologie unterstellen. Das kannibalische Ungeheuer aus den First-Nations-Albträumen steht dann als Sinnbild für die grenzenlose Gier des Menschen, der die eigene Spezies samt ihres Lebensraums unzweifelhaft eher früher als später in den Untergang treiben wird. Aber je länger der Film dauert, und spätestens, als die Tür zum Speicher geöffnet wird, gerät „Antlers“ (engl. für Geweihstangen) zu einem kraftvollen, ernsthaften Genrestück – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das von den Schauspielern und Schauspielerinnen zu etwas Besonderem erhoben wird. Jeremy T. Thomas packt den Zuschauer und die Zuschauerin mit seiner ersten Hauptrolle als blasser, verzweifelter Lucas, der nichts will, als seine Familie zu beschützen. Keri Russell ist eindrucksvoll als seine traumatisierte Retterin, die ihre Alkoholsucht nur mit Mühe im Zaum zu halten vermag. Und Jesse Plemons, der erst jüngst in Jane Campions Western „The Power of a Dog“ einen anfangs gedemütigten, am Ende doch glücklichen Jungrancher gab, ist superb wie gewohnt, verleiht auch dem eigentlich eindimensionalen Sheriff Paul (der dem Film seinerseits Fortsetzungspotenzial verschafft) ausreichend Tiefe. Bedrohliche Bilder liefert Kameramann Florian Hoffmeister, einen adäquaten Soundtrack Javier Navarrete, der für del Toro schon die Musik zu „Pan‘s Labyrinth“ schrieb.

Cooper meint das Fantastische bitterernst. Er denkt nicht daran, seinen Spuk per Spaß popcorngerecht aufzulockern. Die Dialoge sind Wort für Wort wie aus einem Steinblock geschlagen. Wozu Gags einbauen, wenn doch nicht wenigen Einwohnern und Einwohnerinnen von Cispus Falls das Innere grausamst nach außen gewendet wird. Zudem lässt Cooper sein Biest halb in dem Schatten lauern, statt es in voller dämonischer Pracht auszustellen, wissend, dass sein Wendigo voll ausgeleuchtet an Bedrohlichkeit verlöre.

Darüber hinaus wundert man sich als Zuschauer oder Zuschauerin über die üblichen Horrorklischees, die nicht fehlen dürfen: Dass der Sheriff allen Ernstes glaubt, dass ein Bär oder Puma für derart scheußliche Tötungen verantwortlich sein könnte, geht natürlich auf keine Kuhhaut. Und dass sich die Leute in solchen Filmen stets mit minimalen Sicherheitsvorkehrungen in maximale Gefahr begeben, auch nicht.

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Man selbst würde sich verbarrikadieren und nicht die Nägel aus den Brettern ziehen, bevor die Kavallerie Entwarnung geblasen hat.

„Antlers“, 99 Minuten, Regie: Scott Cooper, mit Jeremy T. Thomas, Keri Russell, Jesse Plemons, Graham Greene (streambar bei Disney+)

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